Zum Liederabend am 15. August 1982 in Luzern

    

     Neue Zürcher Zeitung, 19. August 1982     

    

Ein Schoeck-Liederabend

     

Der Liederabend des Baritonisten Dietrich Fischer-Dieskau verstand sich als Gedenkkonzert zum 25. Todesjahr des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck (15. August, Kunsthaus). Der Sänger begann mit dem "Reiselied" und schloß den Programmteil mit dem "Wanderlied der Prager Studenten". Frühe und spätere Lieder waren gemischt. Unter den wichtigen "Schoeck-Dichtern" fehlte nur Lenau. Stark vertreten waren Keller und C.F. Meyer. Auf die Darstellung eines Zyklus verzichtete der Interpret – er hielt sich an die Idee der "Ausgewählten Lieder".

So waren auch nicht thematische Schwerpunkte oder Entwicklungslinien auszumachen. Besinnliches stand neben Ausgelassenem, ein verschwenderischer Hafis neben einem in der Vertonung ganz nach innen gewandten Goethe. Trotzdem wirkte der Ablauf der beiden Konzerthälften nicht zufällig oder improvisiert – obwohl der Sänger sich nicht ans gedruckte Programm hielt, auch nicht an die Folge auf dem revidierten Beiblatt. (Wegen einer witterungsbedingten Zugverspätung konnte der Rezensent die erste Liedgruppe nur indirekt mitverfolgen.)

Stimmlich war der Künstler in bester Verfassung. Gestalterisch zeigte er einmal mehr seine reife Überlegenheit und die Bereitschaft zu ungewohnten Lösungen. Man bewunderte Vokaleinfärbungen, eine wahrhaft erhellende Diktion, in Hesses "Das Ziel" prächtig fundierte Töne im Baßregister, in Goethes "Dämmrung senkte sich von oben" auch die Fähigkeit, Sprache ganz in Klang aufgehen zu lassen, der Diktion die Überdeutlichkeit "suspendierend" zu verschleiern. Die Tiefe und die Spannweite der Schoeckschen Gefühlspalette wurde ausgelotet – gleichgestimmt sekundiert von Jörg Demus am Flügel, der behutsam Lichtglitzer setzte, Nachklänge verzittern ließ. Das angeregte Publikum erklatschte sich drei Zugaben in einem Abend, der belegt hatte, daß die Vielfalt und der Spannungsreichtum der Schoeckschen Liedwelt ein Konzertprogramm nicht nur "bestreitet", sondern einen Schwerpunkt in einem Festwochenzyklus bilden kann.

rur.

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     Basler Zeitung, 18. August 1982     

    

Internationale Musikfestwochen Luzern

Haydn und Schoeck

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Am selben Abend wurde im Kunsthaus an das 25. Todesjahr des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck erinnert – und daß dies gerade in einem ausschließlich Schoeck gewidmeten Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus geschah, verlieh dem Anlaß seine besondere Note. Der weltberühmte (und auch vom Luzerner Publikum entsprechend bejubelte) Bariton setzt seinen Namen immer wieder für schwierige und unbequeme Musik ein: Daß er bei den Festwochen von 1974 Ernst Kreneks Liederzyklus "Spätlese", mit dem Komponisten am Klavier, vor leeren Reihen zur Aufführung brachte, bleibt als Ausdruck eines glaubwürdigen Engagements ebenso in Erinnerung wie jetzt sein Einsatz für Schoeck.

Im Gegensatz zum Abend mit Krenek herrschte diesmal auf seiten des Publikums einhellige Zustimmung – und das liegt wohl auch ein wenig auf der Hand, denn Schoeck ist ja nicht Krenek. Dennoch ist eine behutsam führende Hand vonnöten, soll das auf Konventionelles ausgerichtete Festwochenpublikum in die anspruchsvolleren Gefilde von Schoecks esoterischem Ausdruck geführt werden. Daß sich Fischer-Dieskau gerade diese Aufgabe nicht leicht gemacht hat, erwies die Tatsache, daß die Reihenfolge der vorgetragenen Lieder bis zum Auftritt selbst unklar blieb – doch nach den drei Zugaben war vollends klar, daß der Sänger für den noch immer verkannten Komponisten eine Lanze gebrochen hatte.

