Zum Konzert am 28. März 1983 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin, 30. März 1983

Abbruch und Entgrenzung

Das RSO mit Bernhard Klee spielte Mozart und Schönberg

Fragment sind sie beide geblieben: Mozarts "Requiem" und Schönbergs Oratorium "Die Jakobsleiter". Da sich zudem beide Werke dem Thema des Todes widmen, war die Programmzusammenstellung des RSO-Konzerts wohlbegründet. Mit dem fragmentarischen Charakter und dem Todesthema enden freilich schon die Gemeinsamkeiten. Mozarts "Requiem" ist ein Auftragswerk, das sich in Musik und lateinischem Text an einschlägige Traditionen anlehnt. Schönbergs Oratorium dagegen ist ein Bekenntniswerk, das sich mit visionären Mitteln an den "Menschen von heute" richtet. Schönberg, der 1912 Bibeltexte für "unkomponierbar für einen Musiker von heute" hielt, suchte für sein Oratorium "die Sprechweise, die Denkweise, die Ausdrucksweise des Menschen von heute". Nach einer vergeblichen Anfrage bei Richard Dehmel schrieb er sich seinen Text in den Kriegsjahren 1915 bis 1917 selbst. Für die Musik blieben ihm gerade noch vier Monate Zeit; dann wurde er zum Militär eingezogen.

Mozart verstarb über seinem "Requiem", was zu zahlreichen romantischen Mystifizierungen führte. Heute dagegen betrachtet man das Werk, das sich stilistisch an Zeitgenossen wie Florian Leopold Gaßmann und Johann Georg Reutter anlehnt, nicht mehr als Gipfelpunkt seines Schaffens. Daß auch die Interpretation in der Philharmonie zu keinem Gipfelpunkt wurde, lag nicht zuletzt an den Solisten, die mit Ausnahme von Gabriele Schreckenbach (Alt) anscheinend mehr für die "Jakobsleiter" als für Mozart ausgesucht worden waren. Im "Requiem" wirkte Catherine Gayers Sopranstimme etwas gepreßt, Werner Hollweg (Tenor) allzu opernhaft klagend, und selbst ein Dietrich Fischer-Dieskau konnte nicht verleugnen, daß er doch eher ein Bariton als ein Baß ist. Klanglich am schönsten fand das Solistenquartett in den zart anschwellenden Imitationen des "Recordare" zusammen, während den Sängerinnen und Sängern des NDR-Chores und des RIAS-Kammerchors vom dramatischen "Dies irae" bis zum kontrastreichen "Confutatis" insgesamt eine größere Ausdrucksbreite zur Verfügung stand. Bernhard Klees unterteilende Dirigierweise sorgte beim Radio-Symphonie-Orchester für rhythmische Präzision, hemmte aber auch etwas den musikalischen Fluß.

Dagegen wurde die Aufführung der "Jakobsleiter" zu einem mit anhaltendem Beifall gefeierten musikalischen Ereignis, das durchaus an die denkwürdige Aufführung von 1970 unter Michael Gielen heranreichte. Jetzt wie damals überraschte wieder die Erfahrung, wie unmittelbar einleuchtend Schönbergs atonale Musik in Verbindung mit dem philosophischen Text wirkt, wie genial sie zunächst menschliche Haltlosigkeit und dann Schwerelosigkeit wiederzugeben vermag. Im Angesicht des Weltkrieges entwarf Schönberg das Panorama einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen zerbröckeln. Die unterschiedlichen Partikularinteressen, die der mehrfach unterteilte Chor wiedergibt, münden schließlich (in berückend schönem A-cappella-Gesang) in Fatalismus ein: "Ja, ja - wie’s kommt, so kommt’s - wie schön lebt sich’s doch im Dreck."

Der Text, für den Schönberg mehr Zeit verwendete als für die Musik und den er schon 1917 separat veröffentlichte, hat als Gesellschaftsdiagnose auch heute noch seine Gültigkeit. Dem vorgeschlagenen Lösungsweg der Entmaterialisation, den Schönberg von Swedenborg und Balzac entlehnte, werden sich jedoch wohl nur wenige noch anschließen können.

