Zum Liederabend am 25. August 1983 in Salzburg


Salzburger Nachrichten, 27. August 1983

Erlesenes in aller Knappheit

Dietrich Fischer-Dieskaus Brahms-Liederabend mit dem Pianisten Hartmut Höll

Mit den Programmen mancher Festspielkonzerte verhält es sich ähnlich wie mit den Schaufensterauslagen erstrangiger Geschäfte: Wenige Stücke, aber von erster Qualität. Die Frage nach der Qualität verdrängt verständlicherweise jene nach der Quantität. Der Umrechnungskurs für künstlerische Leistung in Abendgage wird seit jeher nach einem fiktiven Schlüssel des Renommés und der kommerziellen Kapazität des Veranstalters fixiert. Unter diesen Umständen spielt es auch keine besondere Rolle, wieviel ein Pianist spielt oder wieviel ein Sänger zu Gehör bringt, sondern "daß" er überhaupt bereit ist, aufzutreten.

Dennoch wage ich an dieser Stelle einmal anzumerken, ob ein Liedprogramm von rund 50 Minuten Dauer die Qualität der "Begegnung" nicht auf die Ebene eines kurzen Vorbeischauens sinken läßt, in dessen Verlauf die Konzertpause fast ebenso lang ist wie die erste Recital-Hälfte. Zugaben sind vorprogrammiert, schließlich wäre es undenkbar, ein herzlich mitgehendes Publikum in aller Frühe – der Neunte Liederabend begann um ca. 19.35 Uhr und endete 20.50 Uhr – zu entlassen. Der absehbare Rhythmus des Zugabengewährens jedoch schmälert die Wirkung im Wechselspiel von Begeisterung und Liedgewährung. Die Zugabe verkümmert zur halboffiziellen dritten Programmabteilung.

Dietrich Fischer-Dieskau konzentrierte sich auf das Lied-Schaffen von Johannes Brahms, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr mit Umsicht und mit hervorragenden künstlerischen Ergebnissen gefeiert wird. In nahezu werkchronologischer Abfolge zeigte der Bariton mit der ihm eigenen, zuweilen überpointierenden Lehrhaftigkeit Stationen der Brahmsschen Textverarbeitung und –beseelung. Die beiden inhaltlich eher in zwangloser Korrespondenz von Lied zu Lied gefügten "Gruppen" suggerierten dramaturgische Einsichten, wie sie ansonsten von Lied-Zyklen oder thematisch verknüpften Lied-Reihen vermittelt werden. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die Hörer jeglicher Akklamation zwischen den einzelnen Texten enthielten.

In Form und bei Stimme erweist sich Fischer-Dieskau, wenn ruhiger kantabler Erzählfluß gefordert wird. Schönes, sprechendes Legato bei kleinen Intervallen erinnert an die Fruchtbarkeit seiner großen Zeit und an die außerordentlichen Verdienste, die sich dieser wohl bedeutendste Liedsänger aller Zeiten um die literarisch-musikalische Gleichrangigkeit eines verletzlichen "Gegenstands" erworben hat. Heute – man kann es bei aller Hingabe seitens des Interpreten und bei aller Nachsicht seitens des Hörers nicht verschweigen – entfaltet der Sänger seine Kunst als singender Rezitator. Rauhe, ungefaßte Phrasen, ein sich verselbständigendes Forte, mit Mühe hervorgebrachter Neckigkeit ("Maienkätzchen", "Gang zum Liebchen") machen deutlich, daß sich Fischer-Dieskau im Herbst seiner gesanglichen Botschaft befindet.

Man nähme es vielleicht leichter hin, wenn er in Momenten der Bedrängung den Ausdruck etwas zurücknehmen würde. Süßes indes gerinnt zur Süßlichkeit, Herbes zur imperialen Heroik. Gleichwohl: Von der "Äolsharfe" bis zum "Maienkätzchen" ließen sich charakteristische Passagen aufspüren, gescheite Gewichtungen, sensibel ausgehorchte harmonische Rückungen.

Dies alles geschah vor dem Hintergrund löblicher, aber letzten Endes unbefriedigender pianistischer Zurückhaltung. Hartmut Höll begleitet in aller Fairneß, leise, zart, anstellig. Es spricht für die Loyalität Fischer-Dieskaus, daß er auf wichtigen Podien nicht nur mit berühmten Pianisten zusammenarbeitet. Aber für Höll mag gelten, daß an diesem Abend ein bißchen mehr in der Tat auch mehr ergeben hätte.

Peter Cossé


  

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. September 1983     

Salzburger Festspiele

Kalender von Liebe und Tod

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Dietrich Fischer-Dieskau ist nicht nur als Sänger seit über dreißig Jahren ein Inbegriff von Kultur in unserer Epoche. Seine Leistungen als Schriftsteller, Dirigent und Lehrer haben ihm verdienten Weltruhm gebracht. Als Liedgestalter hat er seinesgleichen auch heute im Alter von 58 Jahren nicht. Von ihm Brahms zu hören, ist eine geistig-musikalische Erfahrung höchsten Ranges. Aus dem Programm von zwanzig Liedern, die er mit Hartmut Höll am Flügel im Kleinen Festspielhaus vortrug, seien erwähnt: "An eine Äolsharfe" und "Tambourliedchen" im ersten Teil, "Unüberwindlich" und "Auf dem Kirchhofe" im zweiten. Wie da jeder Ton, jedes Crescendo, jede kleine Beschleunigung von Leben erfüllt wird, stets im Einverständnis mit dem Wort, das macht keiner ihm nach. Dem Verlangen der begeisterten Hörer folgte er mit Zugaben, darunter "Wir wandelten" und "Wie bist du, meine Königin" mit dem herrlich ausgesungenen "wonnevoll".

H. H. Stuckenschmidt

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