Manchem Zuhörer wird die Feststellung leicht gefallen sein, Dietrich Fischer-Dieskau sei nicht mehr der gleiche wie ehedem: die hie und da auftretenden Zeichen von Anstrengung ließen erkennen, daß der Sänger den Zenit überschritten habe. Kunststück! mit 57 Jahren singt man allemal anders als mit 45 – doch betrifft das nur die stimmlichen Möglichkeiten, keinesfalls aber das interpretatorische Können, über das der Sänger nach wie vor uneingeschränkt verfügt und das ihn sicher vom naiv zupackenden "Reiselied" bis in die schwierige Prosa von "Ach, wie schön ist Nacht und Dämmerschein" führte. Und wie er sein Publikum zu bezwingen wußte, wie er seinem profiliert und jederzeit präsent agierenden Begleiter Jörg Demus in den teils ausführlichen Nachspielen die Aufmerksamkeit der Zuhörer sicherte – das zeugte von ungebrochener Wirkung.

Peter Hagmann

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     LNN (Luzerner Neueste Nachrichten?), 17. August 1982     

    

IMF 82: Schoeck-Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Romantik – mit und ohne Vorbehalt

   

Im (leider einzigen) Liederabend der diesjährigen IMF sang Dietrich Fischer-Dieskau ausschließlich Klavierlieder von Othmar Schoeck (1886-1957). Am Flügel begleitete, wie schon 1979, Jörg Demus. Das Publikum ließ sich auch durch die Unannehmlichkeit von drei verschiedenen Programmvarianten nicht davon abhalten, den großen Liedersänger stürmisch zu feiern.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tode des bedeutenden Schweizer Komponisten Othmar Schoeck ist es um Schallplatteneinspielungen seines Liedschaffens noch immer desolat bestellt. Ein Doppelalbum, von Jecklin mit Arthur Loosli aufgenommen, ist noch greifbar. Aufnahmen von Dietrich Fischer-Dieskau hingegen wurden (dem Vernehmen nach) nicht mehr nachgepreßt. Ob man im heurigen Gedenkjahr etwas erwarten darf, vielleicht gar von Fischer-Dieskau?

Jedenfalls ist es sehr dankenswert, daß sich der Sänger zu einem reinen Schoeck-Abend hatte bewegen lassen. Und es wäre ja denkbar, den erstellten Mitschnitt als Platte herauszubringen. Oder handelte es sich eher um eine öffentliche Hauptprobe für eine spätere Studioaufnahme?

Auf diesen Gedanken konnte einen das mühsame Vexierspiel mit der bangen Frage: "Was singt er nun tatsächlich als Nächstes?" bringen. Galt nun das Programmbuch, das Textheft oder der nachgereichte Programmzettel? Nichts von allem! Das desorientierte Publikum klatschte prompt erst einmal zu früh, dann aber erst wieder auf das eindeutige Signal hin: Jetzt dürft ihr. Leider wurde man weitgehend daran gehindert, sich dem Ablauf einer sicher vorhandenen Programmidee gesammelt hinzugeben.

Das Reiselied zu Beginn war nicht das innig gläubige "So ruhig geh ich meinen Pfad", op. 30, Nr. 4 (Textheft), sondern das volksliedhaft muntere "Durch Feld und Buchenhallen", op. 12, Nr. 1. Mit Eichendorff begann der Abend, mit dessen Wanderlied der Prager Studenten "Nach Süden nun sich lenken" klang er, wiederum recht extrovertiert, aus. Zwei Paradestücke von absoluter Publikumswirksamkeit also als Rahmen, mitreißend vorgetragen.

Die romantische Phantastik in "Frühgesicht" von Gottfried Keller und "Reisephantasie" von Conrad Ferdinand Meyer wurde packend gestaltet. Nach innen ging die Reise auch, ins Nächtige und Jenseitige, besonders eindrucksvoll im bekannten Eichendorffschen "Nachruf", ergreifend ebenso im sehnsuchtsvollen Aufleuchten ("Wir wollen dennoch singen"), wie im sotto voce verklingenden "Und nehmen uns zu sich".

Hesse und Hafis

Einen bedeutenden Schwerpunkt der zweiten Programmhälfte setzten fünf Lieder nach Hermann Hesse (eins davon freilich zur ersten Zugabe umfunktioniert und aus dem Zusammenhang gerissen). Wie nahe muß Schoeck die "Romantik mit Vorbehalt", dieses nur zögernd und dauernd reflektierende sich Hingeben in diesen Texten nahegestanden haben. Man spürt, wie der Komponist den adäquaten Ton suchte – verschieden vom Tonfall jener, die man gemeinhin als Romantiker bezeichnet. Mir schien, auch der Sänger bewege sich tastend in einem schwer sich erschließenden Bereich, behutsam zurückhaltend. Vielleicht war er dem Gesuchten am nächsten in der seltsam zwielichtigen Impression "Im Kreuzgang von Santo Stefano" und der abgeklärten Resignation des Einsamgewordenen ("Im Nebel").

