Zum Liederabend am 22. März 1984 in Basel


    

     Basler Zeitung,  24. März 1984     

Fischer-Dieskaus Liedkunst schlechthin

     

Stimmliche Ermüdungserscheinungen scheint es bei Dietrich Fischer-Dieskau auch bei seinem Eintritt ins siebte Lebensjahrzehnt, den er nächstes Jahr feiern kann, nicht zu geben. Im beneidenswerten Vollbesitz seiner Kräfte stehend, vermittelt der Bariton die romantische Liedkunst auf nach wie vor einzigartige Weise. Ausschließlich Brahms war sein jüngster Liederabend, in einem Extrakonzert der Basler Solistenabende im Musiksaal des Stadtcasinos, gewidmet. Einmalig, wie er und sein hervorragender junger Begleiter am Steinway-Flügel, Hartmut Höll, den Bogen schlagen von den Liedern der frühen bis späten Brahmsschen Schaffensperioden aus den opera 19 – 107. Eine einzige Steigerung vom schlicht gesetzten Strophenlied "An eine Äolsharfe" bis zu Kellers klangmalerisch vertontem "Abendregen", dem stampfenden Trinklied, Goethes "Unüberwindlich", der unheimlichen Heineschen Liebeslyrik in seiner "Meerfahrt" bis zum zerbrechlichen "Maienkätzchen". Nicht genug damit. Fischer-Dieskau belohnte den donnernden Applaus eines dankbaren Publikums mit nicht weniger als fünf Zugaben.

Man erinnert sich an Fischer-Dieskaus frühere Abende mit den Schubertschen Zyklen. Damals bewunderte man vor allem den für diesen Sänger so typischen Schmelz in seiner biegsamen, die Diktion gleichwertig zum Ton behandelnden Stimme. Heute kommt eine Dimension dazu. Das verschlissene und vieldeutige Wort von der "Reife" liegt auf der Zunge. Es ist aber nicht das allein, was den Zauber seiner Ausstrahlung von Stimme und Persönlichkeit ausmacht. Es ist sein Vermögen, sich mit Wort und Ton so vollkommen zu identifizieren, ein Lied so zu "inszenieren", daß man sich bei den ersten Worten schon in einer dieser fernen Welten wähnt.

Fischer-Dieskau gestaltet Inhalte, malt in Klang versetzte Naturlyrik, lotet die "Traumschwere, ihre dumpfe Erotik, ihre Herbheit oder verschleierte Heiterkeit" (Fischer-Dieskau) aus. Es ist eine Ganzheitlichkeit, die Fischer-Dieskaus Stimme beherrscht. Sie wird durch den optischen Eindruck unterstrichen. Die angedeuteten Gesten stimmen, verraten auch Fischer-Dieskaus Bühnenerfahrung, die bis zur Rollenverkörperung eines Falstaff und bis zu Reimanns "Lear" reicht. Die Bewunderung ob eines so begnadeten Künstlertums ist ungebrochen.

Jürg Erni

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