Nürnberger Nachrichten vom 20.02.03
Leiden um der Kunst willen
Ehrenrettung für einen Vergessenen: Dietrich Fischer-Dieskaus
brillante Biografie über Hugo Wolf
Der Zeitpunkt für eine Rehabilitierung ist klug gewählt. Man muss in
Geschichts- wie Tradition-vergessenden Zeiten wie den unsrigen einfach
Gedenktage nutzen. Am 22. Februar jährt es sich zum hundertsten Mal, dass
Hugo Wolf in der niederösterreichischen Landesirrenanstalt in Wien nach
langem Leiden im Alter von 42 Jahren an progressiver Paralyse starb. Sein
starkes Herz hatte die vielen Wahn-Attacken, Lungenentzündungen, Lähmungen,
Schlaflosigkeiten, zwei Schlaganfälle und eine schwere Bronchitis überlebt.
Aber nun war die Kraft aufgebraucht.
Hugo Wolf? Da kommen selbst Musikliebhaber ins Stocken. Ein paar Lieder
mögen bekannt sein, vielleicht noch seine ebenso ätzenden wie gern zitierten
Brahms- und Bruckner-Verrisse im Wiener Salonblatt. Mehr aber nicht.
Detaillierte Werkanalyse
Und genau an diesem Punkt setzt Dietrich Fischer-Dieskau an. Er möchte
vor allem Wolfs völlig verkannten musikgeschichtlichen Rang wieder ins
Bewusstsein rufen, und er tut das – im ersten Teil – mit einer außergewöhnlich
gut recherchierten Biografie und – in der zweiten Hälfte – mit einer eindrucksvollen
wie detaillierten Werkanalyse, der man stets die lebenslange sängerpraktische
Beschäftigung mit seinem Gegenstand anmerkt.
Dabei blickt Fischer-Dieskau durchaus „kritisch auf die Bedeutung eines
bereits wieder aus dem Gedächtnis entschwindenden Werkes und zu-gleich
auf die Leiden“ eines Lebens, das „ ein einziger Weg des Opfers war, des
Opfers um der Sache, um der Kunst willen.“
Ein besonderes glücklicher Umstand kam dem Sänger-Dirigenten, der zuletzt
mit seinen autobiografischen Skizzen „Zeit eines Lebens“ auf sich als
Autor aufmerksam machte, darin zugute. Elisabeth Schwarzkopf, die Witwe
des legendären EMI-Produzenten Walter Legge, stellte ihm aus dem Nachlass
ihres Mannes längst verloren geglaubte Dokumente, zum Teil im Original,
zum Teil als Abschriften (darunter zahlreiche Familienbriefe), zur Verfügung,
mit deren Hilfe biografische und entstehungsgeschichtliche Neubewertungen
möglich wurden.
So weist er nach, wie sehr es Wolf zu danken ist, dass Mörike, aber auch
Eichendorff am Ende des 19. Jahrhunderts dem Vergessen entrissen wurden.
Durch seine genialen Gedicht-Vertonungen, die an Ausdrucksgehalt, sprachlicher
Aneignung und psychologischer Klavierbehandlung die Vorbilder Schubert
und Schumann noch übertreffen, hat er diesen Lyrikern im wörtlichsten
Sinn wieder zu einer Stimme verholfen. Andererseits – und das ist eben
die Gefährdung dieses speziellen Repertoires – sind Wolf-Lieder zwingend
auf deutschsprachige Interpretation angewiesen.
Auch Wolfs Instrumentalschaffen, seine einzige Oper „Der Corregidor“,
aber auch die Einflüsse von Weggefährten wie Gustav Mahler ordnet Fischer-Dieskau
– sprachlich wie immer brillant und präzis – treffend ein.
Wolf, dem ewigen Autodidakt, der nur die Grundschule ganz abschloss,
blieb nur ein Schaffensjahrzehnt, zwischen 1880 und 1890, um sein Œuvre
zu verfassen. Er komponierte schubweise, in kreativen Hochphasen, auf
die unweigerlich längere Depressionsphasen folgten. Als junger Akademie-Student
hatte er sich in einem Wiener Bordell mit der Syphilis angesteckt, deren
verheerende Wirkung sich im allmählichen und von seiner Umwelt erst sehr
spät bemerkten Verlöschen seines Geistes bemerkbar machte.
