Zum Liederabend am 19. Juli 1991 in München


    

     Süddeutsche Zeitung,  22. Juli 1991     

Münchener Opernfestspiele

Manisch-depressiver Müllersbursch

Extrem kühn dramatisiert Fischer-Dieskau Schubert

     

I.

Es ist kein normales Konzert, sondern ein Ausnahmeereignis, wenn der meistbewunderte Liedsänger des Jahrhunderts Schuberts unergründlichen Zyklus "Die schöne Müllerin" vorträgt. Darum war das Münchner Nationaltheater überfüllt mit Fischer-Dieskau-Fans aus nah und fern, die gespannt, aber auch ein wenig angstvoll dem Schicksal des Müllersburschen und seines Interpreten entgegenharrten.

Angstvoll? Als Schubert-Gestalter hat Fischer-Dieskau eigentlich nur einen wirklich gefährlichen Konkurrenten. Nämlich sich selbst – wie er im Laufe der Jahrzehnte neue Standards gesetzt, neue Wege gesucht, ungeahnte Seelenbewegungen dargestellt hat. Mittlerweile ist der am 28. Mai 1925 in Berlin geborene Sänger 66 Jahre alt. Er weiß auch, daß seine Stimme natürlich einst in der Höhe reicher war, daß sie rascher, frischer, flexibler und präziser ansprach. Eines der ersten jener (nicht allzu vielen) unvergeßlichen Konzerte, die ich – gerade eben zum SZ-Feuilleton gekommen – im Herkulessaal erlebte, war 1959 Fischer-Dieskaus "Schöne Müllerin". Damals begriff der Sänger "Die schöne Müllerin" als eine Novelle aus subtilen Liedern, die trotz aller Trauer oder Erregtheit nie Maß, Form und ästhetischen Kunstcharakter verloren.

II.

Und 1991? Ist der Künstler, wie es das Alter angeblich mit sich bringt, "weiser" geworden, distanzierter, melancholischer, objektivierender? Oder wiederholt er gar bloß noch mit weniger frischen Mitteln längst Bewährtes?

Von alledem keine Spur! Fischer-Dieskau bricht demonstrativ – am Anfang wirkt es ziemlich befremdend, am Ende überwältigend – die Lieder auf. Er forciert den dialogischen Kern der Selbstgespräche, verbindet die atem- und pausenlos ineinander übergehenden Kompositionen zum Drama. Die Folge der Lieder 14 bis 18 (der ärgerniserregende "Jäger", "Eifersucht und Stolz", die Todessehnsucht der "Lieben Farbe", der hilflose Grimm auf die "Böse Farbe", die fahle Tonlosigkeit der "Trockenen Blumen") steigert der 66jährige Fischer-Dieskau zum musikdramatischen Exzeß. Das steht dem Tristan, ja der Kundry näher als – Wagner hat sich übrigens für Schubert wenig interessiert – dem Wiener Biedermeier des Vormärz. Den "Jäger" schleudert Fischer-Dieskau nunmehr als manischen, wegen aberwitzigen Tempos kaum verstehbaren Wutausbruch heraus. Früher hat er, man kann es in der Aufnahme von 1961 mit Gerald Moore hören, den "Jäger" wie das überlegene, hämisch-spöttische Lied eines wegen seines Nebenbuhlers leicht verunsicherten Liebhabers vorgetragen. Keine Rede mehr von "gepflegter Liedkunst". Fischer-Dieskau, der Lied-Regisseur manisch-depressiver Exzentriker.

III.

Gesangspädagogen und Stimmfetischisten dürften angesichts solcher Exzesse die Frage stellen, ob das denn "noch Schubert" sei. Wissen sie wirklich so genau, bis wohin man bei Schubert zu weit gehen kann? Arrau, Brendel, Affanassiew und eben Fischer-Dieskau haben uns eines Unheimlicheren belehrt. Sicher läßt sich einwenden, der reife Fischer-Dieskau mache aus der Not eine Tugend. Zugegeben: Weil ihm die strömende Schönheit nicht mehr wie früher zu Gebote steht, bietet er das erste heiter-behagliche Lied als eine (auch was Intonation betrifft) ziemlich anfechtbare und forcierte Demonstration von Aufgeräumtheit und Heiterkeit. Das gilt gleichfalls fürs Lied Nr. 3 "Halt!". Doch ist eine Tugend, welchen Umständen sie sich auch verdanken mag, nicht etwas Positives?

Der dramatisierenden Tugend des Künstlers haben wir zu danken, daß lebendige Einzelheiten der Lied-Selbstgespräche unvergleichlich plastisch herauskommen. Daß die "Thränen" bereits erstaunlich früh als Leidmotiv und daß alle Erwähnungen des "grün" als Ausdruck einer Neurose erfühlbar werden.

Mit der "Pause" beginnt bei Fischer-Dieskau die Katastrophe: Deshalb nimmt er sie enorm langsam – dafür danach übergangslos das "grüne Lautenband" zwangsneurotisch verhetzt. Erstaunlicherweise halten die Matthias-Claudius-haft schlichten, treffsicheren Verse Wilhelm Müllers es ohne weiteres aus, auch als Momente eines Seelenkrimis zu erscheinen. So erbrachte Fischer-Dieskaus produktive Neugier eine Interpretation der "Schönen Müllerin", die gewiß manchmal sehr anfechtbar war ("Mein" ist dem Künstler nur über kluges Forcieren erreichbar), aber eben doch neu, aufregend und in ihrer Wahnsinns-Konsequenz unwiderstehlich. Das Publikum dankte mit frenetischem Applaus, in den der Begleiter Hartmut Höll, der subtil und keineswegs bloß passiv sekundierte, respektvoll einbezogen wurde.

