Zur Liedermatinee am 13. September 1992 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 15. September 1992     

Lust ist tieferer Schmerz

Fischer-Dieskau und Brahms’ "Schöne Magelone" in der Deutschen Oper

     

An Dietrich Fischer-Dieskau scheiden sich die Geister wie sonst nur an Glenn Gould. Die einen können diesen Sprechgesang, dieses hohle Dramatisieren nun langsam nicht mehr hören. Überhaupt mache sich der Mann lächerlich mit seiner Unfähigkeit, beizeiten ein Ende zu finden. Die anderen sehen in seiner Technik wie in seinen Interpretationen die einzig mögliche Form, eine verstaubte Gattung für moderne Ohren schmackhaft zu machen.

Auf einer Matinee der Deutschen Oper trug der Meister zusammen mit Gerhard Oppitz den Brahmsschen Magelonen-Zyklus vor. Sei es aus Altersgründen, sei es als Altersstil, alle dramatischen Ausbrüche wurden sofort ins Lyrische zurückgenommen, der Entfaltung des Lyrischen überhaupt ungewöhnlich viel Zeit gelassen, mehr auch als in den eigenen Einspielungen. Daraus entstand eine eigentümliche Reflexivität, durch den leicht ironischen Vortrag noch gestützt. Es war, als werde nicht einfach das Gefühl frei weg herausgesungen, sondern als beobachte der Fühlende sich selbst, wie der Fluß seiner Empfindungen an ihm vorbeizieht.

Und aus dieser Reflexivität heraus war auf einmal das große interpretatorische Problem des Zyklus gelöst. Die eher disparaten Stimmungsmomente der einzelnen Lieder, die in der Tieckschen Textvorlage ja durch Prosaabschnitte verbunden sind, fügten sich sinnvoll zu einer kontinuierlichen Gefühlsentwicklung. Der junge Peter zieht, scheinbar ganz dem romantischen Mittelalterkultus entsprechend, auf Minneabenteuer. Doch die frohe Fahrt kommt bald grüblerisch ins Stocken. "Ach, Lust ist nur tieferer Schmerz." Brahms, sonst eher eine unangenehme Mischung aus Autodidakt und Bildungsphilister, hätte, wenn Fischer-Dieskaus Interpretation stimmt, den Textsinn genau getroffen.

So bewundernswert wie der Zusammenhang zwischen den Liedern wurde ihre innere Logik gestaltet. Bekanntlich war Brahms für Schönberg der Begründer der Moderne mit seinem Verfahren, alle Wiederholungen oder Symmetrien in einen steten Transformationsprozeß aufzulösen. Fischer-Dieskau hebt diese Veränderungen von Intervallstrukturen analytisch hervor. Ein didaktischer Zeigefinger ist dennoch nicht zu sehen, weil zugleich durch exakt ausgerechnete Phrasierung die Teile so verbunden werden, daß immer eins ins andere übergeht, vom ersten Ton eines Liedes an, ein kaum merklicher Sog besteht.

Gerade bei Brahms begleitet das Klavier nicht die Singstimme, sondern ist ihr Duo-Partner. Doch Gerhard Oppitz blieb im Kontrast zu Fischer-Dieskau blaß, spielte etwas zu leise, vertraute etwas zu sehr den Bindungskräften des Pedals, so daß die Melodielinien unkonturiert wirkten, fing motivische Bälle nicht recht auf. Allerdings mag es auch hart sein, sich neben dem Meister moderner Liedinterpretation zu behaupten.

Das zugegebene Schlußstück des unbekannteren, aber vielleicht noch bedeutenderen Zyklus op. 32 brachte einen Ausklang in vollendeter Ruhe. Bei den weiteren Zugaben aus op. 86 und 96 aber konnte wirklich jemand kein Ende finden.

Gustav Falke

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     Potsdamer Neueste Nachrichten, 17. September 1992     

   

Verinnerlichte Liedinterpretation

Dietrich Fischer-Dieskau in der Deutschen Oper Berlin und in der Deutschen Staatsoper Berlin

Dietrich Fischer-Dieskau hat ganz kurz hintereinander zwei Veranstaltungen während der Berliner Festwochen bestritten, eine als Solo-Matinee und die andere im zweiten Konzert der Staatskapelle Berlin. Fischer-Dieskau ist seit über vierzig Jahren ein Sänger der Superlative. Aus allen Bereichen der Musikgeschichte existieren von dem bedeutenden Bariton, der längst eine Legende ist, Schallplattenaufnahmen, darunter Gesamtaufnahmen der Lieder von Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss, Wolf.

"Die schöne Magelone"

In der Matinee der Deutschen Oper Berlin sang am vergangenen Sonntag Fischer-Dieskau, begleitet von dem Pianisten Gerhard Oppitz, "Die schöne Magelone", die Johannes Brahms in den Jahren 1861 bis 1869 nach Texten des Dichters Ludwig Tieck komponierte.

Alle Tugenden einer gesangskünstlerischen Gestaltung erfordern diese Romanzen, die die wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence erzählen, von ihrer traurigen Trennung und glücklichem Wiederfinden. Gewaltige und schmerzliche Ausbrüche kommen bei Fischer-Dieskau nicht mehr so zum Tragen, wie man es sich hin und wieder wünscht. Das Lyrische, die Verinnerlichung, die der Sänger seiner Liedinterpretation den Vorrang gibt, ist mir viel lieber, als jegliches Auftrumpfen in Tongebung und Gestaltung bei so manchen seiner Sängerkollegen. Die neunte Romanze "Ruhe, Süßliebchen, im Schatten" wurde absoluter Höhepunkt. Wie der Bariton in volksliedhafter Schlichtheit und beseligendem hauchzartem Pianissimo das Lied sang, wird man so schnell nicht wieder zu hören bekommen. Gerhard Oppitz konnte in dieser Matinee nicht nur seinen pianistischen Rang dokumentieren, sondern auch den eines Liedbegleiters.

Das Berliner Publikum jubelte Dietrich Fischer-Dieskau und Gerhard Oppitz von Herzen zu, so daß es gar nicht lange dauerte, bis mehrere Zugaben gewährt wurden, natürlich auch Lieder von Johannes Brahms.

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Klaus Büstrin


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