Zum Konzert am 13. September 1981 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 16. September 1981

Bekenntnishafte Feier

Philharmoniker mit Liszts "Christus"-Oratorium

Franz Liszt hat in seinem Oratorium "Christus" ein Gegenstück zu seiner frommen, lyrisch-dramatischen Legende von der Heiligen Elisabeth schaffen wollen. Geistig wie formal nahm das groß intendierte Werk in fünfjähriger Arbeit eine halb kirchlich-liturgische, halb romantisch-individualistische Gestalt an, was seinen einsamen, weder im sakralen noch im konzertanten Raum wirklich beheimateten Charakter ausmacht. Der Verzicht auf epische Anlage, auf die Rezitative und Arien der barocken oratorischen Überlieferung läßt das Ganze als eine von religiöser Begeisterung getragene, bekenntnishafte Feier der Gottesverehrung erscheinen. Daß Liszts romantisches Konzept, die Idee einer umfassenden musikalischen Reform der Liturgie, von der römischen Kirche abgelehnt wurde, nimmt nicht wunder, ebensowenig die seltene Aufführung des von einem breiteren Publikum nur unter glücklichen Konstellationen verständnisvoll rezipierbaren Werkes.

Es ist der eifernden Tatkraft des Dirigenten Aldo Ceccato zu verdanken, daß die überlange und nicht in allen Stücken gleichwertige Komposition das Auditorium der vollbesetzten Philharmonie bis zum Ende gefesselt hielt. Mit gläubiger Hingabe ließ er in allen Sätzen des Riesenwerkes den Ernst seiner Auffassung spüren, auch da, wo der Meister dem Bedürfnis seines Jahrhunderts nach Klangpracht freigiebig Opfer gebracht hat. Beglückend zu erleben, wie Ceccato, der seine Ausbildung zum Teil der Berliner Musikhochschule verdankt, mit liebevoller Akribie durch ruhige Klangdifferenzierung die weiträumigen Orchesterpartien ausdeutet, die nur so ihre kunstvolle Struktur und ihren poetischen Sinn erkennen lassen. Hoch zu bewundern die Leistung des Philharmonischen Orchesters, das sich zu exquisiten Klangabstufungen mystischer wie weltlich grandioser Art inspirieren ließ. Der von Roland Bader einstudierte Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale entsprach den höchsten Anforderungen an stimmlicher und expressiver Qualität. Für die mehr oder weniger bedeutsamen Aufgaben der Vokalsolisten war mit Judith Beckmanns leuchtkräftigem Sopran, Anne Gjevangs ausdrucksstarkem Alt, Aldo Baldins metallisch-hellem Tenor und Hans Sotins sonorem Baß ein Quartett von illustrem gesanglichem Rang und stilistischer Einfühlungskraft gewonnen worden.

Daß der Abend mit den "Seligpreisungen" im zweiten Teil und dem "Tristis est anima mea" des dritten seine unbestreitbaren Höhepunkte hatte, ist Dietrich Fischer-Dieskau zu verdanken, der als Träger der Christuspartie die beseligenden Prophetien der Bergpredigt und die Klage des Heilands in Gethsemane mit unvergleichlicher gesangstechnischer Meisterschaft bei subtilster Beachtung der dynamischen Vorzeichen, der Artikulation und der spannenden Fermaten und mit der nur ihm eigenen Inbrunst des Ausdrucks vortrug. Das erste, nur von der Orgel - hochsensibel: Wolfgang Meyer - begleitete Stück sollte von der Schallplatte aufbewahrt werden. Ebenso das "Stabat mater", das in solcher Wiedergabe nicht so bald wieder erklingen wird und gewiß eine der genialsten Ausdeutungen der vielkomponierten Sequenz von den Schmerzen Mariä ist. Der Enthusiasmus der Hörer ergab zum Schluß Ovationen von seltenem Ausmaß für den Dirigenten und alle seine Helfer.

Walther Kaempfer


   

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 1981     

Berlin: Festwochen-Kehraus

Floskelhaftes und wahrhaft Erhabenes

[...]

Hingegen war die Wiederbegegnung mit Franz Liszts "Christus" gelinde ausgedrückt unbefriedigend. Verglichen mit seiner Klaviermusik und einigen seiner Orchesterwerke ist das umfangreiche Oratorium, das er als reifer Mann 1867 in Rom vollendete, in der Erfindung arm und oft mittelmäßig. Gewiß gibt es "schöne Stellen" und geistreiche Einfälle. Doch das Ganze bleibt hinter der von Liszt geäußerten Absicht einer Reform der geistlichen Chorkomposition weit zurück. Schon in dem ersten, "Weihnachtsoratorium" genannten Teil, befremdet den Hörer eine floskelhafte Erhabenheit der Tonsprache, die danach oft wiederkehrt.

Die Aufführung vereinte unter Aldo Ceccatos Leitung das Berliner Philharmonische Orchester, den St.-Hedwigs-Chor nebst Frauenstimmen des Rias-Kammerchors und als Solisten Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie, Judith Beckmann, Anne Gjevang, Aldo Baldin und Hans Sotin. Doch auch die musterhafte Wiedergabe konnte das Werk nicht retten. [...]

H. H. Stuckenschmidt

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