Joachim Kaiser

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     Münchner Merkur, 22. Juli 1991     

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

   

Ein bloßer "Nachklang" früherer Gestaltungsgröße war Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend im Münchner Nationaltheater keineswegs. Auch wenn jenes Charakteristikum, das Wilhelm Müller seiner "Schönen Müllerin" einleitend voranstellt, "das ist ein junger, bloder Müllersknecht", auf den 66jährigen Dieskau nur mehr bedingt zutrifft, ist dessen interpretatorische und stimmliche Überzeugungskraft doch nach wie vor ungebrochen. So wurde in der nahezu ausverkauften Staatsoper aus einer Stunde Schubert-Gesang ein großer Abend.

Es spricht für Dieskau, wenn er zu Beginn des Liederzyklus’ darauf verzichtet, den jugendlichen Stürmer und Dränger zu mimen. Vielmehr schlug er sich von Beginn an auf die Seite der prophetisch-geheimnisvollen Mollanklänge, die der Notentext ja schon im zweiten Lied "Wohin?" bereithält. Zwar hätte dem liebestrunkenen "Mein!", aber auch dem ungestümen "Ungeduld" ein wenig mehr Aplomb nicht geschadet. Doch Dieskau suchte die Intensität nicht an der Oberfläche, sondern konzentrierte sich auf die Innenschau, bezog sich weniger auf den Text als vielmehr auf die Musik, die mehr weiß.

Dabei hatte er zu Beginn des Konzerts jedoch ein paar Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, bis sich Stimmglanz, Phrasierung und Deklamation zu einer Einheit zusammenschlossen. Die spielerische Tristesse des "Tränenregen", die verhangene Heiterkeit von "Mit dem grünen Lautenbande" oder die energische Bitterkeit von "Die liebe Farbe" wie der ganze traurige Schlußteil wurden in Dieskaus Interpretation zu bewegenden Seelengemälden. Keine Gefühlsduselei in Öl oder verwaschenem Aquarell, sondern Bleistiftstudien von bestechender Detailklarheit, die Hartmut Höll auf dem Klavier hellwach akzentuierte.

Robert Jungwirth

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     Münchner Abendzeitung, 22. Juli 1991     

Altersweiser Schelm

Nationaltheater: Fischer-Dieskau sang Schubert

   

Reformator der Liedgestaltung, lebende Legende – Schlagwörter für einen der ganz Großen seines Faches: Dietrich Fischer-Dieskau sang im Nationaltheater "Die schöne Müllerin" von Franz Schubert. Am Flügel Hartmut Höll.

Seine intellektuelle Kraft erlaubt Dietrich Fischer-Dieskau einen Gestaltungsansatz, der außergewöhnlich und anzweifelbar zugleich ist: Nicht die persönliche Verstrickung in Freud und Leid des Müllerburschen, sondern das von außen kommende Mitgefühl des altersweisen Chronisten prägt seine Interpretation. Wie souverän er dabei die innere Linie des Zyklus verfolgt, mit welch traumhaften Piani er das Elend des gebeutelten, einfachen Gemüts illustriert, zeugt nach wie vor von absoluter Extraklasse. Beeindruckend frisch der kräftige Bariton, bestechend die Vielzahl der virtuos gehandhabten Stilmittel.

Gerade diese Fülle aber und ihr verschwenderischer, ja überpointierter Einsatz ließen den Abend in eine befremdende Künstlichkeit abgleiten: Sollte Dietrich Fischer-Dieskau die historische Basis des Gedichtzyklus – er war von Müller ursprünglich als Parodie auf den spießigen Volkston gedacht – zu sehr verinnerlicht haben?

Schuberts musikalische Überhöhung jedenfalls blieb zeitweise auf der Strecke und wich einer schelmischen Vordergründigkeit. Hartmut Höll, durch den mitunter verhetzten Duktus an der Entfaltung seiner pianistischen Möglichkeiten gehindert, war ein treusorgender Begleiter – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Lucretia Lackner

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     tz, München,  22. Juli 1991

Eine Sternstunde

   

Er ist halt doch der Größte. Wie alter Wein zur Kostbarkeit wird, so reift Dietrich Fischer-Dieskaus Liedkunst ihrer Einmaligkeit entgegen.

Im Nationaltheater (voll bis unters Dach) ließ er die Müllersche Liebeslyrik nicht nur zum Schubert-Glück, sondern sogar zum literarischen Erlebnis werden. Das "Böse Mägdelein", die "Schöne Müllerin" rührten im Ausdrucksambiente Fischer-Dieskaus diesmal Herz und Verstand so sehr, daß man am liebsten still und wehmütig-beglückt das Haus verlassen hätte. Daß dem nicht so war, daß das reich beschenkte Publikum nach Zugaben verlangte, ist selbstverständlich. Aber Fischer-Dieskau blieb sich und seiner "Müllerin" treu.

Die "Alters"-Stimme des Meisters aller (Lied-)Klassen ist rank und schlank wie er selbst, das Piano fast ein Selbstgespräch. Seine Mimik scheint aus der jeweiligen Ausdruckspalette (sie ist fast grenzenlos) zu schöpfen, der allwissende Blick zum dienstbaren Geist am Flügel (kann Hartmut Höll überhaupt noch mit einem anderen Sänger?) bewirkt weitaus mehr als nur Einverständnis. Das bei ihm oft allzu Artifizielle ist sensibel-einfacher Innigkeit gewichen.

Unser aller "FiDi" lebt als Liedgestalter bereits da, wo nach Nietzsche die Luft dünn und rein, der Höhen-Wanderer allein und doch so nah am Menschlichen ist.

Eine Sternstunde dieser Opern-Festspiele, die heuer anscheinend besonders im Liedbereich künstlerische Höhepunkte setzen.

E. Lindermeier

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