Die verschiedenen Stufen der Vergeistigung und damit auch die Stufen der Jakobsleiter, die zum Himmel führt, werden textlich durch Einzelgestalten, darüber hinaus aber auch musikalisch durch den Übergang vom Sprechgesang zur reinen Vokalise zum Ausdruck gebracht. Dietrich Fischer-Dieskau (Gabriel), Werner Hollweg (Der Berufene) und Karl-Ernst Mercker (Der Aufrührerische, der Mönch) zeichneten sich bei ihrem Sprechgesang durch die Verbindung von hoher Textverständlichkeit mit angedeuteten Tonhöhen aus. Eine erfreuliche Entdeckung war der junge amerikanische Bariton Thomas Hampson, dem zwar in den Sprechstellen noch ein Mangel an geistiger Durchdringung seiner anspruchsvollen Texte (Der Ringende, der Auserwählte) anzumerken war, der aber als Sänger mit einer in allen Lagen klangvollen Stimme nachdrücklich auf sich aufmerksam machte. Wie schon 1970 wirkten auch heute noch Catherine Gayer die hohen Vokalisen der schwerelos entschwebenden Seele wie auf den Leib geschrieben. Das Radio-Symphonie-Orchester trug vor allem in den abschließenden traumhaften Sphärenklängen dazu bei, daß die Musik schließlich sanft entschwebte. Wirkte das Abbrechen des Fragments beim Mozart-Requiem wie ein Schock, so in der "Jakobsleiter" ganz im Gegenteil als Schritt ins Grenzenlose.

Albrecht Dümling


   

     Berliner Morgenpost, 29. März 1983     

Das RSO in der Philharmonie

Schönbergs "Jakobsleiter" führt nach oben

 

Zwei Fragmente der Tonkunst, die zugleich wesentliche Bedeutung für das Gesamtwerk ihrer Schöpfer haben, standen im Mittelpunkt eines Philharmonie-Konzertes des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, des Chores des Norddeutschen Rundfunks Hamburg und des RIAS-Kammerchores.

Der Tod hinderte Mozart, sein Requiem d-Moll KV 626 im Jahre 1791 abzuschließen. Zumal auch noch die Opern "Die Zauberflöte" und "Titus" sowie "Die kleine Freimaurer-Kantate" zu beenden waren. Auch Arnold Schönberg gelangte trotz mehrmaliger Ansätze im Jahre 1917 und 1944 nicht zum Abschluß seines seit 1912 geplanten Oratoriums "Die Jakobsleiter". Schüler beider Komponisten, Franz Xaver Süssmayr und Winfried Zillig, oblag es, die Werke aufführungsfähig zu machen, um damit der Nachwelt wichtige Zeugnisse aus dem zumindest bei Schönberg mit allen Einschränkungen als "geistliche Musik" bezeichneten Werkschaffen zu erhalten.

Das RSO unter Leitung Bernhard Klees wandte sich gemeinsam mit den beiden von Roland Bader bzw. Uwe Gronostay einstudierten Chören zunächst dem Mozart-Requiem zu. Trotz sichtlichen Bemühens des Dirigenten, das Orchester zu einem differenzierteren Klangbild zu führen, kam es zu einer sehr blassen, in Routine erstarrenden soliden Wiedergabe.

Der zahlenmäßig starke und in seiner Stimmgewalt kaum gedämpfte Chor entfaltete dagegen opulente Klangmassen, die dem Werk einen wenig zuträglichen triumphal-festlichen Charakter verliehen. Erst im "Confutatis" und "Lacrimosa" kam es zu einer stilistisch feinfühligen Interpretation durch den Chor.

Bei den Solisten dominierten durch Ausdrucksreichtum und Kultiviertheit des Gesanges Gabriele Schreckenbach (Alt) und Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton); Catherine Gayer (Sopran) und Werner Hollweg (Tenor) vermochten sich weniger zu profilieren.

Mit Arnold Schönbergs Oratorium "Die Jakobsleiter" wandelte sich nicht nur der kompositorische Stil, sondern auch das Klangbild bei allen Interpreten. Plötzlich reagierte das RSO auf die sorgfältige Zeichengebung Bernhard Klees mit Präzision und klanglicher Präsenz. Der Chor erstaunte durch eine bemerkenswert sicher abgestufte Skala von stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die nur noch übertroffen wurden durch die deklamatorisch-suggestive Gewalt Dietrich Fischer-Dieskaus als jedes Wort und jede Silbe zu Bedeutung führender Engel Gabriel.

Sehr eindringlich gestalteten Karl Ernst Mercker, Thomas Hampson, Werner Hollweg und Catherine Gayer ihre inhaltlich und stimmlich teilweise extrem schwierigen Parts als inbrünstige, zynische oder traurig-hoffnungsfreudige Seelen, die um Glauben ringen.

R. L.

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