Zum Liederabend am 18. November 1982 in Ulm


     

     Südwest-Presse, Ulm, Datum umbekannt     

     

Man sieht, wie die Störche walzerselig davonfliegen

Dietrich Fischer-Dieskau sang im Ulmer Theater Lieder von Hugo Wolf

      

Nachdem in der letzten Saison ein Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau kurzfristig anberaumt und dann ohne Verschulden der Veranstalter ebenso schnell abgesagt wurde, klappte es jetzt. In dem für Liederabende akustisch ganz vortrefflichen Großen Haus des Ulmer Theaters (Dietrich Fischer-Dieskau nach dem Konzert: "Diesen Raum würde ich gern auf meine Tournee mitnehmen.") – selbst auf den Rangplätzen ist die Distanz zum Künstler noch zu überwinden - sang der inzwischen längst zur Legende gewordene Sänger ein reines Hugo-Wolf-Programm: Zwanzig Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike. Übrigens entgegen der ursprünglichen Absicht, anläßlich des 150. Todestages von Goethe Vertonungen diverser Komponisten von Goethe-Gedichten vorzutragen.

Doch das tat der hohen Qualität des Abends keinen Abbruch, zumal das Publikum, darunter viele Auswärtige, froh war, den eigenwilligen Künstler überhaupt einmal in natura singen zu sehen und zu hören. Fischer-Dieskau, dessen Interpretationen beispielsweise der großen Schubert-Zyklen schon vor 30 Jahren als absolut neuartig und wegen ihres rezitativischen Grundcharakters als sensationell empfunden wurden, ist auch heute noch – ohne daß er seine Praxis als Opernsänger verleugnen kann – ein genialer Liedinterpret.

Sein traumhaft sicheres Gespür für Text-Nuancen und Ton-Höhepunkte und die Farbenfülle seiner Stimme sind ungebrochen. Er vermag dem Mörike-Achtzeiler "Lebe wohl" intensivsten Ausdruck zu verleihen, aber auch den "Peregrina"-Vertonungen: Immer dann, wenn es um subjektivistische Deklamation geht, ist Fischer-Dieskau in seinem Element. Dann mag es aber auch vorkommen, daß der rezitativische Gestus anfängt zu dominieren und der musikalische Ausdruck hinter dem Wort zurücktritt.

Problematisch wird es, wenn der Sänger Text-Höhepunkte wie etwa die Zeile "bis der Sieg gewonnen hieß" im Lied "Der Genesene an die Hoffnung" mit der vollen Emphase des Opernsängers und im härtesten Fortissimo aussingt, als habe er sich gegen ein "Wozzeck"-Orchester zu behaupten. Ohne in äußerliche Operngestik zu verfallen, besteht bei solchen Exaltationen – so überwältigend sie klingen mögen – die Gefahr, die Intimität des Kunstliedes zu zerstören.

Unübertroffen aber sind Suggestivität und Formvollendung, wenn Fischer-Dieskau Handlungslieder wie etwa den "Feuerreiter" singt, oder wenn es gilt, Mörikes skurrilen Witz in musikalische Komödiantik umzusetzen. Dann sieht man förmlich, wie die Störche walzerselig davonfliegen ("Storchenbotschaft"), wie ausgedörrt die Kehle des Sängers sein muß nach durchzechter Nacht ("Zur Warnung"), welche Schadenfreude ihn erfaßt, wenn er den ihn besuchenden Rezensenten unsanft die Treppe hinunterstößt ("Abschied").

In solchen Momenten offenbart sich seine Meisterschaft, der er seinen Ruf verdankt. Immer dann, wenn Fischer-Dieskau die weichen, leuchtenden mezza-voce-Register bevorzugt, wenn er mit gestalterischer Intelligenz auch den subtilsten Regungen der Mörike-Texte und Wolf-Klänge nachspürt, wird deutlich, warum der Sänger auch heute noch im Zenit seiner Künstlerschaft die Konkurrenz nicht zu fürchten braucht.

Am Flügel saß in bescheidener Zurückhaltung Jörg Demus, dessen verinnerlichte Partnerschaft mit dem Sänger nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß hier ein Pianist von glänzendem Ruf die oft undankbare Aufgabe des Liedbegleiters übernommen hatte. Mit etlichen Zugaben bedankte sich Dietrich Fischer-Dieskau für den Publikumsbeifall.

Olaf Gööck


  

     Zeitung unbekannt, 20. November 1982     

  

Hugo Wolf und Eduard Mörike versprachen:

Viele Höhepunkte der Liedlyrik

Gehaltvolle Interpretation mit Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus

    

Dietrich Fischer-Dieskau als Interpret der Hugo-Wolf-Vertonungen des großen Lyrikers Eduard Mörike: Dieses Triumvirat wirkte schon in der Ankündigung so erfolgversprechend, daß selbst bei den hierfür verlangten extremen Preisen schon Wochen zuvor keine Karte mehr zu erhalten war. Wer sich rechtzeitig darum bemüht hatte, erlebte – Pause und Zugabe nicht mitgerechnet – eine gute Stunde gehaltvoller Interpretation, die geprägt war von einer Stimme, deren Routine immer wieder faszinierte. Kongenialer Partner am Flügel: Jörg Demus.

