Zum Liederabend am 15. November 1990 in Stuttgart


     Stuttgarter Zeitung, 19. November 1990     

Das große Drama des Liedgesangs

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schumann und Wolf in der Stuttgarter Staatsoper

     

Er kommt als Gentleman. Und auch als Grandseigneur. Groß und stattlich, mit feinem Lächeln. Dietrich Fischer-Dieskau legt die rechte Hand auf den Flügel seines Partners Hartmut Höll, sammelt sich, beugt den Oberkörper ein wenig vor und beginnt: "Mein Wagen rollet langsam." Sechzehn Zeilen, wenige Minuten dauert das Lied. Für andere Sänger wäre diese Petitesse lediglich ein Auftakt, ein flüchtiges Rauschen – und vorbei. Dietrich Fischer-Dieskau nimmt sich Zeit, obwohl sein Wagen ziemlich hurtig daherrollt. Ein paar Sekunden braucht er nur, um seine Zuhörer in die richtige Stimmung zu versetzen; dann sind sie gefangen. Und wenn man ihn anschaut, dann sieht man auch die Schattengestalten, die der Reisende im Wagen erblickt. Als sie vorbeihuschen, flackern die nußbraunen Eichhörnchenaugen des Sängers ein wenig. Eine kleine Irritation, die Pointe mit der Mimik erzählt: ein schöner Witz.

Dietrich Fischer-Dieskau gestaltet den Liederkreis op. 24 und die "Dichterliebe" von Robert Schumann als ein großes Ganzes, fast ohne Unterbrechungen zwischen den einzelnen Liedern. Jedes für sich betrachtet ist ein kleines Drama – eine sehnsüchtige Erinnerung und auch eine Komödie der Seelen. Die ebenbürtig klugen Musikanten Höll und Fischer-Dieskau machen daraus ein großes Stück Theater, verspielt und ernst, mit enormen Stimmungs- und Tempiwechseln, alles aus einem Guß.

[...]

Mirko Weber

__________________________________

    

     Stuttgarter Nachrichten, 17. November 1990     

Fischer-Dieskau/Höll mit Schumanns Heine-Liedern in der Oper

Nur wer die Demut kennt

   

Auf ihrer dreiteiligen Tour d’horizon durch das Liedschaffen des 19. Jahrhunderts haben Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll in der Stuttgarter Staatsoper die zweite Etappe erreicht. Nach Schubert nun also Schumann: die Gesänge des Liederkreises op. 24 sowie die "Dichterliebe". Anstelle der anrührend naiven Reimereien Wilhelm Müllers diesmal Heinrich Heines Formulierungskunst, Sprachwitz und distanzierende Ironie: Wechselbäder der Gefühle, bei denen sich der Schmerz nicht selten der Anteilnahme durch Zynismus entzieht, um nur ja keine Sentimentalitäten und Vertrautheiten aufkommen zu lassen. Sicher die größere Herausforderung für einen Komponisten. Und nicht umsonst zählen gerade Schumanns Heine-Lieder zu seinen ausdrucksstärksten, gelungensten.

Nicht minder groß ist aber auch die Herausforderung für die Interpreten, weil diese Lieder durch ihre jähen Stimmungswechsel noch höhere Anforderungen an Konzentration und Charakterisierungskunst stellen und stimmlich zudem oftmals in gefährliche Bruch-Bereiche führen. Es ist Fischer-Dieskaus Geheimnis, wie er diese Schwierigkeiten und Klippen auch heute noch meistert. Mit technischer Perfektion allein läßt sich diese bewundernswerte Leistung nicht erklären. Diese phänomenale, zuverlässige Technik steht bei seinen Wiedergaben nie im Vordergrund. Sie ist lediglich ein Mittel zum Zweck.

Unmittelbarer, offensiver, beteiligter gestaltet er die beiden Liedfolgen. Die ungeheure Intensität seiner Wiedergaben schlagen in Bann. Fremder Schmerz, fremde Resignation und Trauer lassen nicht kalt, sondern rühren an. Drangvoll jagen einander die Bilder und Empfindungen, oftmals ohne Pause, schlagen die Stimmungen um: Aus gehauchter Glückseligkeit wird unvermittelt der Aufschrei einer gequälten Kreatur. Fischer-Dieskaus Wiedergaben sind von bezwingender Imaginationskraft. Eigene Erfahrungen und die daraus resultierende Demut ermöglichen die Identifikation, verhelfen ihm wiederum zu Wahrhaftigkeit. Momente der größten Distanz und Einsamkeit sind zugleich die größtmöglicher Nähe. Eine Geste des Arms, ein Heben der Augenbrauen, ein Schritt nach vorn und aus dem kleinen Lied wird durch Fischer-Dieskaus Kunst der Gestaltung großes, wahres, bewegendes Welttheater, ein Gesamtkunstwerk.

Auch dieser Abend bezieht seine nachhaltige Wirkung aus der unglaublichen Übereinstimmung und Seelenverwandtschaft zwischen dem Sänger und seinem Partner am Klavier, Hartmut Höll. Mit Höll ist die Klavierbegleitung in ein neues Stadium getreten. Sein Spiel erschließt Gefühlsbereiche, in die eigentlich nur die menschliche Stimme vorzustoßen vermag. Am Schluß glich der Flügel einer Blumenwiese, wollten die Bravo-Rufe, der stürmische Beifall kein Ende finden. Sechs Zugaben verlängerten das Programm fast noch einmal zur Hälfte.

Spätestens mit dieser Folge von Liederabenden haben die Aktivitäten der Hugo-Wolf-Gesellschaft und insbesondere ihres Vorsitzenden Hartmut Höll Stuttgart zum Zentrum der Liedpflege in Deutschland gemacht. Stadt und Land sollten diese Tatsache endlich durch eine adäquate Subventionierung honorieren.

Dieter Kölmel

zurück zur Übersicht 1990
zurück zur Übersicht Kalendarium