Religiöser Eifer
Dass selbst die einzige feste Stellung, die er je innehatte (eben die
eines Musikkritikers in einem Boulevardblatt) , eine versteckte Subvention
eines Gönners war, sollte er nie erfahren. Mit geradezu religiösem Eifer
diente Wolf – hier seinem Vorbild Wagner sehr nah – seinem Kunstideal,
das in seiner radikalen Reduziertheit, jede Silbe und jedes Wort minimal
ausschreitend, zu seiner Zeit nicht verstanden wurde. Heute gehören das
„Italienische“ oder das „Spanische Liederbuch“ zu den Heiligtümern der
Gesangskunst.
Aber gerade weil Wolfs Lieder nicht den vordergründigen Effekt suchen,
sondern auf ihre Weise mit Anverwandlung des Dichterwortes zu tun haben,
machen heutige Sänger zu leicht einen Bogen um die rund 300 Gesänge, die
es in ihrem Genre durchaus mit der Bedeutung etwa von Beethovens Sinfonien
aufnehmen können. Fischer-Dieskau begründet dies sehr dezidiert und erweist
der Musik wieder einmal einen großen Dienst.
JENS VOSKAMP
Berliner Tagesspiegel vom 22.02.2003
Er war nur 1,54 groß und starb vor 100 Jahren an Syphilis.
Sein Werk ist fast vergessen. Wer war der Komponist Hugo Wolf?
Eine neue Biografie gibt Aufschluss
Alle seine Weggefährten waren im Pfeifferinger Bauernsaal versammelt;
und dann hielt Adrian Leverkühn, Minuten bevor er vom Klavierstuhl fiel
und starb, eine Rede, in der er in seinem charakteristischen älteren Deutsch
den Ursprung seines musikalischen Werks erklärte: Es sei ihm einstmals
worden „eingegossen vom Engel des Giftes“ in Preßburg, als er nach seiner
„Milchhexe haschte“, „den giftigen Falter kostete“ und sich mit der „Hetaera
esmeralda“ vereinigte. So endet in Thomas Manns „Doktor Faustus“ die Lebensgeschichte
des syphilitischen Musikers.
Viele Komponistenleben haben in die Figur des Adrian Leverkühn Eingang
gefunden, aber kein Komponist ist ihm unähnlicher als derjenige, der zu
Thomas Manns Hybridgestalt die Syphilis beitrug: Hugo Wolf. Die öffentliche
Anerkennung, die Leverkühn letztlich den Rückzug auf einen oberbayerischen
Bauernhof ermöglichte, konnte Wolf nie erlangen. Erst recht gab es in
seinem Schaffen nie jenes faustisch-dämonische Element, welches im Roman
Leverkühns willentliche Infizierung mit der Krankheit spiegelt. Symbolisch
ist auch Wolfs Lebensende: Vereinsamt und vernachlässigt starb er 34-jährig
am 22. Februar 1903 im Irrenasyl. Und während Leverkühn heute noch Legionen
von Interpreten und Lesern beschäftigt, ist Wolfs Musik aus den Konzertsälen
fast verschwunden. Keineswegs von ungefähr also bezeichnete Dietrich Fischer-Dieskau,
als er kürzlich in Berlin eine Meisterklasse über Hugo Wolf abhielt, diesen
als „fast vergessenen“ Komponisten.
Wolfs Leben ist arm an Höhepunkten. Er konnte nie glanzvoll und gefeiert
in der ganzen Welt auftreten wie Richard Wagner oder Gustav Mahler, selbst
die bürgerliche Solidität eines Johannes Brahms blieb ihm versagt. Eben
jener Erfolg seiner Zeitgenossen war es, der ihn in den Wahnsinn trieb:
Als der Wiener Hofoperndirektor Gustav Mahler, mit dem Wolf einst gemeinsam
am Konservatorium studiert hatte, seinen „Corregidor“ ablehnte, verkündete
der rasend gewordene Wolf in der ganzen Stadt, soeben sei er selbst zum
Staatsoperndirektor ernannt worden. Wohlwollend mitleidige Freunde brachten
ihn dann in psychiatrische Behandlung.
Schwer hatte Hugo Wolf es von Jugend an, die er, 1869 geboren, in einem
streitsüchtigen Elternhaus im steirischen Windischgräz verbrachte. Schwer
hat er es sich aber auch selber gemacht: Nach abgebrochenem Studium verdingt
er sich für eine Zeit lang als Musikkritiker. Seine Kritiken aber sind
so unbestechlich und mitunter derart ätzend, dass er nach kurzer Zeit
alle einflussreichen Instanzen des klüngelhaften Musiklebens der k.u.k.-Metropole
vergrault hat – und damit seine eigenen Werke in Wien um jede Aufführungsmöglichkeit
bringt.
