Zum Liederabend am 15. Juni 1983 in Berlin    


    Berliner Tagesspiegel, Datum nicht bekannt     

Nuancen des Bewußtseins

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll in der Deutschen Oper

     

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau die Bühne betritt, dann darf man nach wie vor sicher sein, bei aller Vertrautheit mit der Darstellungskunst dieses Sängers einen Abend von jeweils neu erschütternder Gewalt zu erleben. Der minutenlange Auftrittsapplaus des Publikums in der Deutschen Oper ist deshalb wohl neben aller Etikette auch zu verstehen als ein Zeichen dankbarer Verehrung gegenüber diesem Sänger. Um so erstaunlicher, daß ein sehr großer Teil der Zuhörer – es wurde schon darum gebeten, nicht zwischen den einzelnen Liedern zu klatschen – nicht an sich halten konnte und hemmungslos ins Pianissimo hineinzuhusten wagte. Die Hustensalven zwischen den vom Sänger mit höchster innerlicher Anspannung vorgetragenen Schubert-Liedern glichen gar mitunter einem makabren Applaus. Bei Fischer-Dieskaus bis in die kleinste Bewegung hinein von schauspielerischer Pathetik erfülltem Auftritt war es nicht so klar zu erkennen, ob sein häufiges Stirnrunzeln und Augenbrauenheben zwischen den Liedern als subtile Mahnung an die Zuhörer zu verstehen war – möglich wär’s, aber die, die es anging, haben es nicht gemerkt.

Schubert also – Lieder desjenigen Komponisten, dessen Gegenwärtigkeit als Liedkomponist heute untrennbar mit dem Namen Fischer-Dieskaus verbunden ist. Wobei dieser stets weit davon entfernt blieb, nur den Namen eines Komponisten als Markenzeichen einer Sängerkarriere zu mißbrauchen. Wenn Fischer-Dieskau auch alles von Schubert gesungen hat, so doch nur viel Schubert unter vielen anderen Komponisten – aber stets mit besonderer, von der Einmaligkeit seiner Lieder ergriffener Anteilnahme. Dieser Liederabend brachte nur eine Auswahl größtenteils weniger bekannter und unbekannter Kompositionen. Die erste Konzerthälfte führte in einer durch glückliche Intuition zusammmengestellten Liedgruppe von der eröffnenden Selbstdarstellung mit "Des Sängers Habe" bis zu deren abgründiger Schattenseite in "Totengräbers Heimweh". Dabei erreichte Fischer-Dieskau vom vierten Lied an ("Das Zügenglöcklein") eine derart eindringliche Intensität, die über die folgenden Lieder hinweg verbindend wirkte ("Freiwilliges Versinken", "Der Tod und das Mädchen", "Gruppe aus dem Tartarus", "Nachtstück" und "Totengräbers Heimweh"), daß nach der Pause keine Steigerung mehr möglich war und der Sänger den zweiten Teil mit etwas beschaulicheren Stücken durchsetzte.

Fischer-Dieskaus Kunst der Vergegenwärtigung der psychologischen Bewußtseinsebenen innerhalb eines Liedes, die in der Darstellung von Erinnerung, Anschauung und Erwartung stets das Äußerste menschlicher Empfindung berührt, wurde von Hartmut Höll am Klavier eindrucksvoll mitgezeichnet. Auch sein Spiel schürft in den Nuancen des Bewußtseins: sei es in der Darstellung der wechselnden Begleitfiguren als Veränderung des Zeitgefühls ("Gruppe aus dem Tartarus"), in den farblichen Abstufungen zwischen Hell und Dunkel oder in der Nähe und äußerste Ferne erspürenden dynamischen Differenzierungskunst. Ein Meisterstück solcher Art bot die Interpretation von "Der Tod und das Mädchen". Fischer-Dieskau trennte das traumhaft leise Vorspiel durch eine winzige Fermate des sich bewußt werdenden Ichs vom Einsatz des Gesanges, dessen Worte "Vorüber, ach vorüber..." nun unmittelbar auf das zuvor Gehörte ansprachen. Und das Nachspiel, folgend auf den Erlösung verheißenden Choral des Todes, wurde von Hartmut Höll wie eine Erinnerung an den kaum ganz bewußt gewordenen Anfang noch eine Stufe leiser realisiert. Zum Schluß große Ovationen, vier Zugaben, die anscheinend auch den vorher Hustengeplagten die ersehnte Befriedigung verschafften. Denn nun endlich ließ sich des Sängers Kunst vernehmen, befreit von der "Seellosigkeit sterblicher Gedanken".

Martin Wilkening

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