Zur Liedermatinee am 5. September 1982 in Berlin

    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 7. September 1982     

    

Sehnsucht nach dem Tode

Philharmoniker mit Zender – Fischer-Dieskau mit Sawallisch

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Mahlers Musik, befand Adorno, hat es stets "mit denen gehalten, die aus dem Kollektiv herausfallen und zugrundegehen, mit dem armen Tambourgsell, der verlorenen Feldwacht, dem Soldaten, der als Toter weiter die Trommel schlagen muß". Auch Dietrich Fischer-Dieskau hält es mit ihnen: Von den "Wunderhorn"-Liedern des Programms, mit dem er die Deutsche Oper bis zum letzten Platz füllte, gelangen ihm, dem noch fast immer alles gelingt, diejenigen am besten, in denen von den Geschlagenen die Rede ist – vom Gefangenen im Turm, der dem Kerkermeister und dessen Dienstherrn seinen wilden Trotz entgegenschreit, vom Deserteur, der zum Galgen geführt wird, vom toten Tambour, der mit seinen gefallenen Kameraden vors Haus der Liebsten zieht, vom hungernden Kind, das an Entkräftung stirbt, bevor das rettende Brot aus dem Backofen geholt werden kann. Die bohrende Eindringlichkeit, mit der Fischer-Dieskau die Situationen und Reaktionen der Betroffenen vergegenwärtigte, schlug die Zuhörer sofort in Bann. Unwiderstehlich auch die grimmige Pointierungslust, mit der er, von Wolfgang Sawallisch routiniert begleitet, "Des Antonius von Padua Fischpredigt" vortrug: Die Fische hören dem Heiligen zwar gern zu, aber ihre Einigkeit endet zusammen mit der Predigt – der Hecht ist ein Hecht, das Opfer ein Opfer geblieben.

Wo Mahlers Naturseligkeit im Zeitbedingten, im bloß Ersehnten und Erdachten verhaftet ist, kann allerdings auch ein Sänger von der Identifizierungsbereitschaft Fischer-Dieskaus nicht allzuviel ausrichten. Das vokale Scherzando "Ablösung im Sommer" beispielsweise blieb ihm samt Kuckucksruf und Nachtigallenschlag im Neckischen hängen, sollte wohl überhaupt nicht von einem Baritonisten, sondern von einer koloraturgewandten Sopranistin gesungen werden. Zum Schluß gab’s eine zugabenkräftige Ovation.

Hellmut Kotschenreuther

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     Berliner Morgenpost, 7. September 1982     

  

Von Tod und Aufbegehr

Mahler-Liederabend mit Fischer-Dieskau und Sawallisch

    

Enthusiasmus schon vor Beginn, zwischendurch und am Ende in unermüdlichen Wellen: Die Lieder-Matinee Dietrich Fischer-Dieskaus mit Wolfgang Sawallisch am Klavier in der Deutschen Oper hat inzwischen Festwochen-Tradition. Sie gehört regelmäßig zu den Höhepunkten des Berliner Musikjahrs, und dieser Verpflichtung wurde sie auch diesmal auf herrliche Weise gerecht.

Wie könnte es anders sein bei der diesjährigen Festwochenthematik: Fischer-Dieskau sang ausschließlich Lieder von Gustav Mahler, Stücke unter ihnen, die man eher Gesänge nennen mag, so sehr zielen sie über die Lied-Miniatur hinaus und visieren die Großform, die musikalisch mächtig ausladende Gebärde, an: Stimm-Sinfonien sozusagen, als Lieder getarnt.

Was in Mahlers "Wunderhorn"-Liedern geradezu überwältigt, ist die Todesverfallenheit vieler Stücke – und die bizarre Fröhlichkeit des Aufbegehrens gegen sie. Auffällig auch das immer wiederkehrende Umkreisen Wozzeck-gleicher Muschkoten: der Tambour-Gesellen, Schildwachen, armen Soldaten. Allen Bundeswehren der Welt sollte man eigentlich diese Mahler-Lieder täglich, vor dem Frühsport noch, spielen.

Fischer-Dieskau gewann dem Mahlerschen Witz wie der Mahlerschen Tragik unüberbietbar viele Facetten ab, von Sawallisch dabei intensiv unterstützt. Vereint boten beide – anders als viele Festredner – die denkbar kunstreichste Einführung in das Riesenwerk Mahlers, und zwar von innen heraus.

Klaus Geitel

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     vermutlich Die Welt, 23. September 1982     

     

Der Mahler-Zyklus bei den Berliner Festwochen

Teufelstanz mit Folia

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Es ist klar, daß die 10. Sinfonie in Cookes Reinschrift nicht gerade unter die Meisterwerke Mahlers gerechnet werden kann. Aber der kompositorischen Reputation Mahlers schadet die Rekonstruktion nun auch wieder nicht. Sie geht mit Sorgfalt vor. Sie kommt zu originellen Formulierungen. Sie hat Würde und bemüht sich nie, mahlerischer als Mahler zu klingen. Spielte man sie nur öfter, sie gewänne sich wahrscheinlich mit der Zeit Heimatrecht im Konzertsaal.

Vor allem im 2. Scherzo, dem "Teufelstanz", wie in der Abgeklärtheit des Finalsatzes besitzt Cookes Fassung wiederholt den Reiz des Authentischen. Chailly und sein Orchester waren dem befragungswürdigen Stück hochberedte, überzeugende Anwälte. Das waren natürlich auch Dietrich Fischer-Dieskau mit Wolfgang Sawallisch am Klavier den Mahler-Liedern, die oft über lyrische Miniatur zu Gesängen von derart musikalisch mächtiger Gebärde sich weiten, daß sie Stimm-Sinfonien gleichen, als Lieder getarnt. Was in Mahlers "Wunderhorn"-Liedern geradezu überwältigt, ist die Todesverfallenheit vieler Stücke – und die bizarre Fröhlichkeit des Aufbegehrens gegen sie. [...]

Klaus Geitel

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