Zum Liederabend am 8. Oktober 1986 in Frankfurt/Main


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 1986

Singen als tönendes Ausatmen

Dietrich Fischer-Dieskau mit Schubertliedern im Mozart-Saal

Dem herkömmlichen Typ des Liederabends mit einer bunten Mischung kleiner Liedgruppen hat Dietrich Fischer-Dieskau früh in seiner Laufbahn ein auf einen einzigen Komponisten begrenztes Programm entgengesetzt. Neuerdings weitet er eine Folge mehrerer derartiger Abende zur kunstvoll gefügten Großform; auch in dieser Saison begann er nun im Mozart-Saal der Alten Oper einen Dreiteiler mit späten Schubert-Liedern.

Diese Thematik, der sich Fischer-Dieskau gleichsam in Jahresringen näherte, bestimmte den Abend. Lyrische Einheit von Welt und Ich wie in "Nacht und Träume" oder "Im Frühling" bildeten so beglückende Lichtpunkte, die das Duo mit allem kantablen Charme gestaltete, ähnlich das genrehafte "An die Laute" mit delikatester Staccato-Lautmalerei Hartmut Hölls.

Bezauberte musikalisch der Farbenreichtum zwischen Piano und Pianissimo, so bestimmten dunkle Töne die expressiven Höhepunkte, etwa im "Herbst" oder im "Winterabend". Hier wie im "Zügenglöcklein" mit seiner ostinaten Tonwiederholung im Diskant trug der Klavierpart wesentlich zur atmosphärischen Verdichtung bei.

Stets von neuem bewundern muß man die stimmliche Ökonomie, mit der der Sänger noch heute ein derart konsequent "komponiertes" Programm durchsteht, ohne sich spürbar zurückzuhalten. Allenfalls im Fortebereich, in Verbindung mit strapaziösen Sprüngen, werden Grenzen hörbar, etwa im Lied "Auf der Bruck", bei dem der Pianist den Sänger durch Dauerrepetitionen bedrängt. Insgesamt freilich erzielen die Partner über Generationengrenzen hinweg einen Gleichklang, der zumal der Sensibilität Hartmut Hölls ein glänzendes Zeugnis ausstellt.

Im Laufe des Abends gewann der Gesangston an unforcierter Natürlichkeit, die einen das Singen als selbstverständliche Lebensäußerung, als gleichsam tönendes Ausatmen erfahren ließ ("Am Fenster"). Köstlich die Skala mimisch-gestischer wie klanglicher Zwischentöne: zunächst in "An Silvia", sodann in den Zugaben, im "Fischermädchen", in "Geheimes", unnachahmlich zuletzt im "Abschied".

GS


  

     Frankfurter Neue Presse vom ? Oktober 1986     

Des Fischers Liebesglück mit Dieskaus Schubert

    

Die Kraft dieser Stimme glüht wie am ersten Tag. Wenn der 60jährige Dietrich Fischer-Dieskau singt (das Alter darf genannt werden, es wird nicht verheimlicht), dann heben sich die Töne so leicht, so frei, so kantenrein wie in den jungen Jahren. Diese Einheit von Kunstverstand und Technik, von Einsicht und Gefühl – wie oft hat man das gehört, wie vielen ist das geschenkt?

Dem späten Schubert zwischen 1825 und 1828 war das erste von drei Sonderkonzerten der Alten Oper Frankfurt gewidmet, Lieder in Erfahrungen der Nacht getaucht (wie in der 1. Gruppe) oder die von allerlei Glückseligkeiten künden und dennoch den Hörer nicht unbeschadet lassen (2. Gruppe). Unversehens rückt das Konzert ins Bewußtsein, wie stark das Schubert-Bild von Generationen durch Fischer-Dieskau geprägt worden ist.

Schubert zwischen den Extremen der nächtlichen Seelenschauer und der Sonnenwärme des Tages, von Melancholie beschattet, von verzweifelten Utopien getrieben: solche Botschaften, stets von höchstem Kunstwillen bestimmt, begannen für uns gerade mit Dietrich Fischer-Dieskau. So zieht dieses Konzert auch die Summe eines langen Wegs mit Schubert. Und öffnet den Blick: nicht mehr so überscharf wie ehedem, sondern abgründiger, das Frühlingsblau des Himmels nicht mehr so blendend, sondern mit milder Reife erwärmt, die Klage nicht mehr so fordernd, sondern mit wissender Trauer gesättigt.

Welche Lieder da nennen? Die geheimnisvolle Ferne des "Abendstern"? Den winzigen Sprung vom Gram zum Trost, der in "Des Sängers Habe" Räume durchmißt? Die unerhörte Natürlichkeit, mit der der "Kreuzzug" mit seinem "Münich" geformt wird? Höhepunkte schienen aber "Des Fischers Liebesglück", von einer unergründlichen Schönheit, die in der Tat von der Erde abhebt, und der so glücksgesättigte, sehnsuchtssanfte "Winterabend". Nicht nur in diesen Momenten trägt Hartmut Höll am Klavier die Spannungen der Musik kongenial mit, erinnert sei nur an die ausgeprägten Strophen "Im Frühling" oder an die wundervollen Schwingungen der "Alinde" (ohnehin ein Kabinettstück des Abends).

Jubel am Ende im ausverkauften Mozartsaal. Und Zugaben wie Heines "Fischermädchen" oder Goethes "Geheimes" und "Meeres Stille", in der Unendlichkeit zu Musik gerinnt. Und schließlich unüberhörbar der "Abschied" an die muntere, fröhliche Stadt: Schwanengesang.

Rudolf Jöckle

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