So bleibt ihm nur, sich von Gönner zu Gönner durchzuschlagen, die er
dann nicht selten ebenfalls verprellt: Schon ein falsches Wort eines Freundes
über den verhassten Brahms oder ein auch nur leise tadelndes über Richard
Wagner veranlasste den hypersensiblen Wolf zu Skandalauftritten bei Abendgesellschaften,
und wenn er sich beim Komponieren von Vogelgezwitscher gestört fühlte,
konnte er schon mal Hals über Kopf ein gastliches Haus verlassen. Hinzu
kam, dass alle seine Liebschaften unerfüllt blieben, auch wenn er in Melanie
Köchert eine einfühlsame Briefpartnerin fand.
Erfüllung fand dieses Leben, wie Dietrich Fischer-Dieskau in seiner kürzlich
erschienen Biografie Hugo Wolfs schreibt (der einzigen nunmehr ernst zu
nehmenden), nur in der Musik. Doch auch das Komponieren fiel Wolf nicht
leicht: Seine Lieder entstanden – und das kann Konsequenz seiner Krankheit
sein – in regelrechten Schaffens-Explosionen, manchmal gleich mehrere
an einem Tag. Dabei setzte er die Texte so exakt in Musik, dass der Eindruck
entsteht, er habe den Gedichten alles Leben ausgesaugt, um seine musikalische
Inspiration damit zu speisen.
Aber überall da, wo nicht die Textvertonung im Vordergrund steht, ziehen
sich die Kompositionsprozesse quälend lange hin: Jahrelang müht er sich
mit dem letzten Satz seines Streichquartetts, symphonische Werke – sogar
nach Textvorlagen wie der Penthesilea – werden wieder und wieder überarbeitet,
bevor das Interesse an ihnen endgültig erlahmt. Nicht viel besser ergeht
es seinem Wunsch, eine Oper zu schreiben: Erst findet sich über Jahre
hinweg kein geeignetes Libretto, und jenes, das er schließlich als „Der
Corregidor“ vertont, ist zu belanglos, um ihn zu einem musikdramatisch
überzeugenden Werk zu inspirieren.
Kein Wunder, dass Hugo Wolf es mit einem solchen Oeuvre heute schwer
hat: Will man erkennen, was er in seinen Liedern mitteilen will – das
Restrepertoire ist mittlerweile ohnehin nur noch Liebhabern bekannt -
muss man ein feines Ohr für feinste Nuancen haben: nicht gerade eine sehr
geläufige Fähigkeit in einer Zeit, die Gedichte weder vom Hören kennt
– und vom Sagen schon gleich gar nicht. Hat man aber einmal verstanden,
wie etwa ein im Text gar nicht verbalisiertes gedankliches Innehalten
durch eine Nebenstimme der Klavierbegleitung ausgedrückt wird – dann lernt
man in Wolfs Musik eine ungeheure Subtilität kennen: Was sein Werk auszeichnet,
ist genau jene Überempfindlichkeit, die ihm das Leben so unendlich schwer
gemacht hat. In dieser Hinsicht hat Hugo Wolf, schon lange bevor er dem
Wahnsinn verfiel, sehr viel vom Dämonischen eines Besessenen.
Christian Kässer
Rheinpfalz online vom 22.02.2003
"Um mich herum gibt es nur noch mehr Ungethüme" - Genie
und Wahnsinn: Zum 100. Todestag des österreichischen Komponisten Hugo
Wolf
Hugo Wolf, der Tondichter. Das ist wörtlich zu verstehen. Vollender des
Schubertschen und Schumannschen Erbes. Das deutsche Kunstlied führte er
zu einem Gipfelpunkt. Zu nie geahnten Höhen. Als komponierender Nachdichter,
als Anverwandler dichterischer Verse. Mörike, der zu Lebzeiten Wolfs vergessene
schwäbische Lyriker, zum Beispiel. Es ist mehr als kongeniale Vertonung
der Verse, ist die musikalische Neuschöpfung der Dichtung, die gleichsam
erst im Lied ganz zu sich selbst kommt. Weil erst in Wolfs Vertonung von
"Nimmersatte Liebe" oder "Denk es, o Seele!" Mörike seine ganze biedermeierliche
Beschaulichkeit über Bord wirft und zu einem erschreckend modernen Dichter
wird. Vertont von einem Musiker, dessen Platz in der Geschichte im Niemandsland
zwischen Wagner-Nachfolge und Aufbruch in die Moderne liegt.
