Zum Liederabend am 6. November 1982 in Frankfurt


     

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. November 1982     

     

Der ganze Mörike – Wolf

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus in der Alten Oper

      

Der Rang eines Künstlers bemißt sich nicht zuletzt an seiner Fähigkeit und Bereitschaft, sein maßstabsetzendes Können nicht allein dem eigenen Ruhm, sondern auch der kulturellen Horizonterweiterung dienstbar zu machen. Darin geht Dietrich Fischer-Dieskau seit mehr als dreißig Jahren beispielhaft voran. Sein Mörike-Wolf-Liederabend im ausverkauften, aber nicht vollbesetzten Großen Saal der Alten Oper bezeugte dies: das scheinbar enge Thema weitete sich unversehens, weil Fischer-Dieskau und der ihm gleichgestimmte Jörg Demus weniger das Allbekannte boten als zum Entdeckungshören anregten und so mit der Hälfte der 53 Mörike-Lieder den Dichter charakteristisch vorstellten – das glühend Resignative und Meditative (Der Genesene an die Hoffnung, In der Frühe, An den Schlaf, Laß, o Welt), dunkles Bekenntnis (Peregrina-Gesänge, Lebe wohl) und balladeske Mythologie (Feuerreiter), skurrilen Humor (Wenn meine Mutter hexen könnt’, Zur Warnung) und die scheinbar leicht hingeworfene Kaprice (Fußreise, Storchenbotschaft).

Daß Fischer-Dieskaus psychologisierende Artistik im Ausloten der Wort-Ton-Beziehungen gerade der harmonischen Espressivo-Gespanntheit und dem bildhaften Sprachmelos der Wolfschen Mörike-Lieder gerecht wird, ist lang schon kein Geheimnis mehr. Dennoch schien es im ersten Teil des Abends, als benutze er seine äußerst verfeinerte Kunst des Deklamierens und Einzelton-Färbens nicht allein zum virtuosen Einfühlen in lyrische Seelenzustände, sondern auch als Ausgleich für das (vor allem bei größeren Lautstärken) harscher gewordene Timbre. Vom ersten Takt des Abends an war indessen unüberhörbar, daß Fischer-Dieskau wieder melodisch gebundener singt, daß sich das Maßnehmen am Wort nicht mehr so sehr als reflektorische Zergliederungsmethode vordrängt.

Der Sänger wirkte um so gelöster, je weiter er sich in Mörike-Wolfs Gefühlslabyrinthe hineinsang. Hatten die Erzähllieder (Feuerreiter, Storchenbotschaft) schon vor der Pause eine klang-gestische Wortplastizität, die szenische Greifbarkeit suggerierte, so verdichtete und vertiefte sich der Ausdruck der Seelenqual in der zurückgenommenen Stimme immer mehr. Unnachahmlich die jeder Stimmungsnuance nachgebende Klangfarbenelastizität im traumseligen, die Sterbensschwere in sich tragenden "An den Schlaf", im verhaltenen Hymnus "An die Geliebte", in den trostlos traurigen Peregrina-Gesängen, im schmerzgepreßten "Lebe wohl". Fischer-Dieskau und Demus stellten Wolfs Musik "mit so schlagender Charakteristik" dar, "dabei von einer Intensität, die das Nervensystem eines Marmorblocks zerreißen könnte" (Wolf über sein "Liebeslied eines Mädchens" nach Mörike in einem Brief vom 20. März 1888).

Jörg Demus stützte den Sänger so poetisch empfindsam im Anschlag, daß die formbestimmende Rolle des Klaviersatzes für Wolfs Lied kaum nachdrücklicher hätte herausgestellt werden können: Die schillernde Chromatik und Enharmonik in Misch- und Gleitklängen war so farbenreich ertastet, daß Wolfs Zeitgenossenschaft mit Debussy begreiflich wurde, ebenso wie Wolfs Charakteristik des Verhältnisses von Klavier und Stimme geradezu als Umkehr des bis dahin Üblichen – einige seiner Lieder sind "chromatische Klavierkonzerte mit obligater Gesangsstimme". Der so spirituelle wie sinnenhafte Abend, der zwar nicht durch Beifall, aber Hustenorgien nach jedem Lied gestört war, endete mit nicht weniger als sechs köstlichen Zugaben, deren letzte, "Nicht länger kann ich singen" aus dem "Italienischen Liederbuch", eigens für diesen glücklich herausgezögerten, von den Künstlern endlich doch herbeigesehnten Abgang komponiert schien.

ek


  

     Frankfurter Neue Presse, 8. November 1982     

  

Schlummerlied um Mitternacht

Konzert mit dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau in der Alten Oper

   

Über eine Generation lang hat Dietrich Fischer-Dieskau das Bild des Liedsängers geprägt. Ungebrochen ist seine Anziehungskraft und fast unangetastet seine Kunst. Seine Einzigartigkeit wie – wenn man so sagen darf – seine Gefährdung sind in einem Ausdruckswillen zu erkennen, der noch nichts von seiner jugendlichen Vehemenz verloren hat. Beim jüngsten Pro-arte-Konzert in der Alten Oper Frankfurt war es erneut zu hören.

Fischer-Dieskau sang Lieder von Hugo Wolf nach Texten von Mörike – die kunterbunt-ziellosen Liedteppiche hat es bei ihm nie gegeben -, ein sehr konzentriertes, in seiner stilistischen Eindeutigkeit enorm herausforderndes Programm also. Der Sänger hat es oft und gerne aufgeführt (es gab auch einen berühmt gewordenen Konzert-Mitschnitt mit Swjatoslaw Richter am Klavier). Die Spannweite der Darstellung, die er dabei erreicht, fasziniert: in der Sekunde der gelassenen Unendlichkeit, die das "uralt alte Schlummerlied" des "Um Mitternacht" birgt, wie in der Leggierezza der "Begegnung", oder in der Bizarrerie des "Abschied".

Freilich mag auch manches an Doppelbödigem, das gerade die Kombination Mörike – Wolf beschwört, durch Fischer-Dieskaus Neigung zur Überakzentuierung vergeben, abgeschwächt werden (etwa "In der Frühe"). Unvergleichlich aber sind die Lieder, die zur Besinnung auch Handlung in sich tragen, und da sind nicht nur "Der Feuerreiter" (immer ein Paradestück für den Sänger) oder die "Storchenbotschaft"; sondern etwa die beiden wunderschön differenzierten "Peregrina"-Lieder gemeint. Die glanzvolle Deutung wird selten durch technische Schwierigkeiten bedrängt – nur in der forcierten Steigerung "bis der Sieg gewonnen hieß" im einleitenden "Der Genesene an die Hoffnung".

Partner am Klavier war Jörg Demus, ein umsichtiger Begleiter, konzentriert spielend, vielleicht bisweilen zu behutsam sich einordnend, wobei er die pianistischen Klippen bravourös bewältigte. Viel Jubel und viele Zugaben.

       


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