Zum Liederabend am 30. August 1986 in Salzburg


     Salzburger Nachrichten, Datum nicht bekannt     

Die große Bestätigung

Dietrich Fischer-Dieskau sang Mörike-Lieder von Hugo Wolf

     

Vor vierzehn Jahren sang der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau im Großen Haus ein Wolf-Programm mit einer Auswahl aus den insgesamt 53 Mörike-Liedern. Weit über die seinerzeit noch weitum akzeptierte Funktion der anstelligen musikalisch-pianistischen Ordonnanz hinaus, sozusagen als kongenialer Mitgestalter nervöser Sprachmusik, entwickelte Sviatoslav Richter in den Vorspielen die wesentlichen Charaktere und hob den Klavierpart, etwa im pianistischen Glutofen der "Feuerreiter"-Ballade, auf höchstes Konzertniveau. Ein Jahr später gastieren die beiden Interpreten mit dieser Wolf-Selektion in Innsbruck. Von diesem ebenso denkwürdigen Konzert wie jenem bei den Salzburger Festspielen liegt ein Mitschnitt auf Schallplatten vor, der dem interessierten Hörer eine Fülle von Anregungen und Hinweisen über deklamatorische und koloristische Einzelheiten in den Auffassungen zweier nachschöpferisch schier aufopferungsvoller Musikerpersönlichkeiten gibt. Dies alles ist aber auch deshalb von Bedeutung über den Tag hinaus, weil Fischer-Dieskau nun im letzten Liederabend der Festspiele 1986 – mit kleinen, unbedeutenden Abweichungen – auf die Mörike-Folge der frühen siebziger Jahre zurückkam.

Wie damals – jetzt freilich in tadelloser zeitlicher und emotionaler Abstimmung mit dem Pianisten Hartmut Höll – bildeten Morgenstimmungen ("Der Genesene an die Hoffnung", "In der Frühe") den von Verstörungen erschütterten klanglich-literarischen Auftakt. Über bewegte, im wahrsten Sinne "raumgreifende" und nächtliche Szenerien ("Fußreise", "Feuerreiter", "An den Schlaf", "Um Mitternacht") erreichten Höll und Fischer-Dieskau das neckische Versespiel der "Storchenbotschaft", um nach der Pause im Kleinen Haus über Frühling, Wanderschaft, Liebe und Allzumenschliches ("Bei einer Trauung", "Zur Warnung") zu referieren, bis mit dem unvermeidlichen "Abschied" auch noch die Rezensenten ihren "kleinen Tritt" ins Hinterteil bekamen.

Hartmut Höll war für mich, nach einer Reihe von methodisch soliden, vorbereiteten, aber mehr etwas unscheinbar wirkenden Auftritten, die große Entdeckung. Dietrich Fischer-Dieskau aber die große Bestätigung, sowohl in der leisen und unendlich nuancenreichen Wort- und Silbenenthüllung als auch im expressiven Wüten bis weit über eine imaginäre Grenze hinaus, die jeder Hörer auf Grund seiner Erfahrungen und Vorlieben zu ziehen und an der er zu entscheiden pflegt, was er als sinngemäß, vertretbar und schicklich erachtet. Jenseits dieser Marke erlaubt sich Fischer-Dieskau, auch auf Kosten der Klangschönheit und der Vortragsschlichtheit, ganz eigene Welten der Belehrung, der Wortverschärfung und auch quasischauspielerische Extreme zu erschließen.

Bei allen Fragezeichen, die zu setzen der "späte" Fischer-Dieskau herausfordert, bleibt eine viel wichtigere Frage unbeantwortet: Wer denn, bitte schön, will diesem Sänger und Einstein der Liedwissenschaft heute nahekommen und sein Werk fortsetzen?

P. Cossé

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