Zur Liedermatinee am 25. Juli 1982 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, München, 26. Juli 1982     

    

Dem Entstehen von Kunst beiwohnen

Lieder-Matinee mit Fischer-Dieskau und Barenboim im Nationaltheater

     

Die Mörike-Lieder Hugo Wolfs waren klug und sanft gemischt – Gedankenlyrik und Balladeskes, Genrestücke und Naturschwärmerei, um die breite Palette des Komponisten wie seiner Interpreten zu zeigen. Wer die Schallplatteneinspielung dieser Lieder von Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim kennt und rechtens liebt, mochte der Live-Demonstration erwartungsvoll, vielleicht auch ein bißchen bänglich, entgegenhören.

Die Problematik einer fünfunddreißigjährigen Sängerkarriere ist bekannt, und es geschieht mit dem Hut in der Hand zu konstatieren, daß Fischer-Dieskau heute immer dann am beglückendsten singt und uns am glücklichsten macht, wenn die musikalische Gedankenarbeit unverfälscht, also ohne besondere stimmliche Anspannungen und Anstrengungen, zu uns sprechen darf. "An den Schlaf", "Um Mitternacht", die beiden "Peregrina", "Lebe wohl" ... reine Beglückung durch die eminente Kunstfertigkeit, am stimmlich genau dosierten Geschmack, an der Durchdringung des Textgehalts (den Wolf selbst stets erst einmal vorzulesen pflegte, um dann die Vertonung folgen zu lassen).

Dann gibt es jene Lieder, in denen die so souverän beherrschte Kunstfertigkeit das physiologische Stimmwunder beschwören möchte oder nur zu kaschieren vermag, dann regiert der Intellekt, der musikalische Geschmack drängt sich gebührend vor, um dem Hörer die Teilnahme am interpretatorischen Entstehungsprozeß zu ermöglichen.

Und dann bleiben freilich noch die balladesken Lieder, in denen die erzählerische Intelligenz alle rein musikalischen Überlegungen schier überrumpelt – im "Feuerreiter", "Zur Warnung" (wo dem Sänger der Katzenjammer in anschauliches Krächzen gerinnt) oder im "Abschied" vom Herrn Rezensenten. Das hatte Witz und Intensität und Dramatik, an dem Daniel Barenboim nicht nur gebührend Anteil hatte, sondern den er großenteils vom Flügel aus pianistisch-kunstvoll steuerte.

Ohne seinen herrlich beherrscht-vollen Klavierton bliebe manches ungehört: ob die sanfte Intensität in "An die Geliebte" oder die schwungvoll vertrackten Nachspiele im "Jäger", im "Abschied" oder im "Feuerreiter". Barenboims pianistische Kunst macht bei der Begleitung nicht halt, der "Kapellmeister", der auch vom Pult her seinen Sänger-Freund genau kennt, tritt in den Wolf-Liedern ganz bewußt, ganz genau aus der Klangkulisse und hinter sie, ohne jede Eitelkeit und ohne jede Spur von gar unbeteiligter Zurückhaltung. Ein Vergnügen, diesen großen Künstler gemeinsam mit Fischer-Dieskau am Werk zu sehen – vier Zugaben beendeten eine Matinee im überfüllten Nationaltheater, die nicht allein durch ihre Kunst beeindruckte, sondern durch die Möglichkeit, dem Entstehen von Kunst unmittelbar beizuwohnen. Riesenbeifall, Bravi, Blumen.

Roe

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