Zum Konzert am 9. August 1982 in Salzburg


     

     Süddeutsche Zeitung, 11. August 1982     

     

Salzburger Festspiele

In Idealbesetzung

Zemlinskys "Lyrische Symphonie" im vierten Orchesterkonzert

      

Ursprünglich war im vierten Orchesterkonzert, welches das ORF-Symphonieorchester unter der Leitung seines neuen Chefs Lothar Zagrosek bestritt, die Uraufführung eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester von HK Gruber vorgesehen. Es wurde nicht fertig, und man setzte Grubers Violinkonzert in einem Satz mit dem Titel "...aus Schatten duft gewebt" aufs Programm. [...]

Den Höhepunkt aber bildete die "Lyrische Symphonie" in sieben Gesängen nach Gedichten von Tagore für Orchester, eine Sopran- und eine Baritonstimme, op. 18, von Alexander Zemlinsky. Ein herrlich schillerndes Werk, das zwischen den Zeiten zu wandeln scheint, das, wenn es ums Blech geht, unbekümmert Anleihen macht bei Tschaikowsky, das in der Stimmführung sich Berlioz wie Mahler verwandt weiß, dann wieder an Schönberg erinnert, das entfesseltes Pathos verkündet und dann plötzlich wieder ganz still auf der Stelle zu verharren scheint. Zagrosek dirigierte das Werk mustergültig genau, voll Temperament und doch ganz hellhörig.

Kein Zweifel aber, daß an der wirklich großartigen Wiedergabe die Solisten entscheidenden Anteil hatten: Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau. Das dreistrophige "Ich bin friedlos" führte Fischer-Dieskau vom Aufschrei über die menschliche Begrenzung bis hin zur demütig eingestandenen Resignation. Und wenn Julia Varady im vierten Gesang "Sprich zu mir, Geliebter" diese Bitte ganz zurückhaltend, flehentlich formuliert, dann ist auch das großartig gestaltet. Kein Wunder, daß zwei Künstler solchen Ranges Bartoks "Blaubart" hinreißend interpretieren können.

Mit Recht Ovationen für Julia Varady, Dietrich Fischer-Dieskau, den überaus zuverlässigen Dirigenten und ein glänzend disponiertes Orchester.

Baldur Bockhoff


    

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. August 1982     

    

Salzburger Orchesterkonzerte

Konzertierende und Lyrische Sinfonie

[...]

Mit einem Programm von Musik des 20. Jahrhunderts erfreute im 4. Orchesterkonzert das Orchester des Österreichischen Rundfunks unter Lothar Zagrosek. Hauptwerk des Abends war die "Lyrische Symphonie" von Alexander Zemlinsky. Sie ist im Urteil der Welt in den letzten Jahren gewachsen. Der eigentümliche, zwischen Liedmelodik und symphonischem Geist alternierende Stil des siebensätzigen Stücks hält einen bedeutenden Moment in der neueren Musik fest. Zwischen Gustav Mahler und Arnold Schönberg verkörpert Zemlinsky als Schaffender eine moderne Romantik, die sich mit Wiener Sezession und Jugendstil fruchtbar verbindet. Neben manchen Süßlichkeiten, die an die Schwächen Franz Schrekers erinnern, stehen immer wieder Einfälle von edlem und verinnerlichtem Ausdruck. Wie Zemlinsky in den Gedichten von Rabindranath Tagore die visionären Bilder aufspürt und musikalisch nachmalt, das ist Zeichen reicher Eingebung und überragender Satztechnik.

Mit Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady waren zwei Solisten gewonnen, die an dieser Aufgabe ihre Berufung schon mehrfach bewiesen haben. Schon das erste Baritonlied "Ich bin friedlos", aber auch das abschließende "Friede, mein Herz" sang Fischer-Dieskau mit einer stimmlichen Wärme und einem Ausdrucksreichtum ohnegleichen. Nicht minder ging seine Stimme im dritten und fünften der Gesänge "von Herzen zu Herzen".

Und neben ihm die gleichgestimmte Sängerin und Gefährtin Julia Varady mit dem ebenmäßig schönen, von der Lyrik ins Hochdramatische reichenden Sopran, erstaunlich im Schluß des sechsten Liedes mit dem großen Fortissimo-Ausbruch. [...]