Mit mehr als einem der Hafis-Lieder hätte sich Fischer-Dieskau höchste dankbare Aufgaben auslesen können. "Ach, wie schön ist Nacht und Dämmerschein" bewies das. Ob sie aber besonders typisch für Schoeck gewesen wären?

Dietrich Fischer-Dieskau und Jörg Demus: Ein Gespann, bei dem meisterliche Führung des Sängers und inspirative Zuverlässigkeit des Pianisten sich längst eingespielt und auch diesmal wieder bewährt haben. Ein Abend, der höchste Ansprüche befriedigte, wenn auch nicht immer letzte Intensität des Ausdrucks erreichte.

Linus David

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     Luzerner/Zuger/Nidwaldner Tagblatt, 17. August 1982     

    

Ein Abend mit Schoeck

Dietrich Fischer-Dieskau sang am Liederabend der IMF Werke von Othmar Schoeck

   

Der einzige Liederabend der diesjährigen Festwochen war dem Innerschweizer Komponisten Othmar Schoeck gewidmet. Dietrich Fischer-Dieskau, der sich schon seit Jahren für das Liedwerk Schoecks einsetzt, bürgte für einen einmaligen Abend. Jörg Demus begleitete am Klavier.

Über Schoeck und die Pflege seines Werkes in der Zentralschweiz wurde zu Recht in letzter Zeit viel geschrieben (siehe Festwochenbeilage vom Donnerstag), ich brauche hier darauf nicht einzugehen. Daß aber ein Wortkünstler wie Dietrich Fischer-Dieskau sich dem Liedwerk Schoecks annimmt, darf geradezu als Glücksfall bezeichnet werden.

Othmar Schoeck, dessen eine Lebensaufgabe es war, das lyrische Werk seiner geistigen Lehrer Schubert und Wolf fortzusetzen, kommt in seinem bis in alle Details auskomponierten Liedern der Kunst Dieskaus sehr entgegen. Das doppeldeutige und sinnige Schwanken zwischen fast Gesprochenem und voll Gesungenem ist bei Dieskau bestens aufgehoben. Seine zweifellos sehr persönliche Art der Wortausdeutung, der sängerischen Formulierung, trifft auf ein wesentliches Moment der Schoeckschen Kunst.

Die Kunst des Überganges

Dabei geht Dieskau weit in den Extremen: Neben vollsten Klängen stehen unversehens kaum gesprochene, nur hingehauchte Worte, wie etwa in den Hesse-Vertonungen "Ravenna" oder "Das Ziel". Daß dabei Lustiges in "Ach, wie schön" (Hafis) oder auch fast Vulgäres im einmaligen "Wanderlied der Prager Studenten" (Eichendorff) mitklingen, ist selbstverständlich. Dieskau nimmt auch einiges an intonatorischen Ungenauigkeiten und sogar an Unverständlichkeit des Textes in Kauf, wenn es darum geht, Sprachliches in Klang aufzulösen. Diese Wortkunst scheint mir allerdings nur eine Seite der Ausdrucksmöglichkeiten Schoecks zu treffen. Die wunderbare Einfachheit, die Schoeck in Liedern wie "Nachruf" (Eichendorff) erreicht hat, findet nicht gesanglichen Ausdruck. Auch solche Vertonungen bleiben bei Dieskau im hoch Artifiziellen. Es gibt bei ihm kaum eine Zeile Text, die als klangliche Einheit gebracht wird. Er sucht fast durchwegs Übergänge. Solche Einschränkungen müssen natürlich in Relation zu der ganzen Fülle von sängerischer Ausdruckskraft des Dietrich Fischer-Dieskau gesehen werden.

Ein zurückhaltender Pianist

Jörg Demus, ein nicht minder berühmter Mann als Pianist und Begleiter, blieb ein wenig im Schatten des Sängers. Wohl bewußt zeichnete er nicht immer alle Schattierungen mit, sondern wahrte oft einen einheitlichen Hintergrund. Bei den wenigen Nachspielen, die ihn solistisch zeigten, übernahm er bewußt die Kunst des Ausdeutens.

Der Schoeck-Abend mit Fischer-Dieskau und Demus wurde zum Erlebnis auch deshalb, weil die Gedichte von Goethe bis Hesse um Erinnerung und Hoffen, um Diesseits und Jenseits kreisen. Es ging um ein Werk, das "auf tiefbewegende Weise von den ewigen Dingen, von der inneren Musik der Welt zu künden und von einem versinkenden Reich der Schönheit einen Hauch in unsere Zeit hinüberzuretten weiß..." (aus der Laudatio für Schoeck des Tonkünstlervereins, 1945).

