Zum Liederabend am 14. März 1984 in Augsburg


Augsburger Rundschau, 16. März 1984 

Das Lied-Ereignis

Dietrich Fischer-Dieskau sang in der Kongreßhalle Johannes Brahms

Das Kunstlied – es gibt phantastische Sängerinnen und Sänger, Stimmwunder und Virtuosen, aber niemand verkörpert diese Gattung wie Dietrich Fischer-Dieskau. Er ist – bald 59jährig – jetzt schon Legende und war im Rahmen des Pro-Musica-Zyklus 2 in der Kongreßhalle zu Gast. Die Erwartung, aufgeladen nicht zuletzt durch ein fast beispielloses Angebot an Platteneinspielungen, ist hier groß wie bei kaum einem anderen Künstler. Und Fischer-Dieskau löste sie ein. Zusammen mit seinem neuen (und noch sehr jungen) Begleiter Hartmut Höll wurde sein Brahms-Abend zum Ereignis.

Nach Schubert erreichte das Kunstlied bei Johannes Brahms einen neuen Höhepunkt. Jenseits aller auf den Text bezogenen Stimmungsmalerei und einer in Emotionen schillernden Romantik sind die Lieder des Norddeutschen durchwegs höchst artifiziell gewebte Gebilde: trotz ihres lyrischen Grundtons und der naturliedhaften Geste sind Klaviertext und Stimme ein eigenständiges, durch feinste Motivarbeit erzeugtes Kunstwerk. Den einfachen, wahrlich "zu Herzen gehenden" Ton treffen, bei intellektueller Durchdringung und Darstellung der Materie – dies macht die Größe Dietrich Fischer-Dieskaus aus. Mit Stimmpracht allein ist es nicht getan: dazu sind diese scheinbaren Volkslieder doch zu komplex und vielschichtig, um innig wie von selbst zu "kommen". Auch nicht mit blutleerer, absolut belcanto-feindlicher angestrengter Attitüde: da klänge Brahms allzu trocken. Fischer-Dieskau führt durch sein in allen Lagen perfekt beherrschtes Stimmvolumen sowie durch seine literarische Kompetenz und musikalische Intelligenz diese Schwierigkeiten ad absurdum. Er erreicht eine Ebene, die andere Sänger im Kunstlied kaum treffen.

Wechsel der Stimme

Die Lieder des Abends gehörten keinen geschlossen geprägten Zyklen an. Sie entstammten eher unabhängig und lose zusammengestellten Sammlungen, wenn auch die im ersten Teil dominierende Folge aus der Platen-Daumer-Serie durch ihren melancholisch und pathetisch zerrissenen Grundton einen gewissen Stimmungsblock bildete. Mit virtuosen Wechseln des Stimmregisters – das ebenso plötzlich in intimste Räume zurückfallen, wie es sich jäh zum umgreifenden Forte-Gewölbe ausweiten kann; das fahle imaginäre Stimmungen zaubern kann (Platen: "Sie funkelten sacht in der Nacht, durch täuschend entlegene Ferne") und einfach innig singt (Schack: "Träume und Erinnerungen nahen aus der Kinderzeit") – fächerte hier der Künstler ein grandioses Feld an Nuancen auf.

Im zweiten Teil mit u.a. Goethe, Heine, Keller, Liliencron kamen neue Facetten hinzu – Ironie und Witz (Heine), Doppelbödigkeit (Goethe, Halm) und Skurril-Poetisches (Kellers "Therese") setzte Dietrich Fischer-Dieskau wie funkelnde Juwelen in den Vortrag. Hier kamen auch die phänomenalen Begleittugenden des Pianisten Hartmut Höll – er hat an der Frankfurter Musikhochschule u.a. eine Professur für Liedbegleitung inne – zum Tragen. Vielleicht ein neuer Gerald Moore? Höll jedenfalls machte atemberaubend klar, wie man – bei technischer Perfektion – auch eine "Übergröße" wie Dieskau zu animieren vermag. Es gab frenetischen Beifall und generöse, brillante Zugaben.

Manfred Engelhardt

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