H. H. Stuckenschmidt


   

     Salzburger Nachrichten, 11. August 1982     

    

Schönbergs Schwager und Bergs Nachfahr

ORF-Symphonie-Orchester unter Lothar Zagrosek –
Erfolg für Zemlinskys "Lyrische Symphonie"

     

Vor acht Jahren sandten das "Musikprotokoll" des "Steirischen Herbstes" und ein ihm zugehöriges Symposion erste wesentliche Impulse zur Wiederentdeckung des Schaffens von Alexander Zemlinsky (1871 bis 1942), dem Lehrer und Schwager Arnold Schönbergs, aus. Es ist wohl nicht vermessen, zu sagen, daß die Früchte der damaligen Saat inzwischen allenthalben aufgegangen sind. Man setzt sich mit Zemlinskys Werken neu auseinander, auf der Opernbühne – Beispiel dafür ist die "Florentinische Tragödie" – und neuerdings auch auf der Schallplatte.

Dennoch erwiesen sich selbst solche Protagonisten von Rang wie Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau nicht als zugkräftig genug, am Montag das Kleine Festspielhaus restlos zu füllen, wo als Hauptwerk im ersten Gastkonzert des ORF-Symphonie-Orchesters unter seinem Chefdirigenten Lothar Zagrosek – er ist seit 1. August im Amt – Zemlinskys "Lyrische Symphonie in sieben Gesängen" nach Gedichten von Rabindranath Tagore für Orchester, eine Sopran- und eine Baritonstimme, op. 18, erklang. Das Werk, 1922/23 entstanden und am 5. Juni 1924 beim Prager Musikfest uraufgeführt, läßt nicht von ungefähr an Mahlers "Lied von der Erde" denken. In seiner quasi-dramatischen Form geht es aber über dieses noch hinaus, das Reflexive scheint zugunsten einer "Handlung" hintangestellt, was dem Stück Lebhaftigkeit und drängenden Impetus verleiht. Solche Zeichen hat das anwesende Publikum schließlich doch erkannt: annähernd gezählt, dürfte es rund fünfzehn "Vorhänge" gegeben haben – ein fulminanter Erfolg, der mehreren glücklichen Umständen zuzuschreiben ist.

Zemlinskys kapitales Werk ist kompositionstechnisch dicht gewoben, was von vornherein den Vorwurf eines spätromantisch übersteigerten Eklektizismus erschwert und diese Symphonie durchaus als ein Stück sui generis erkennen läßt. Hinzu treten die Finessen einer überlegten Instrumentation, die zeigen, wie genau der Komponist sein Handwerk beherrschte, ohne deswegen ins bloß Handwerkliche zu gleiten, und – für den Hörer nicht unwesentlich – die "dialogische" Führung der Singstimmen, die das Verständnis auch des gesamten Gebildes durchaus erleichtert. Atmosphäre und Stimmung scheinen demnach eingebunden in ein übergeordnetes Konzept, das keineswegs esoterisch verschlüsselt wirkt, sondern sich wirkungssicher erschließt.

Mit Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau standen zudem zwei Interpreten auf dem Podium, die der "Lyrischen Symphonie" jede nur erdenkliche Aufmerksamkeit widmeten. Frau Varadys leuchtender Sopran, dem, je nach Anforderung, zwar schwingende Leichtigkeit ebenso zu Gebote steht wie die herbere Färbung oder impulsive Kraft (etwa im sechsten Gesang "Vollends denn das letzte Lied") schmiegte sich dem Text famos an. Dietrich Fischer-Dieskaus Genauigkeit der Deklamation, seine stupende Technik durch alle Lagen, sein untrügliches Gespür für dynamische Akzentsetzungen wirkten erregend in der geistig-vokalen Durchdringung des Stoffes.

Einer solchen minutiösen "Ausleuchtung" des Geschehens folgte auch das ORF-Orchester mit stetig wachsender Aufmerksamkeit. Hätte man sich gewünscht, daß Zagrosek in den tumultuösen Anfangsteilen den Klang besser dosierte – was freilich auch auf die Akustik des für derartige Wucht doch zu kleinen Hauses zurückzuführen sein mag -, so fand er spätestens ab dem vierten Gesang zu einer wunderbaren Harmonie. Vor allem die klar gerundeten Soli des Blechs, aber auch die schön geschwungenen Kantilenen der Streicher sprachen für eine Vertrautheit, die von sorgfältiger Vorbereitung kündet. [...]

Karl Harb


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