Zum Konzert am 7. September 1984 in Frankfurt


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. September 1984

Konzerte mit Werken Aribert Reimanns in Frankfurt

Kaum verhüllte Hiobsbotschaften in sieben Sprachen

In den zwanziger Jahren, der Aufbruchsphase der Neuen Musik, kursierte das Wort von der "Musikfestmusik"; auf Avantgarde-Festivals vor kleinem und hochspezialisiertem Publikum einmal dargeboten, um alsbald für immer in den Archiven zu verschwinden. Mitgemeint war auch der Verdacht, manche Komponisten hätten es bei der Komposition neuer Werke nur darauf abgesehen, auf einem dieser Feste gespielt zu werden, und ordneten ihre künstlerische Handschrift kurzerhand der dort jeweils herrschenden Richtung unter.

Nicht allein die stets aufrechterhaltene Distanz zu (kompositorischen) Schulen und Richtungen würde den 1936 in Berlin geborenen Komponisten Aribert Reimann davor bewahren, mit gegenwärtiger "Musikfestmusik" in Verbindung gebracht zu werden. Ein großer Teil seiner Werke wird häufiger – und nicht nur auf Avantgarde-Festen – aufgeführt, und von seiner 1978 uraufgeführten Shakespeare-Oper "Lear", die außer in der Bundesrepublik auch in Paris, Ost-Berlin und San Francisco gespielt wurde, läßt sich behaupten, was auf ganz wenige neue Opern nach jenen Alban Bergs zutrifft: daß sie im Musikleben "durchgesetzt" sei.

Daß auch ein Werk wie Reimanns "Requiem" (1982) durchaus Erfolg hat (eine Schallplatteneinspielung liegt bereits vor), wird man Reimann schwerlich zum Vorwurf machen können. Denn für die erstaunliche Aktualität von Todesgedanken in der Jetztzeit angesichts weltweiter atomarer Bedrohung und ökologischer Untergangszeichen kann er nichts; er ist ihr Sprachrohr, nicht ihr Anstifter. Überdies hat Reimann die Verfügbarkeit seines Werks als liturgisch-funktionale Totenmesse ebenso von vornherein ausgeschaltet wie vordergründige Aktualisierung.

Ein Requiem im Zeichen der Unmöglichkeit zu trauern (wie Karl Amadeus Hartmanns erste Sinfonie "Versuch eines Requiems") ist dies gleichwohl nicht. Reimann bringt den gesamten lateinischen Messen-Text (mit Ersatz des apokalyptischen "Libera me", das bereits Campra in seinem Requiem wegließ, durch "Dona nobis pacem"), läßt ihn von den in sieben Sprachen singenden solistischen Hiobs-Predigern "kommentieren" und im Sinne moderner Skepsis (die manchmal im Alten Testament deutlichere Unterstützung findet als im Neuen) pessimistisch einfärben – Reimanns "Requiem" endet mit einer Reihe zutiefst menschlicher, durch keine vorschnelle theologische Antwort beiseite geschobener Fragen.

Dabei hat Reimann – was in der vorzüglichen Frankfurter Aufführung mit Julia Varady, Gabriele Schnaut, Dietrich Fischer-Dieskau, dem von Uwe Gronostay einstudierten RIAS-Kammerchor und dem Radio-Sinfonieorchester Frankfurt unter Gerd Albrecht sehr deutlich wurde - das Problem des instrumental begleiteten Gesangs mit Geschick und Phantasie angepackt, ohne es eigentlich zu lösen. Das volle Orchester (ohne hohe Streicher) wird in sehr wenigen, grell clusterhaft aufleuchtenden Momenten, etwa im bruitistischen "Dies irae"-Anfang, charakteristisch eingesetzt; ruhende Orgelpunkte sind allzu häufig. Auch zwischen Chor und Vokalsolisten gibt es eher ein Ablösungsverhältnis als echte Durchdringung. Die während eineinhalb Stunden durchgehaltene Technik der Ablösung verschiedener Klanggruppen – manchmal ("Liber scriptus...") wird das Orchester vor einem Choreinsatz gewaltsam abgeschaltet, ausgeblendet – ist für den eindrücklich monolithischen Charakter des Werks verantwortlich, aber auch für dessen Länge und für den Eindruck, daß die verschiedenen Sprachen von Reimann am Ende doch entindividualisiert werden und in uniformem Melos aufgehen.

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Sigfried Schibli

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