Peter Siegwart

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     Vaterland, 17. August 1982     

   

Der Liederabend der Internationalen Musikfestwochen

Fischer-Dieskau sang Schoeck

    

Einer der Kontrapunkte des IMF-Themas "England" ist Othmar Schoeck, der vor 25 Jahren starb. Seinem Klavierlied, das in seinem Schaffen eine zentrale Stellung einnimmt, war denn auch der Liederabend gewidmet, den Dietrich Fischer-Dieskau – begleitet von Jörg Demus – gestaltete.

Dietrich Fischer-Dieskau hatte schon als junger Sänger zu den berufenen Interpreten des Liedguts von Schoeck gehört. Damals lag der Schwerpunkt seiner Ausdeutungen vorwiegend auf der lyrischen Ebene. Inzwischen hat er sich, nach vielseitiger Bühnenerfahrung, auch in der Liedinterpretation vermehrt dramatische Ziele gesetzt. Eine Zeitlang war er hierin sogar so weit gegangen, daß er den Rahmen des intim-kammermusikalischen Genres wohl mitunter sprengte. Nun hat er eine beeindruckende Verschmelzung beider Komponenten anzubieten, die dank der Überlegenheit der Gesangstechnik und der ebenso subtilen wie meisterhaften Sprachbehandlung ein vollständiges Ausschöpfen der jeweiligen poetischen und musikalischen Gehalte sichert. Gewisse Eigenheiten sind typisch für seinen Vortragsstil: Das gelegentliche Hauchen von Anfangsworten oder –silben in Momenten der dramatischen Spannungsverdichtung, das steile Auf- oder Abschwellen einzelner Details, die Gefühlswallung nachzeichnend, die mit ihnen ausgedrückt sind, das unglaublich fein nuancierte Timbrieren in allen Schattierungen vom Schalkhaften, Ironischen über Enthusiasmus, Trotz und Triumph bis zu Resignation und Ergebung, viele Grade oft in ein und demselben Atemzug. Übrigens: Atem! Es ist nicht so, daß Dietrich Fischer-Dieskau "der Atem reicht" für weit geschwungene Bögen, im Piano für den Zusammenzug zweier auch langer Verszeilen, sondern er strömt ihm stets reichlich und im Überfluß. Zum künstlerischen Genuß tritt für den Hörer das Wohlgefühl des Geborgenseins in einer absolut sängerischen Souveränität, der, nachdem alle Schwierigkeiten gemeistert wurden, nun alles leicht geworden ist.

Diese hohe Kunst nun also lieh Fischer-Dieskau mit seinem ebenso einfühlenden wie pianistisch überragenden Partner Jörg Demus einer Auswahl von Liedern, die verschiedene Entstehungsepochen und Textdichter, auch diverse Formen von der schlichten Strophe bis zur großen durchkomponierten Dichtung umfaßte. Wie stets nach einem Konzert, in welchem vom ersten bis zum letzten Takt dasselbe absolute Niveau eingehalten wird, ist es für den Berichterstatter sinnlos, aus dem Ganzen Einzelnes herausheben und damit "auszeichnen" zu wollen, wo es nichts vor allem anderen auszuzeichnen gibt. Ich kann höchstens subjektiv feststellen, daß mir von den Gedichten und der Musik her die Hesse-Gruppe besonders nahe stand in ihrer Konzentriertheit und nahezu aphoristischen Formulierung, welche die Interpreten bis in jeden künstlerischen und emotiven Winkel ausleuchteten, und daß ich von der verkappten Schelmerei des Hafis’schen Lobgesanges auf Wein und Liebe in der gekonnt-pikanten Darstellung Fischer-Dieskaus entzückt war. Daß Jörg Demus das prächtige Waldesrauschen am Schluß von Meyers "Jetzt rede Du!", sein einziges wirklich großes Solo, mit suggestiver Klangpracht darbot, das ist nun freilich nicht mehr subjektiv, sondern objektive Tatsache. Man ließ sich überhaupt vom bescheidenen Auftreten dieses Pianisten leicht täuschen, der ein eminenter Könner und fabelhafter Begleiter ist – Fischer-Dieskau weiß das natürlich längst, der ihn immer wieder als Partner aufbietet und sich auf ihn blindlings verlassen kann. So wurden denn beide Künstler von Ovationen umbrandet, die sie mit einigen wiederum exquisiten Zugaben schließlich zur Ruhe brachten.

Rita Wolfensberger

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