2.10.2001

Und fern und fahl und kahl
Dietrich Fischer-Dieskau trat für Artur Schnabel noch einmal als Sänger auf
Wolfgang Fuhrmann

Die Begeisterung, die für die Lyrik Richard Dehmels im frühen 20. Jahrhundert herrschte, erscheint heute ähnlich rätselhaft, wie es einmal der gegenwärtige Michel-Houellebecq-Rausch für die Nachwelt sein wird. In Dehmels Gedicht "Notturno" werden Stimmungswörter wie "bleich", "öde", "fahl", "kahl", "müd" und "starr" so lange umgruppiert, bis sie zum schauerromantischen Geklingel verkommen sind: "Und müder glitt die müde Hand,/ und vor mir stand/ ein bleicher Tag,/ ein ferner bleicher Jugendtag,/ da starr im Sand/ er selber ein Zerfallner lag".
Nicht nur Arnold Schönberg hielt Dehmel für einen Meister. Artur Schnabels Vertonung des "Notturno" (1914) stand am Ende des fünfzehnten und letzten Konzerts der Reihe "Artur Schnabel Musiker Musician", mit der die Akademie der Künste, das Deutschlandradio Berlin und die Berliner Festwochen an diesen Komponisten erinnerten. Vieles von Schnabel hat bei diesen Konzerten große Aufmerksamkeit erregt als eigenständige und bedeutende Musik, das "Notturno" ist ein nicht ganz so ansprechender Fall. Schnabel komponiert am Text entlang, das Klavier unterstützt die Stimme recht homophon mit mild dissonanten Akkorden, die parallel verschoben werden, wie man es von Debussy kennt. Im Nachspiel, nach den Worten: "Und dankbar bin ich aufgewacht", lichtet sich die Harmonik zur Dur-Moll-Tonalität, immerhin schwebend genug, um nicht banal zu wirken.

Dass die Aufführung des "Notturno" an das damals beliebte Melodram erinnerte, ist allerdings Dietrich Fischer-Dieskau zuzuschreiben, der, aus Hochachtung vor Schnabel wohl, dieses eine Mal nur als Sänger wieder auftrat. Schnabel forderte eine Singstimme; Fischer-Dieskau deklamierte am Sonntag über weite Strecken, als wäre es eine Schönberg’sche "Sprechstimme". Die Neigung Fischer-Dieskaus, Wörter nicht nur vorzutragen, sondern gleichzeitig auch noch zu erklären, verstärkte diesen Eindruck. Wo es im Text hieß: "und fern und fahl entwich ins Dunkel auch der Tod", so klang "fahl" fahl, "Dunkel" wurde dunkel abgetönt und "Tod" mit Grabesstimme vorgetragen. Aber dafür haben wir doch die Wörter, damit wir die Dinge nicht auch noch herzeigen müssen.

Nichtsdestoweniger war das "Notturno" der bedeutendste künstlerische Eindruck dieses Abends in der Akademie. Die interessante Idee, die Jugendwerke Alban Bergs mit denen Artur Schnabels zu konfrontieren, scheiterte nicht nur an einem klirrenden Bechstein-Flügel, sondern auch an dem Pianisten Benedikt Koehlen, der zumindest Bergs "Frühe Klavierstücke" und seine "12 Variationen" zu wenig geübt hatte; die Fehlgriffe häuften sich. Immerhin bemerkenswert, wie sicher im Entwickeln musikalischer Einfälle die "Drei Klavierstücke" des vierundzwanzigjährigen Schnabel wirkten im Vergleich zum etwa gleichaltrigen Berg.