Viel Platz gab es nicht in dieser Nische. Und andere, ob sie nun Mahler,
Bruckner oder Strauss hießen, waren da viel brachialer als der stets verunsicherte,
um seine kreative Potenz fürchtende Wolf. Sie rissen riesige Löcher in
die Tradition des 19. Jahrhunderts, schufen Sinfonien oder sinfonische
Dichtungen von gewaltigem Ausmaß und bombastischem orchestralen Aufwand.
Wolf blieb dieses demonstrativ-selbstbewusste Reüssieren vorenthalten.
Alles in ihm fokussiert sich auf die Kleinstform, das Detail. Auf den
Mikrokosmos: das Lied.
Das Vorbild Richard Wagners lastete mehr auf ihm als es ihm leuchtete.
Ein Königreich für eine Oper, für ein Libretto! Sein ganzes, nicht einmal
43 Jahre währendes Leben war er auf der Suche nach einem Libretto. Er
fand schließlich ein eher "unterdurchschnittliches", wie der geniale Wolf-Interpret
Dietrich Fischer-Dieskau in seiner äußerst kenntnisreichen Wolf-Biographie
urteilt, von Rosa Mayreder. "Der Corregidor" blieb sein Schmerzenskind.
1896 in Mannheim uraufgeführt, ist Wolfs einzige vollendete Oper auch
heute noch ein seltener Gast auf den Opernbühnen. Die unfreundliche Aufnahme
seiner Oper ist nur eine von vielen Enttäuschungen in Wolfs Leben. Blindwütig,
rasend, rannte er gegen Unverstand an.
Wolf war auch ein Berserker, ein eigenartiger Eigenbrötler, blieb als
Steirer aus Windischgrätz in Wien, der Musikmetropole, ein Hinterwäldler.
Verlacht, zurückgestoßen, meist hungernd, umherziehend, ständig sein Quartier
wechselnd, der Unterstützung durch seine wenigen Freunde geradezu ausgeliefert,
war er ein Prototyp der verkannten Genies. Dennoch so voller heiligem
Zorn. Auf jene, die nicht begreifen wollten und konnten, was er ihnen
da - ob sie wollten oder nicht - in oft stundenlangem Klavierspiel präsentierte,
seine Lieder vor allem, auch seine wenigen Kompositionen für größere Besetzung
(etwa das Streichquartett oder die sinfonische Dichtung "Penthiselea"
nach Kleist). Noch mehr aber wütend gegen jene, die es wagten, sein Heiligtum
Wagner zu beschmutzen. Vor allem gegen Brahms, der ihm eigentlich nichts
Böses wollte, aber in seinem Parteigänger Eduard Hanslick, dem Musikkritiker
Wiens dieser Zeit schlechthin einen wahren Wolf-Hasser an seiner Seite
hatte. Auch Wolf war vorübergehend Muskkritiker im "Salonblatt". Er hat
sich da viele Feinde gemacht. In einer Stadt, in der Beethoven alles war
und Brahms dessen einziger legitimer Nachfolger, schreibt Wolf: "Die Kunst,
ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten
Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms
sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen."
Wolf war ein Einsamer, wollte es sein. Freunde ertrug er mehr, als er
ihnen dankte - für eine Hilfe, die lebensnotwendig war. Auch Adalbert
von Goldschmidt wollte ihm was Gutes tun. Er überließ Wolf im Bordell
"Lehmgruben" sein Honorar für nächtliches Klavierspiel in dem Etablissement.
Dieses bestand im kurzen Beischlaf mit einer der Damen des Hauses. Es
war eine Nacht, die Wolfs Leben veränderte. Er infizierte sich mit Syphilis,
die schließlich zu seinem Wahnsinn und Tod führen sollte. Thomas Mann,
darauf verweist Fischer-Dieskau, hat sich Wolfs Schicksal als Vorbild
für seine Romanfigur Adrian Leverkühn im "Dr. Faustus" gewählt. Der Teufelspakt
mit der Krankheit, die zur Muse wird. Glaubt zumindest Fischer-Dieskau:
"Zehn Jahre nach der syphilitischen Intoxikation und zehn Jahre vor Ausbruch
der Gehirnparalyse löst die Krankheit eine manische Befreiung geistiger
Schaffenskräfte aus. Wie durch Zauberspruch erreicht Wolf mit einem Mal
den Gipfel seiner kompositorischen Originalität."
