Absurd unterschätzt

Jens Malte Fischer

Dietrich Fischer-Dieskau huldigt in einer grundsympathischen Hommage den Gesangswerken von Johannes Brahms..

Keine neue Brahms-Biographie ist anzuzeigen - Dietrich Fischer-Dieskau versucht erst gar nicht, mit Max Kalbecks vierbändiger Monumentalbiografie zu konkurrieren, die sich ebenso wie Florence Mays Darstellung noch aus dem persönlichen Umgang mit dem zum Wiener gewordenen Hamburger Komponisten speiste, aber auch nicht mit Hans Gals und Johannes Forners gelungenen Lebensskizzen. Fischer-Dieskaus Ansatz ist ein anderer, wie er im Vorwort sagt. Durch die Beschäftigung mit dem Brahmsschen Liedwerk als Interpret gewann er den Eindruck, "dass man durch die Gesangswerke ein Lebensbild des Komponisten erhält, das in vieler Hinsicht mehr aussagt als ein bloßer Abriss seines äußeren Lebenslaufs".

Der leicht umständliche Begriff "Gesangswerke" ist durchaus korrekt, denn das Buch behandelt nicht nur die Sololieder, die dennoch im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern auch alle anderen Werke, in denen die Gesangsstimme, sei es solistisch, sei es chorisch, zum Einsatz kommt, also auch "Rinaldo" und das "Deutsche Requiem", wie auch die Motetten. Fischer-Dieskau bringt hier eine Art geheimer Trilogie zur Abrundung. Vor 35 Jahren wandelte er "Auf den Spuren der Schubert-Lieder", vor 25 Jahren stellte er "Robert Schumann. Das Vokalwerk" dar und nun (von seiner Hugo-Wolf-Biografie einmal abgesehen) lässt er Brahms das letzte Wort im Liedkosmos des 19. Jahrhunderts.

Der Autor ist sich vollkommen bewusst, dass zu Schubert und Schumann, was die Liedkomposition betrifft, ein erheblicher Unterschied besteht: Brahms ist als Komponist der Sinfonien, seiner Kammermusik und Klaviermusik unbestreitbar seit einem Jahrhundert ein Musiker von Weltgeltung; als Schöpfer aber eines ungemein reichen, sein ganzes Schaffen durchziehenden Liederwerks von rund 200 Sololiedern ist Brahms auf absurde Weise im heutigen Musikleben unterschätzt und unterrepräsentiert. Sucht man nach einer bündigen Erklärung für diese Beobachtung, wird man auch bei Fischer-Dieskau nicht wirklich fündig, aber das kann man dem Buch nicht übel nehmen, denn diese Erklärung ist kaum schlüssig zu liefern. Hört man sich bei Musikern und Musikliebhabern um, dann kommt sehr schnell die Konstatierung (mit einem leisen Unterton des Vorwurfs) der "Schwerblütigkeit".

Das ist, auch jenseits des Tadels, nicht ganz unrichtig, wenn es auch teilweise klischeebestimmt ist, frei nach dem Wiener Bonmot zu Brahms' Lebzeiten: "Wenn Brahms ganz ausgelassen ist, dann singt er ,Das Grab ist meine Freude'". Die "Winterreise" ist aber auch nicht gerade ein Tandaradei-Liederspiel, was ihrer Popularität jedoch keinen Abbruch getan hat. Man muss außerdem nur einmal unvoreingenommen sich den einzigen größeren Zyklus anhören, den Brahms komponierte, als er selbst erst in seinen Dreißigern war, um zu erkennen, dass hier alle Vorurteile widerlegt werden, der ganze Brahms bestehe nur aus Melancholie, Introspektion und Introversion. Die "Romanzen aus L. Tiecks ,Magelone'", wie der Zyklus heißt, sind teilweise von feurigstem Schwung durchpulst, bilden einen Gipfel der Liedliteratur und sind mit Schuberts beiden Zyklen und Schumanns "Dichterliebe" in einem Qualitätsatemzug zu nennen, nur haben das immer noch zu wenige gemerkt.

An Dietrich Fischer-Dieskau kann es nicht liegen, denn er hat den Zyklus viermal im Studio aufgenommen und sehr viel öfter im Konzert gesungen. Insgesamt gilt außerdem für die Brahmsschen Lieder, dass sich eine ungute Tendenz entwickelt hat, sie als Domäne der Altistinnen und Mezzosopranistinnen zu betrachten. Diese Tendenz hat auch positive Aspekte, wenn es sich um Künstlerinnen wie Christa Ludwig, Janet Baker und Brigitte Fassbaender handelt, aber es darf nicht vergessen werden, dass Brahms bei vielen seiner Lieder eine Männerstimme der mittleren Region vorsah (auch weil die Texte meist eine männliche Perspektive einnehmen). Fischer-Dieskau stellt all das dar in einer Mischung aus biografischen Abschnitten und Liedinterpretationen, die vielleicht nicht immer so verzahnt sind, wie das der Buchuntertitel suggeriert - dennoch entsteht auch für den Leser, der mit dem Leben von Brahms, unspektakulär wie es war, nicht so vertraut ist, ein genaues und nüchternes Bild.

Sehr wohltuend ist, dass der Autor sich ausdrücklich heute so beliebter Spekulationen nach dem Muster "Was war denn nun mit Clara Schumann?" enthält und sich nobel auf die gesicherten Fakten zurückzieht. Das ganze Buch ist nichts anderes als eine von großer Zuneigung getragene Reverenz vor dem unterschätzten Vokalkomponisten Johannes Brahms. Die dem Buch beiliegende CD gibt eine kleine Auswahl aus seinen reichhaltigen Brahms-Aufnahmen.

"Lieben Sie Brahms?" hieß es einst bei Françoise Sagan. Wenn nur ein junger Bariton nach deren Lektüre beschließt, sich die "Schöne Magelone" vorzunehmen, und wenn nur ein Leser sich eine Aufnahme dieses Zyklus verschafft (etwa die mit Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter), hat sich die Mühe des Autors gelohnt - im Sinne Ernst Blochs, der zu Brahms bemerkte: "Im Dunkel dieser Musik glimmen die Schätze, die von Motten und Rost nicht gefressen werden, also die dauernden, worin Wille und Ziel, Hoffnung und ihr Inhalt, Tugend und Glück vereinigt sein können wie in einer Welt ohne Vereitlung."

Dietrich Fischer-Dieskau: Johannes Brahms. Leben und Lieder. Propyläen, Berlin. 368 S., 24,90 EUR. Artikel erschienen am 30.09.2006

zurück zu News