Süddeutsche Zeitung, Region Starnberg 15.10.2001

Fulminanter Auftakt der „Tutzinger Brahmstage“

Künstlerisches Ereignis in Wort und Musik

Das Henschel Quartett und Dietrich Fischer-Dieskau gestalten den ersten von vier Abenden

Tutzing - Bereits zum vierten Mal finden heuer die Tutzinger Brahmstage statt. Das Programm der vier Konzerte steht in diesem Jahr unter dem Motto „Johannes Brahms und Robert Schumann“. Der 23 Jahre ältere Schumann war nicht Lehrer von Brahms, sondern wurde sein Mentor, Freund und Förderer innerhalb der kurzen Zeit bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1856. Zum Eröffnungskonzert in der Evangelischen Akademie in Tutzing war das Henschel Quartett zu Gast.

Auf dem Programm stand zunächst ein Werk, das in zweifacher Hinsicht zu den diesjährigen Brahmstagen passt. Das Streichquartett in a-moll op. 51,2 wurde 1873 in Tutzing vollendet. Und das Werk steht in engem Zusammenhang mit dem Brahms-Freund und Geiger Joseph Joachim. Sein Lebensmotto „frei, aber einsam“ ist als Motiv f-a-e in den Kopf- und den Finalsatz des Werkes eingeflossen. Das Spiel von Christoph, Markus und Monika Henschel, Violinen und Viola, sowie Mathias D. Beyer, Violoncello, wirkte anfänglich ein wenig unausgeglichen - nicht unsicher, nicht unausgewogen, sondern schlicht weniger perfekt, als man es von den „Henschels“ gewöhnt ist. Doch das änderte sich schnell. Der Adagio-Satz gelang schön und mit Intensität, das „Quasi Minuetto“ war Aufsehen erregend, weniger ein Menuett als eine düstere, fast nekrophile Tanzeinlage. Auch der Finalsatz war aus einem Guss. Das Henschel Quartett ist eine Kammermusikformation von internationalem Format, dementsprechend hoch dürfen die Ansprüche sein.

Danach eine kurze Lesung mit Texten und Dokumenten zu Brahms, zusammen gestellt von Dietrich Fischer-Dieskau (siehe Kasten).

Umfassende Kompetenz

Das Charisma von Dietrich Fischer-Dieskau

Tutzing -Nicht eine Sekunde, während man ihm zuhört, vergisst man, wem diese Stimme gehört. Dietrich Fischer-Dieskau, zuhause in Berg am Starnberger See und in Berlin, ist nicht einfach ein Rezitator, er ist einer der besten Sänger, vor allem einer der besten Liedsänger des 20. Jahrhunderts. Um den Gesang zur Kunst werden zu lassen, sind Musikalität, Geschmack, Gestaltungskraft unverzichtbar. Fischer-Dieskau hat das alles.

Vor einiger Zeit hat er seine Sängerkarriere beendet. Seitdem erst werden jene Eigenschaften hinter dem beispiellosen Interpreten sichtbar, die recht eigentlich den einzigartigen Sänger ausgemacht haben. Als belesener, literarisch, künstlerisch, musiktheoretisch umfassend gebildeter Mensch hat Fischer-Dieskau etwas zu sagen. In seinem Textbeitrag zum Konzert, überschrieben mit „Benedictus qui venit...“, gelang es Fischer- Dieskau, in wenigen Minuten ein lebendiges, persönliches und nahezu umfassendes Psychogramm von Johannes Brahms entstehen zu lassen. In dessen Mittelpunkt stand – natürlich – die lebenslang unerreichbare Geliebte, Clara Schumann.

Zum Abschluss des ersten Konzertteils dann eine kleine Sensation. Zusammen mit Florian Henschel spielte Dietrich Fischer-Dieskau den Adagio-Satz aus dem ersten Klavierkonzert in Brahms’ eigener Fassung für Klavier zu vier Händen. Doch Interpretation, gar musikalische Perfektion waren hier nicht entscheidend. Es war die Art, wie Fischer-Dieskau kraft seiner Prominenz und seiner umfassenden Kompetenz das Publikum aufhorchen ließ und für die Musik von Brahms gefangen nahm. Mit dieser Geste wurde er – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Schirmherren dieses wundervollen Abends. krell

Der zweite Teil des Konzerts war Robert Schumann gewidmet. Seine drei Melodramen op. 106 und op. 122/1und 2 dokumentierten keineswegs ein Nachlassen von Schumanns Schaffenskraft, wie Fischer-Dieskau betonte, sie seien vielmehr der Beginn eines Spätwerks, das durch die Erkrankung des Komponisten keine vollständige Ausformung erfahren konnte. In den Melodramen werden nicht einfach Text von Musik illustriert oder begleitet. Vielmehr sind Rezitation und Musik rhythmisch und melodisch eng mit einander verwoben. Die Rezitation Dietrich Fischer-Dieskaus, am Klavier begleitet von Florian Henschel, wurde zu einem künstlerischen Ereignis. Eindrucksvoller, ergreifender und nachdrücklicher lässt sich ein Text nicht gestalten, näher kann das gesprochene Wort der Musik wohl nicht kommen. Mit atemloser Spannung folgte das Publikum den beiden Künstlern.

Schumanns Quintett in Es-Dur op. 44 für Klavier und Streichquartett setzte dem Abend die Krone auf. Florian Henschel und das Quartett musizierten hinreißend - emotional, dynamisch ausgewogen, voller Lust und musikantischer Spielfreude. Keine Sekunde Ermüdung, kein Moment nachlassender Konzentration –, und das Publikum ließ sich von dieser Begeisterung anstecken. Jubelnder Applaus nach fast drei Stunden spannenden Zuhörens.

ANDRÉ KRELLMANN