Zum Konzert am 20. Juli 1984 in München


    

     Süddeutsche Zeitung,  23. Juli 1984     

Der Matthäus-Passion wahrer Mittelpunkt

Hanns-Martin Schneidt und Dietrich Fischer-Dieskau im Festkonzert der Münchner Philharmoniker

     

Bachs "Matthäus-Passion", unenträtselbares Heiligtum der musikalischen Christenheit, ist kein Stück, nach dem man an heißen Juli-Abenden lechzt. Sie war, mit respektgebietend hoher Solisten-Besetzung, als 6. Festkonzert des Münchner Philharmoniker-Sommers aufs Programm gesetzt worden. Dirigieren sollte Eugen Jochum, den Evangelisten singen Peter Schreier. Beide sagten ab. Für sie sprangen der neuerwählte Bachchor-Chef Hanns-Martin Schneidt und Aldo Baldin ein. Zwei ausverkaufte Festkonzerte konnten also am Ende der vergangenen Woche stattfinden.

Hier steht der zweite Abend zur Diskussion. [...]

Daß Hanns-Martin Schneidt es riskierte, rasch einzuspringen, weder ein ihm fremdes Orchester noch den riesig-kräftigen Philharmoniker-Chor zu scheuen – war weniger schneidig als klug. Denn alles Mißlingende wäre ja mit der in Kauf genommenen Notsituation zu erklären, alle erkennbaren Vorzüge, Akzente, Besonderheiten indessen lassen die Dirigier-Handschrift Schneidts um so unmittelbarer erkennen – weil es eben nicht ums wohlvorbereitete Ganze gehen konnte, sondern um eine Rettung.

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Daß er, bei aller offenkundigen Metier-Erfahrung, die Solisten doch nicht differenziert genug begleitete, selbst dem überragenden Fischer-Dieskau den Streichergoldgrund anfangs ein bißchen verwackelt lieferte, sei nicht verschwiegen.

[...]

Hier fehlt es an Platz, ausführlich über den Chor zu referieren, dem es weder an Hingabe noch an Stimmkraft, wohl aber an Legato-Kultur fehlte. Auch die durchweg trefflichen Solisten (Robert Holl, Claes H. Ahnsjö, Marjana Lipovsek) oder die fast unübertreffliche Edith Mathis, die ihrer "Blute nur"-Arie einen erschütternden Ingrimm, fern aller Holdseligkeit zubrachte, können hier nicht gebührlich gewürdigt werden. Denn zu rühmen bleibt noch das jeden Rahmen sprengende Ereignis dieser Aufführung: die Christus-Vergegenwärtigung von Dietrich Fischer-Dieskau. Dieses Ereignis wurde begünstigt dadurch, daß der Evangelist Aldo Baldin nicht expressiv-verklärt übertrieb, sondern ruhig, richtig und beteiligt berichtete von einem Geschehnis, welches der sündigen opportunistischen Menschheit zur Scham gereicht und sich seit Adams Fall bis heute unabänderlich wiederholt, wenn’s drauf ankommt.....

Aldo Baldins Zurückhaltung ließ in den Mittelpunkt treten, worum es in dieser Passion schließlich (oft wird es vergessen oder dran vorbei musiziert) geht: die Gestalt Christi. Fischer-Dieskau war auffallend gut bei Stimme. Ihm gelang ein Wunder. Er zwang zum Bilde zusammen, was sich sonst auszuschließen scheint. Nämlich die kreatürlich-traurige, volksliedhaft unglückliche, angsterfüllte Dimension, den Gottverlassenheitsjammer mancher Wendung des Menschensohnes sowie die ekstatisch prophetische Unbeirrbarkeit des Gottessohnes. Ich habe das noch nie so beeindruckend erlebt und begriffen. Die überwältigten Zuhörer im Herkulessaal schienen ähnlich zu empfinden.

Joachim Kaiser

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