Genie und Wahnsinn. Nach kurzen eruptiven Schaffensphasen, in denen die
Mörike-, Goethe- und Eichendorff-Lieder ebenso entstehen wie das Italienische
und das Spanische Liederbuch, kommt es im September 1897 zur Katastrophe.
Wolf rast durch Wien und gibt sich als Operndirektor aus, einen Posten,
den Gustav Mahler innehatte, der den "Corregidor" nicht aufführen wollte.
Eine erster Aufenthalt in einer privaten Nervenheilanstalt wird nochmals
kurz unterbrochen, ehe Wolf nach einem Selbstmordversuch erneut eingewiesen
wird. Nun wird es ganz dunkel um ihn: "Schon länger höre und sehe ich
nichts von der schönen Welt. Um mich herum gibt es seit einiger Zeit nur
noch mehr Ungethüme". Heute vor 100 Jahren starb Hugo Wolf in der Niederösterreichischen
Landesirrenanstalt in Wien.
Frank Pommer
Salzburger Nachrichten vom 22. Februar
2003
Auch kleine Dinge können uns entzücken
Heute, Samstag, jährt sich zum 100. Mal der Todestag
von Hugo Wolf, dem zweiten österreichischen "Liederfürsten"
In der Bergstraße 8 in Salzburg erinnert eine Gedenktafel an das ultrakurze
Salzburg-Intermezzo von Hugo Wolf. Er kam, stritt und war gleich wieder
weg. Anfang November 1881 hatte der junge Mann die Stelle eines Theaterkapellmeisters
angetreten. Zweieinhalb Monate später schon der Krach: "Vom 16. Jänner
ab gehöre ich nicht mehr diesem Saustall an."
Es hat Hugo Wolf, dessen Todestag sich heute, Samstag, zum 100. Mal jährt,
nirgendwo lang gelitten. Aus den Schulen ist er ebenso geflogen wie aus
dem Wiener Konservatorium. Danach hatte er sich autodidaktisch weitergebildet
und als privater Klavierlehrer in Wien durchgeschlagen. Gerade drei Saisonen
lang währte seine Karriere als Musikkritiker des Wiener Salonblattes.
Da rechnete er mit seinen vermeintlichen "Feinden" ordentlich ab. Zum
Beispiel mit Brahms, dem der junge Mann einige Lieder zur Begutachtung
vorgelegt und von dem er den wohlmeinenden Rat mitbekommen hatte, er müsse
jetzt "erst mal tüchtig was lernen".
Heftiger Kampf: ein "Opfer" von Brahms?
Die Brahms-Lobby war auch nicht mundfaul. "Penthesilea", die heute kaum
noch aufgeführte symphonische Dichtung des 23-jährigen Wolf, nahmen sich
Hans Richter und die Wiener Philharmoniker vor. Der Dirigent nach der
ersten Durchspielprobe: "Das also ist der Mann, der über Meister Brahms
so abzuurteilen wagt." Zur Uraufführung kam es damals nicht.
Unumstritten ist Hugo Wolfs Rang als Liederkomponist, als zweiter österreichischer
"Liederfürst" nach Schubert - aber das ist eher theoretisches Lob, das
sich auf den Podien, von aktuellen Ausnahmen abgesehen, nicht recht niederschlägt.
"In den Konzerten wiederholen sich immer dieselben vierzig Lieder, der
Rest ist Schweigen. Es gibt wirklich unerkannte Perlen, zum Beispiel bei
den Jugendliedern" - so äußerte sich jüngst der 77-jährige Dietrich Fischer-Dieskau,
der zum Gedenkjahr noch einmal auf den Komponisten, zu dessen Rezeption
er zeitlebens viel beigetragen hat, aufmerksam macht.
Neue Perspektiven auf die Biografie
Im Verlag Henschel hat er das Buch "Hugo Wolf. Leben und Werk" herausgebracht.
Der Band enthält manche neue Perspektive auf die Biografie und die Wesensart
des Komponisten, denn Fischer-Dieskau konnte auf bisher unveröffentlichtes
Material aus dem Besitz des Wolf-Biografen Frank Walker zurückgreifen.
Walker schrieb in den dreißiger Jahren ein Buch über den Komponisten,
musste aber auf damals noch lebende Persönlichkeiten Rücksicht nehmen.
