Zum Konzert am 14. September1982 in Berlin

    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 16. September 1982     

    

Reflexionen Mahlers

Zweites Konzert des Concertgebouworkest mit Bernard Haitink

     

Als Dietrich Fischer-Dieskau und das Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Bernard Haitink ihre Aufführung der "Kindertotenlieder" beendet hatten, war das Publikum zu schnellem Applaus nicht fähig. Erst allmählich löste sich der Bann, den der stille Ausklang der Rückert-Vertonungen Gustav Mahlers und Fischer-Dieskaus unvergleichliche Piano-Vision "Sie ruhn als wie in der Mutter Haus" auf die Hörer gelegt zu haben schien. Dem folgte, versteht sich, die triumphale Ovation, die der Leistung entsprach. Interpretationen, die solcherart imstande sind, zu bewegen, etwas zu bewegen auf dem Weg zum Kunstwerk, gelingen im öffentlichen Konzertleben auch einem Meister wie Fischer-Dieskau nicht jeden Tag.

Es traf sich ideal, daß der Sänger, der musikalisch das Extrem sucht, um den Partituren auf den Grund zu kommen, als Partner das Concertgebouworkest mit Haitink zur Verfügung hatte, Musiker mit ungebrochener Mahler-Tradition, die in Amsterdam weitergereicht wird, seit der Komponist selbst dort seine Werke dirigiert hat, darunter die "Kindertotenlieder". Diese fünf Stücke, die Mahler vollendete, während er glücklicher Vater zweier gesunder Töchter war, und die sich als eine Herausforderung des Schicksals, wie Alma Mahler sie sah, mit dem Tod der Ältesten wenig später unheimlich bestätigten, sind aus diesem biographischen Zusammenhang für den Hörer kaum zu lösen. "Die Assoziation mit dem tragischen Ereignis in Mahlers Familienleben trübt unseren Blick und unser Gehör für das historisch Ereignishafte der Musik", schreibt Blaukopf. Fischer-Dieskaus Interpretation, die wütenden Schmerz darstellt, der sich nicht abfinden will ("Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen"), und das "Leuchten" der (Kinder-)Augen als verlorenes musikalisches Paradies oder den Trost der "Sterne" im Zwielicht – diese Interpretation ist nach allen dynamisch-stimmlichen Extremen, in die sie sich ausdrucksmächtig wirft, imstande, das Sublimierende der Mahlerschen Partitur (auch gegenüber den Gedichten) als wesentlichen Eindruck zu hinterlassen. In diesem Balance-Kunststück ist Fischer-Dieskau nicht zu übertreffen.

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Sybill Mahlke

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     Berliner Morgenpost, 16. September 1982     

    

Ovationen für Fischer-Dieskaus Mahler-Lieder

   

Wenn ein Künstler wie Dietrich Fischer-Dieskau sich anschickt, die fünf Kindertotenlieder von Mahler zu singen, dann weiß man schon im voraus: Es wird eine unanfechtbare, tief zu Herzen gehende, atmosphärisch dichte Interpretation geben. Vor vielen Jahren hat Fischer-Dieskau das zusammen mit Lorin Maazel und dem Radio-Symphonie-Orchester erlebbar gemacht; den interpretatorischen Glücksfall zu wiederholen, glückte dem Sänger nun auf faszinierend hinreißende Weise.

Wie Fischer-Dieskau diese todtraurigen Grabgesänge gestaltet, das macht ihm so leicht keiner nach: Mit großem sängerischen Atem sowie mit einem ernormen Schub an Ausdrucks- und Gestaltungskraft, die jedes einzelne Lied bis zum Rand ausfüllt mit höchster Expressivität, berückender Schönheit und Erschütterung.

Erst nach einigen Verzögerungsmomenten rauschte der Beifall auf, der sich dann zu Ovationen steigerte.

Der Applaus für das Concertgebouworkest fiel bei weitem nicht so lebhaft aus. Und das mit Recht. Denn die holländischen Musiker erwiesen sich zwar als höchst aufmerksame Begleiter, sie waren aber nicht mit der gleichen hochgespannten Intensität wie Fischer-Dieskau bei der Sache. Und auch bei Mahlers 7. Symphonie, die den Kindertotenliedern folgte, zeigte das Orchester nicht das ganz große künstlerische Format.

Allerdings ist die Siebente für jeden Dirigenten eine schwer zu knackende Nuß: ein Werk von innerer Zerrissenheit und Gebrochenheit, in dem Elan und Mattigkeit, weltabgewandte Entrücktheit und polyphone Geschäftigkeit eine merkwürdige, schwer aufzuschlüsselnde Mischung eingehen.

So sehr es Bernhard Haitink zu danken ist, daß er sich bereiterklärt hat, für den Mahler-Zyklus der Festwochen dieses Werk beizusteuern, ganz glücklich wurde man mit seiner Aufführung nicht. Haitink rückt der Siebenten vornehmlich mit interpretatorischer Gradlinigkeit und Kernigkeit zu Leibe. Mit solch ziemlich robuster Musizierweise wurde nur eine Seite dieser Musik getroffen. Alle anderen Seiten dieser Partitur klangen nicht auf.

W. Sch.

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