Zum Liederabend vom 2. September 1986 in Berlin


     Der Tagesspiegel Berlin, 4. September 1986     

Von neuem Schubert

Dietrich Fischer-Dieskau mit Hartmut Höll in der Deutschen Oper

     

"Alle Schubert-Lieder für Männerstimme auf 29 Schallplatten": Was kann der so in Jahrzehnten dokumentierten und von Konzerten in aller Welt begleiteten Auseinandersetzung mit einem Komponisten auf einem Sektor seines Schaffens Wesentliches hinzugefügt werden? Ein Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus zum Beispiel im ausverkauften Haus der Deutschen Oper Berlin, dessen Programm "Lieder der letzten Jahre" von Franz Schubert enthielt.

Die existentielle Freude daran, daß der Stimme noch immer alles möglich ist, enthob die Zugabenserie scheinbar jeglicher Mühe: das "Schwanengesang"-Lied "Du schönes Fischermädchen" oder "Über meines Liebchens Äugeln", mit Heinrich-Heine- beziehungsweise Goethe-Texten ohnehin Vertonungen "größerer" Dichtung als die ganze vorangegangene Vortragsfolge, schillerten wie die ironisch besungene Perle in der Herzenstiefe des Sängers: fast listiger Meistergesang, mit Lust am Musikalisch-Technischen, aber unvergleichlich sensibilisiert für die Brechungen von Scherz und Ernst, wie sie in dem Gedicht aus dem "West-östlichen Divan" stecken. Die rattenfängerische Situation, die bei den Zugaben entstanden war und des Sängers legitime Habe ist, führte schließlich zum einvernehmlichsten Heiterkeitserfolg, als Fischer-Dieskau den "Abschied" intonierte: "Ade! Du muntre, du fröhliche Stadt, ade!" Weitere Festwochenauftritte in Oper uind Konzertsaal stehen an.

"Des Sängers Habe" ist in dem späten Schubert-Lied auf ein Gedicht von Franz Xaver Freiherr von Schlechta (1796-1875) eine Zither, die für seine schöpferische Existenz steht; es geht also nicht nur um den singenden Musiker, den Interpreten, der etwas vorträgt, sondern, wie etwa auch im Fall von Goethes Harfner aus dem "Wilhelm Meister", um den Sänger als Dichter, die Ganzheit des sagenden Sängers, von der Thrasybulos Georgiades in seinem Schubert-Buch spricht.

Bei dem Baron von Schlechta kommt es nach trotzigem Liedbeginn zu den träumerisch-heiklen Zeilen "Und statt eines Leichensteines / stellt die Zither auf mein Grab"; und Fischer-Dieskau versteht sich darauf, solchem Ausschwingen musikalisch-poetischer Gedanken sehr unsentimental zu begegnen, in einem merkwürdigen Schwebeton zwischen Mitteilung und Identifikation als "sagender Sänger". Das gilt auch für die Schlüsse von Gedichten Karl Gottfried von Leitners (1800-1890), die ein Genrebild ("Ein Münich steht in seiner Zell") ins Allgemeine ("Des Lebens Fahrt ... / in das gelobte Land") transponieren. Mit weiterer Lyrik von Johann Mayrhofer, Ernst Schulze, Johann Gabriel Seidl, Johann Friedrich Rochlitz, Ludwig Rellstab war es somit ein Schubert-Abend der vielfach ungenutzten, mitunter spröden Pfade. "Nacht und Träume" nach Matthäus von Collin allerdings holte mit der interpretatorischen Paarung von äußerster Konzentration und Ruhe die Gesangskunst in die Sphäre des allgemein Bekannten (nicht: Bequemen!) zurück, wie auch unter anderem "An Sylvia" nach Shakespeare, übersetzt von Eduard von Bauernfeld.

Der Pianist Hartmut Höll, der die führende Klaviermelodie im Schluß des "Kreuzzugs" nach Leitner gleichsam als zweite Stimme des Sängers lyrisch verinnerlichte, hätte seiner Neigung zu strukturbewußtem Schubert etwa mit der Baßstimme des "Sylvia"-Liedes noch mehr nachgeben können. Gerade bei einem Sänger wie Fischer-Dieskau (und selbst wenn dieser sich gelgentlich auf musikalische Andeutung zurückzieht) darf der Pianist so frei sein, den Klavierpart als "selbsttätiges Zauberkästchen" (Georgiades) zu behaupten. Hartmut Höll zeigte dazu wiederum vorzügliche Mittel.

"Ich schaue / Mit Sehnen ins Blaue / Der Wellen / Und grüße den hellen / Gespiegelten Strahl" – solche empfindsamen Verse (von Karl Gottfried von Leitner) mutete Fischer-Dieskau sich und seinem Publikum zu, weil sie in einem besonders reizvollen Nachtstück von Schubert mit scheinbar unendlich nachklingender Melodie stehen. "Des Fischers Liebesglück" – laut Fischer-Dieskau in seinem Buch über Spuren der Schubert-Lieder "viel zu wenig gesungen".

Sybill Mahlke

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