Auch aus Walter Legges Nachlass, dem Gatten der legendären Wolf-Interpretin
Elisabeth Schwarzkopf, bekam Fischer-Dieskau bisher nicht aufgearbeitete
Archivalien.
Das zweite Projekt von Fischer-Dieskau: EMI bringt dieser Tage ein Kompendium
mit Musik von Hugo Wolf heraus. Auf sieben CDs wird historisches Material
aus Schallarchiven zum Teil erstmals veröffentlicht (Fischer-Dieskau wird
begleitet von Gerald Moore). Außerdem Fischer-Dieskau als Dirigent: eine
Neubewertung der symphonischen Werke von Hugo Wolf? Außer der einsätzigen
"Italienischen Serenade" ist ja heutzutage kaum einmal etwas in Konzerten
zu hören.
Man darf neugierig sein, ob Thomas Hampson bei den Salzburger Festspielen
Schätze zu Tage fördern wird. Er gestaltet ja nicht nur einen Liederabend
unter dem Motto "Hugo Wolf und seine Zeit" (am 1. August), sondern hat
für 4. August auch Sängerkollegen - Barbara Bonney, Angelika Kirchschlager,
Michael Schade, Georg Zeppenfeld - zu einem "Hugo Wolf-Marathon" eingeladen.
Auch andere Festspiel-Liederabende haben Stücke von Hugo Wolf im Programm.
Material gäbe es ja genug: Es gibt rund 300 Lieder, 53 Vertonungen von
Mörike-Gedichten (das ist ein Fünftel von Mörikes lyrischem Schaffen!),
zwanzig auf Texte von Eichendorff und 51 Goethe-Lieder. "Auch kleine Dinge
können uns entzücken" - der Leitspruch fürs "Italienische Liederbuch"
ist für Hugo Wolf überhaupt typisch geworden. Nur mit Vorbehalten widmete
er sich der Symphonik. Die Oper "Der Corregidor" (1896) ist die deutschsprachige
Spielopern-Variante des "Dreispitz".
Was ist charakteristisch für Wolfs Liedschaffen? Die "Zweigleisigkeit"
zwischen Singstimme und Klavierpart ist typisch. Aufgemischt mit allen
Finessen der impressionistischen Farbpalette sind die Klaviersätze, und
meist ist auch das Klavier der Träger der Melodie. Der Sänger findet sich
nicht selten in der Rolle des Rezitators. Gerade dieser für viele Lieder
Wolfs bezeichnende "Sprechgesang" ist die spezielle Herausforderung an
die Interpreten.
© SN.
Badische Zeitung vom 22.02.2003, Mannheimer
Morgen 23.02.2003
Angst vor der Großform
Zum 100. Todestag des Komponisten Hugo Wolf: Eine Monografie
von Dietrich Fischer-Dieskau
Gurrende Tauben vor dem Fenster, des Nachbarn schnatternde Gänse, eine
tickende Uhr oder gar spielende Kinder: Wenn sich der Komponist Hugo Wolf
in einer seiner obsessiven Schaffensphasen befand, störte ihn trotz Lärm
schützendem Stöpsel im Ohr das geringste Geräusch. Blieb die Inspiration
aber aus - und dies für manchmal unerträglich lange Zeit -, war er sowieso
unausstehlich. Stieß seine Freunde und Gönner vor den Kopf, haderte mit
sich und der Welt. Zu leiden hatte er ja tatsächlich: An der wohl in einem
Wiener Bordell bereits mit 18 Jahren eingefangenen Syphilis, die ihn die
letzten fünf Jahre seines nur knapp 43 Jahre währenden Lebens im Wahnsinn
dahinvegetieren ließ.
Seine rund 300 Lieder, die in Mannheim 1896 uraufgeführte Oper "Der Corregidor"
sowie einige Chorkompositionen entstanden - mit Ausnahme weniger Frühwerke
- allesamt innerhalb einer knappen Dekade. Wobei er die 1888-91 komponierten
großen Liederzyklen (53 Mörike-, 20 Eichendorff-, 51 Goethe-Gedichte,
das 34 Gesänge umfassende "Spanische Liederbuch nach Paul Heyse und Emanuel
Geibel" und der erste Teil des "Italienischen Liederbuchs") in jeweils
wenigen Wochen quasi aus sich herausschleuderte. Zum Großteil geniale
Kompositionen, die nicht nur Schumanns Liedintention, sondern auch Schuberts
Werk weiterführten, in gewisser Weise auch vollendeten. An dieser Einschätzung
jedenfalls lässt Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Buch "Hugo Wolf. Leben
und Werk", das gerade zum heutigen 100. Todestag des Komponisten erschienen
ist, nicht den geringsten Zweifel. Und dem Urteil eines Liedinterpreten
seines Kalibers darf man trauen.
