Zum Liederabend am 13. September 1986 in Berlin


    

     Der Tagesspiegel Berlin, 16. September 1986     

Lied und Musikdrama

In der Deutschen Oper: Fischer-Dieskau, "Götterdämmerung"

     

Lieder von Johannes Brahms bieten für literarische Seminare weniger Anlaß als die Gedichtvertonungen anderer großer Liedmeister. Indem bei Brahms das Wort die Musik, das musikalische Seelenbild auslöste, begab es sich unter deren Gesetz. Die Autonomie der Komposition, die die kostbare Tiefe der Harmonien, die gesungenen Doppelschläge, das Scarlatti- oder Choralzitat trägt wie Märchen aus alter Zeit, sucht einen anderen Liedinterpreten als den Barden oder auch den "sagenden Sänger" im Sinn Schubert/Goethes.

Insofern war der Abend mit ausgewählten Liedern von Brahms, den Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll als zweites Konzert ihrer derzeitigen Serie in der Deutschen Oper Berlin gaben, Kammermusik auf sensibler Höhe. Der pianistischen Kultur Hartmut Hölls, des bei dieser Begegnung werkgemäß gleichrangigen musikalisch-interpretatorischen Partners, entsprachen klangliche Schönheiten der Gesangsstimme, zumal im wohl noch entwickelten Tiefenregister, die den Sänger in seiner Bestform zeigten. Und wenn es aus der Stimmung dieses Konzerts heraus nach der unmißverständlich letzten Zugabe, der "Feldeinsamkeit", zur Solidaritätskundgebung momentanen rhythmischen Klatschens kam, so bleibt wiederum bemerkenswert, daß es ja doch keine sich anbiedernde, sondern eine beharrlich-esoterische Kunst ist, mit der solche Siege errungen werden.

Das Programm setzte mit zwei Liedern nach August Wilhelm von Platen aus Opus 32 ein, beginnend mit dem düsteren "Wie rafft ich mich auf in der Nacht", und gelangte über Beispiele aus den Opera 48, 49, 59, 69, 71, 72, 85, 86, 95, 96 zu spätesten Gesängen aus Opus 105 und Opus 107. Ein Kompendium aus dem lebenslangen Liedschaffen von Brahms, wurde es einheitsstiftend auch in der Darstellung genommen; bei den thematisch zusammenhängenden Heine-Liedern "Sommerabend" und "Mondenschein" aus Opus 85, die ohne Zäsur aufgeführt wurden, war das Geben und Nehmen von Klavierpart und Gesangslinie besonders deutlich.

Aber auch die Detlev-von-Liliencron-Lieder "Auf dem Kirchhofe" aus Opus 105 und "Maienkätzchen" aus Opus 107 erklangen interpretatorisch verbunden, unter einem Bogen vereint, so daß Vergangenheit auf mehrschichtige Weise beschworen wurde; dem nach Dur sich wendenden Todesstück "Der Tag ging regenschwer" antwortete das schlichtere Altersbild menschlicher Selbstbescheidung "Maienkätzchen, erster Gruß". Die lyrische Ganzheit der Brahms-Lieder aber war stets gegenwärtig, weil sich musikalische Konturenschärfe und Genauigkeit – nicht zuletzt des Klavierparts und nicht nur in den Vor- oder Nachspielen – mit Klangpoesie verband.

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Sybill Mahlke

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     Zeitung und Datum unbekannt     

Ovationen für Fischer-Dieskau

Bariton begeisterte mit Brahms-Liederabend in der Deutschen Oper Berlin

  

Selbst nach der fünften Zugabe fanden die Ovationen kein Ende. Dietrich Fischer-Dieskaus Popularität ist in Berlin seit fast 40 Jahren ungebrochen. Er widmete seinen zweiten Liederabend an der Deutschen Oper – nach Schubert und vor Wolf – dem Komponisten Johannes Brahms.

Ihn hatte der Berliner Weltstar bei seinen Abenden in der vergangenen Spielzeit ausgespart. Dafür stellte er jetzt ein besonders apartes Programm ausgewählter Lieder zusammen. Chronologisch geordnet von op. 32 bis op. 107 zeichnet er nicht nur ein Stück von Brahms’ kompositorischer Entwicklung nach. Fischer-Dieskau liebt es auch, die Textdichter verschieden zu beleuchten. Candidus: empfindsam und derb; Liliencron: gespenstisch und heiter.

Doch die intelligente Auswahl lebt erst durch Fischer-Dieskaus akribische Gestaltungsfreude auf, die mit höchster Konzentration vom ersten bis zum letzten Ton jedem Lied seine höchst eigene Färbung gibt. Spannende, tragische, seltener auch muntere und gröbere Texte zelebriert er mit einer Intensität., als wären es seine eigenen Worte. Affekte durchdringen einander. In der verhaltenen ersten Strophe des "Herbstgefühls" schwingt das "Schauern" der zweiten bereits mit und klingt selbst am stillen Ende des Liedes noch nach.

Entscheidend hat Hartmut Höll zum Gelingen des grandiosen Abends beigetragen. Der junge Pianist ist mehr als ein Begleiter, ein selbstbewußter Mitspieler, sensitiv und verantwortungsvoll.

M. H.

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