Zum Liederabend am 19. September 1989 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 21. September 1989     

Dietrich Fischer-Dieskau bot Schuberts "Winterreise"

   

Dietrich Fischer-Dieskau beginnt mit der "Winterreise", und sofort spürt man seine tiefe Verbundenheit mit jedem Wort und jedem von Schuberts Tönen. Keine Faser und kein Winkel des Liederzyklus’ sind ihm fremd, und doch belebt er das Vertraute, fernab von Routine, immer wieder neu. Leid, Schmerz und Todessehnsucht macht er in vielen Facetten hörbar. Zwischen der nostalgischen Intimität des "Lindenbaums" und dem trotzigen Aufschrei "Mut" findet er hundert verschiedene Grautöne für die düsterfarbenen Lieder. Kleine Stimmschwächen gleicht Fischer-Dieskau mit perfekter musikalischer Intelligenz und Sensibilität aus.

Die Festwochen haben ihn einmal wieder mit Alfred Brendel in der Philharmonie zusammengeführt. Gemeinsam unternahmen sie die "Winterreise" sehr erfolgreich, auch wenn Brendel seinem Partner nicht gerade jede Tonnuance von den Lippen abliest.

Brendel legt aber den farbigen, geschmackvollen Nährboden an, auf dem sich Fischer-Dieskaus Gesangskunst voll entfaltet. Er läßt auf dem Klavier nicht nur das Posthorn klingen, Schneegestöber und kalte Winde rauschen. Er schafft dichte Atmosphäre, zittert, flüstert, lockt, höhnt und wütet in erstaunlichen Variationen und ist für seinen Partner eine ständige Quelle der Inspiration.

Am Ende der Reise gelangten die beiden Künstler in einen heftigen Beifallssturm.

Martina Helmig

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     Tagesspiegel, Berlin, 21. September 1989     

Im Bannkreis Schuberts

"Winterreise" mit Fischer-Dieskau und Brendel

    

Ein Schubert-Abend Dietrich Fischer-Dieskaus, ein Schubert-Abend Alfred Brendels – aus diesem interpretatorischen Spannungsfeld bezog die gemeinsame Aufführung der "Winterreise" durch die beiden Künstler ihre überwältignde Wirkung. Die Frage, ob dieser "Kranz schauerlicher Lieder" in den Konzertsaal gehöre oder "für sich" zu singen sei, erübrigt sich, wenn es gelingt, die 2200 Menschen, die die Philharmonie faßt – vielleicht waren es mehr -, in eine konzentrierte "Schubertiade" einzubinden. Das heißt, daß vor großer Öffentlichkeit das "Unöffentliche" der Musik, die Schubert selbst nur im eingeschworenen Freundeskreis vorgetragen, aber eben doch mitgeteilt hat, als kompositorisches Herkunftsland fühlbar bleibt. Ein Festwochenkonzert der außerordentlichen Art, das mit langen Ovationen schloß.

Der Schubert-Interpret Alfred Brendel, der den Zyklus mit Fischer-Dieskau schon 1979 für das SFB-Fernsehen eingespielt hat, zu schweigen von gemeinsamen Schallplatten, setzt im Live-Konzert Zeichen eines unpathetischen Ausdrucks, der vom Sänger reflektiert, beantwortet, gewandelt wird. Gerade die Nähe des Klavierparts zum Gesang, der hier, so der Schubert-Forscher Georgiades, auch als dessen Stellvertreter fungieren könne, macht den Austausch bis in die Nuance spannend. Führend bei der Gestaltung des übergreifenden Zyklusbogens ist der Pianist, weil er nach genauem Plan Zäsuren zwischen den Liedern zuläßt oder meidet. Dies dient dem Ziel, die inhaltliche Einthematik – abgeschlossenes Leben, Isolierung, Wandern in Eis und Schnee – um so intensiver erfahrbar zu machen, das eine Lied im anderen nachleuchten zu lassen.