Konnte sich schon als Kind nicht einordnen
Mehr jedenfalls als manchem Zeitgenossen Wolfs. Gustav Mahler etwa, mit
dem Wolf einige Zeit in Wien Wohnung und Essen geteilt hatte, spielte
dessen Talent herunter, Kritiker wie Eduard Hanslick verlachten ihn als
Wagner-Epigonen oder hielten seine Lieder schlichtweg für unsingbar, und
Richard Strauss schimpfte ihn gleich als "puren Dilettanten". Dabei hatte
der 1860 im südsteierischen, heute slowenischen, Windischgräz geborene
Wolf durchaus eine rührige Fangemeinde: Wiener Freunde stellten ihm bereitwillig
ihre idyllischen Feriendomizile zur Verfügung. Richard-Wagner-Vereine,
ja sogar schon einzelne Hugo-Wolf-Vereine sorgten für Auftritte - Kunstsinnige:
Aus deutscher Sicht sind da besonders der Mannheimer Amtsrichter Oskar
Grohe und der Verleger Karl Heckel hervorzuheben sowie der singende Stuttgarter
Rechtsanwalt Hugo Faisst. Auf ihn geht die "Internationale Hugo-Wolf-Akadmie
für Gesang, Dichtung, Liedkunst e. V. Stuttgart" zurück, die heute unter
Hartmut Hölls künstlerischer Leitung für die Wolf-Rezeption von großer
Bedeutung ist.
"Hugo - für Menschen mit Ohren", so lautet ihr Motto, das - genau wie
Fischer-Dieskau mit seiner aufschlussreichen und ausführlichen Monografie
- helfen will, uns einen schwierigen Künstler und Menschen näher zu bringen.
Denn das hat Hugo Wolf - durchforstet man das gängige Liederabend-Repertoire
- durchaus nötig. Warum, weiß Fischer-Dieskau auch: "Sänger wie Hörer,
die des Deutschen nur bedingt mächtig sind, halten sich lieber an den
melodischen Fluss anderer Komponisten, der über die Hindernisse fehlerhafter
Aussprache und mangelnden Verstehens leichter hinweghilft." So werden
also der "erlesenste Sprachkünstler unter den Musikern deutscher Zunge"
und seine "anspruchsvollen Schöpfungen" wohl immer "eine Domäne deutschsprachiger
Sänger" bleiben.
Der nur 1,57 Meter kleine "wilde Wolf", viertes von acht Kindern eines
durchaus musikalischen Lederers, konnte sich schon als Kind nicht einordnen,
schmiss später sein Musikstudium und wurde zum klassischen Autodidakten.
Im Wien der 1870er-Jahre, dem "Tummelplatz vieler Talente und Genies",
saugte er alles in sich auf. Von Wagner habe der bekennende "Wagnerianer"
außer der "Sprachmelodie" allerdings bei weitem nicht so viel gelernt
wie von Schumann und Schubert, rückt Fischer-Dieskau das Wolf-Klischee
zurecht. Sein zarter Personalstil liebe eben eher das Filigrane, die Verschmelzung
von Poesie und Musik. Wolf setze die Verlebendigung des Geistes einer
Dichtung an erste Stelle, die Musik habe sich der Dichtung unterzuordnen.
Die Konzentration auf das Lied und einige wenige Dichter ersetze vermutlich
die fehlende Großform.
Vor der nämlich entwickelt Hugo Wolf geradezu eine Phobie. Gleichzeitig
ringt er um die Oper wie ein Besessener. Sein "Corregidor" - als "Meistersinger"-Abklatsch
abgetan - kommt bis heute nur selten zur Aufführung; die zweite Oper "Manuel
Venegas" bleibt Fragment. Die Parallele zu Heinrich von Kleist, dessen
"Penthesilea" der Komponist 1885 zur symphonischen Dichtung verarbeitete,
ist deutlich: Wie Goethe dem Dichter, so stand Wagner dem Komponisten
im Wege. Frühvollendete beide, die der Nachwelt die absolute Krönung ihrer
Kunst womöglich schuldig bleiben mussten.