Schon im ersten Vortrag konnte Dietrich Fischer-Dieskau die erhebliche Spannweite seines gesanglichen Vermögens demonstrieren: "Der Genesene an die Hoffnung" gab ihm Gelegenheit, die Hörer eine Steigerung vom fast tonlosen Rezitativ der Einleitung bis zur dramatisch jubelnden E-Dur-Fanfare und schließlich zur innigen Melodie des Schlusses miterleben zu lassen. Eine ebenso große Spannweite, nur auf noch engerem Raum gedrängt, ergab sich durch den harmonischen Aufbau des folgenden "In der Frühe", wo vom stechenden d-Moll bis zum erlösenden D-Dur eine fast an Wagner erinnernde Spanne von Tonarten durchlaufen wird. Im fast volkstümlich wirkenden Lied von der "Fußreise" ("Am frisch geschnittnen Wanderstab") ließ Fischer-Dieskau die romantische Grundstimmung des weiland schwäbischen Landpfarrers Mörike aufklingen, um anschließend mit "Neue Liebe" einen tieferregten Monolog vorzutragen, der wiederum in gläubige Begeisterung einmündet.

In der Ballade vom "Feuerreiter" brachte es der Solist fertig, auch dem Hörer aus dem Zeitalter des Tanklöschfahrzeugs einen heiligen Schauer vor der unheimlichen Macht der Elemente einzujagen, wenn der Refrain "Hinterm Berg, hinterm Berg brennt es in der Mühle" naturalistisch wiedergegeben wurde und das Klavier mit seiner Tonmalerei die dadurch gewonnenen Eindrücke noch verstärkte. "An den Schlaf" erwies sich als träumerisches Gegenstück zum zuvor gehörten, von der Angst vor Nachtgespenstern geprägten "In der Frühe" und gleichzeitig als passende Einstimmung zum folgenden "Um Mitternacht", dessen sanfte Traumstimmung Fischer-Dieskau gekonnt zum Ausdruck brachte, wobei er wie schon in all den anderen Vorträgen, die vorangegangen waren, in Jörg Demus einen kongenialen Partner am Flügel hatte. In effektvollem Kontrast dazu stand das "Jägerlied", ein von Fröhlichkeit strahlender Kraftausbruch. Mit der "Storchenbotschaft", einem Glanzstück musikalischer Komik, von Fischer-Dieskau auch als solches geboten, ging der erste Teil des Abends zu Ende.

"Im Frühling" und "Auf einer Wanderung" zeigten sich als geradezu perfekte Umsetzung von Poesie in Musik. "An die Geliebte" leitete als ausdrucksvolles Rezitativ, vom Klavier farbig untermalt, zu den beiden "Peregrina"-Liedern über, in denen Mörike eine verlorene Jugendliebe feierte, welche von Wolf zu Höhepunkten der Musik- bzw. Liedlyrik umgestaltet wurde und von Fischer-Dieskau im Verein mit Jörg Demus auch als solche dargeboten wurden. "Lebe wohl" und "Begegnung" zeigten sich wiederum als Gegensatzpaar, wobei der Kontrast zwischen dem leidenschaftlichen ersten und der fast humoristisch gestalteten zweiten Szene gelungen herausgearbeitet wurde. "Der Jäger" gab dem Solisten Gelegenheit zur Demonstration seiner komödiantischen Fähigkeiten, welche im anschließenden "Bei einer Trauung", einem satirischen Stimmungsbild, noch gesteigert werden konnten.

Vollends zum Komiker machte sich Fischer-Dieskau allerdings in der Einleitung des drastischen "Zur Warnung", die Folgen einer "lustigen Nacht" demonstrierend. Natürlich ließ er sich schließlich auch nicht die Gelegenheit entgehen, die Herrschaften von der schreibenden Zunft im Lied "Abschied" ("Unangeklopft ein Herr...") einmal kräftig in die Pfanne zu hauen, was ihm auch gerne vergönnt sei. Mit diesen Kostproben aus dem heiteren Epilog des Wolf-Mörike-Zyklus hatte Dietrich Fischer-Dieskau endgültig die Herzen seiner Zuhörer gewonnen, und so wurden ihm mit anhaltend-begeistertem Applaus schließlich vier Zugaben abverlangt. "Verborgenheit", "Auf ein altes Bild" und das "Selbstgeständnis" ließen noch einmal Mörikes Lyrik und Wolfs Kompositionskunst aufklingen, bevor sich Fischer-Dieskau mit dem Stoßseufzer aus dem "Italienischen Liederbuch" von Hugo Wolf, "Nicht länger kann ich singen" mit Eleganz von weiteren Bitten nach Zugaben zu retten wußte und so ein Konzert beendete, das die Beifügung "Sonder-" im besten Sinne verdient hatte.

Wilhelm Schmid

       


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