So leitet das Nachspiel der "Wetterfahne", in der der Dichter Wilhelm Müller die soziale Situation – der Flüchtling, die "reiche Braut" – beim Namen nennt, in das Pianissimo-Staccato der "Gefrornen Tränen" über, der gemeinsame Duktus des Sängers und des Pianisten in "Erstarrung" zum aufhellenden Präludieren des "Lindenbaums", der "heiße Stich", den der Wanderer in "Rast" fühlt, gibt der Gustav Mahler vorausahnenden Heimweh-Insel des "Frühlingstraums" Raum. Dem "Winter kalt und wild" begegnet die freundliche "Täuschung": der Sänger hielt sich, emotional sehr zurückgenommen, an die Pianoanweisung des Klavierparts.

Dietrich Fischer-Dieskau und die "Winterreise", eine Verbindung, die Synonymcharakter hat. Seit über vierzig Jahren beschäftigt sich der Sänger mit dieser "größten Herausforderung", um sie immer wieder erneut und ernuernd anzunehmen. Repertoireeinseitigkeit wird ihm dabei niemand vorwerfen können, da er wahrscheinlich mehr Uraufführungen mit seinem Interpretennamen verteidigt hat als jeder andere Musiker der Gegenwart. Wo ein großer Pianist wie Alfred Brendel, der auch im anschmiegsamen Sinn Begleiter ist, mit seinem Ernst anregend einwirkt, bleibt Fischer-Dieskau von der stimmlichen Andeutung des Wesentlichen bis zum mit aller ehrlichen Energie erfüllten explosiven Ausbruch ("Auf dem Flusse") für Beweglichkeit offen. Es gibt Wörter des Wortinterpreten, die so betrachtet nachklingen. Die verzweifelt-resignierte Betonung "Daß die Welt so licht!" zum Beispiel.

Der Ton seiner empfindsameren Baritonlyrik traf im "Leiermann" auf die eher unerbittliche, in ihrer Floskelhaftigkeit über der leeren Quinte fast klirrende Begleitung des Klaviers. Wie diese beiden Haltungen einander ablösend ineinandergingen, das machte den Reiz solcher Interpretenbegegnungen greifbar.

Sybill Mahlke

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     Volksblatt, Berlin, 21. September 1989     

Dietrich Fischer-Dieskau und Alfred Brendel in der Philharmonie

Unübertroffen in Spannweite und Kontrasten des Ausdrucks

   

Wie oft hat Dietrich Fischer-Dieskau in mehr als vierzigjähriger Sängerlaufbahn Schuberts "Winterreise" gesungen? Wie oft hat man ihn, live oder in verschiedenen Einspielungen, mit dem Zyklus gehört? Man muß es nicht zählen. Es genügt die Feststellung: an interpretatorischer Durchdringung kommt Fischer-Dieskau niemand gleich.

Von keinem anderen erfährt man so viel über die Sehnsucht, die als romantisches Grundgefühl diese Lied-Novelle durchdringt, über die Liebe als Krankheit zum Tode. Mit Alfred Brendel als Partner schärfte er in der überfüllten Philharmonie die Nuancen.

Dramaturgisch war die "Winterreise" zur Ballade gerafft. Sänger und Pianist versagten sich und dem Publikum nicht nur die Pause, sie duldeten auch zwischen den einzelnen Liedern kaum eine Unterbrechung.

Wunderbar bewährte Brendel die Kunst, Nachspiele sich aussingen zu lassen und, in fast unmerklichem Übergang, durch Vorspiele neugierig zu machen. Huster hatten weniger Chancen als sonst.

Mancher kommt sich als Kenner vor, wenn er Fischer-Dieskau attestiert, sein Bariton sei nicht mehr so "frisch" wie einst. Aber blassere Farben sind für die Stimme eines mehr als Sechzigjährigen die pure Selbstverständlichkeit und sogar ein charakteristischer Gewinn.

In der Spannweite und den Kontrasten des Ausdrucks, in den Extremen bassistischer Sonorität oder hauchenden Falsetts, in der Skala vom Empfindsamen bis zum Sarkastischen bleibt Fischer-Dieskau unübertroffen.

So – um wenigstens ein Beispiel zu nennen – in der Schlußstrophe von "Auf dem Flusse", wo er Empfindsamkeit, Verzweiflung, leidenschaftliches Aufbegehren, Resignation und Innigkeit abwechseln und ineinander übergehen läßt. Ergriffener Beifall.

Hans-Jörg von Jena

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