Susanne Kaulich
NDR kultur 23.02.2003:
Buch der Woche: Dietrich Fischer-Dieskau: Hugo Wolf -
Leben und Werk
"Liedvortrag ruft nach besonderer Begabung" betont Dietrich Fischer-Dieskau,
der oft gefeierte Jahrhundert-Sänger, in seinem neuesten Buch über Leben
und Werk des Komponisten Hugo Wolf, dessen einhundertsten Todestag die
Musikwelt am 22. Februar begangen hat. Kein Zweifel, der Lied-Interpret
Fischer-Dieskau hatte sie – die von ihm bei heutigen Sängerkollegen schmerzlich
vermisste große Persönlichkeit und die Fähigkeit zur vollkommenen Identifikation,
die ein Lied beim Vortrag neu erstehen lässt. Sie wirkt noch heute in
einer Fülle maßstabsetzender Aufnahmen auch auf all` jene Hörer, die Dietrich
Fischer-Dieskau seit seinem letzten Liederabend vor zehn Jahren, im Dezember
1992, nicht mehr live als Sänger erleben konnten. Mehr noch: Man kann
ihm noch heute in aller Welt begegnen, dem Rezitator, dem Lehrer, dem
Maler , Autor zahlreicher Bücher und im Hugo Wolf-Jahr 2003 auch dem Vortragsreisenden
Dietrich Fischer-Dieskau.
Nach Monographien über die wichtigsten Fixsterne an seinem Sänger-Himmel
Schubert und Schumann widmet sich Dietrich Fischer-Dieskau jetzt auf fast
560 Seiten Hugo Wolf: Jenem Komponisten, dessen Liedschaffen er in seiner
jahrzehntelangen Karriere wie kaum ein anderer Sänger lebendig werden
ließ. Dieskau, der kompromisslose Ästhet und humanistisch geprägte Gelehrte,
entwirft ein vielschichtiges, ja stellenweise anrührendes Lebensbild des
stets auf sich selbst zurückgeworfenen Künstlers Wolf, der reizbar und
unbehaust durch sein nur 43 Jahre langes Leben geht.
Einfühlsam die Schilderung der Schlüsselbegegnungen Hugo Wolfs mit den
wichtigsten musikalischen Persönlichkeiten seiner Zeit: Mit dem übermächtigen
Idol Wagner, mit dem konservativen Patriarchen Johannes Brahms und mit
dem gleichaltrigen Freund Gustav Mahler, mit dem Hugo Wolf zeitweilig
die Armut eines kargen Zimmers teilt. Dieskau hält sich an die alte Biographen-Tugend
und schreibt ohne Eifer, ohne Zorn, dennoch wird die Beschreibung der
Lebensstationen immer wieder zum engagierten Plädoyer für den scharfsinnigen
Geist, der Hugo Wolf auch war. Mit dem Wort "Genie" geht Fischer-Dieskau
wohltuend behutsam um. Er beleuchtet auch die Schattenseiten, wie den
modischen Antisemitismus des Komponisten.
Eine Fülle von Einsichten über die großen Liedzyklen Wolfs und seine
Bindung an ihre Dichter vermittelt Fischer-Dieskau im zweiten Teil des
Buches; Souverän ordnet er vor den Augen des Lesers Einzelheiten der Kompositionskultur
und der Satztechnik Hugo Wolfs und behandelt in kleinen Exkursen Streitfragen,
wie die Bezeichnung Anton Bruckners als eines "Wagners der Symphonie".
Elisabeth Schwarzkopf ist dieses Buch gewidmet: Sie war bereits in den
fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gemeinsam mit Dietrich Fischer-Dieskau
in Doppel-Liederabenden mit den Werken Hugo Wolfs aufgetreten. Sie war
es auch, die dem Autor jetzt zahlreiche, bisher unveröffentlichte Briefe
und Dokumente aus dem Nachlass des Komponisten zur Verfügung gestellt
hatte. Diese waren vom verstorbenen Ehemann der Schwarzkopf, dem legendären
EMI-Produzenten und Hugo Wolf-Bewunderer Walter Legge zusammengetragen
worden und lassen den Leser jetzt unmittelbar teilhaben an den Liebeserfahrungen
und der inneren Zerrissenheit eines der größten Liedkomponisten der Musikgeschichte.
Ein anregendes und bei allem Anspruch des Autors höchst lebendig geschriebenes
Buch, dessen Nützlichkeit durch eine Zeittafel, ein Werkverzeichnis und
eine Auswahl-Bibliographie noch erhöht wird.
Thorsten Weber
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