Zum Konzert am 28. September 1980 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berin, 30. September 1980

Kreneks Verstellungskunst

Fischer-Dieskau und Solisten der Berliner Philharmoniker

Trommelwirbel. Fischer-Dieskaus Auftritt und Abgang vom Podium gehören bereits zum Stück. Denn er stellt den "Dissembler" (Versteller) dar, die Titelfigur in einem Monodram, das Ernst Krenek 1978 auf ein eigenes Libretto - wie die meisten seiner Werke, die mit Singstimmen arbeiten - komponiert hat. Jetzt fand als Festwochen-Ereignis im Großen Sendesaal des SFB unter der musikalischen Leitung von Lothar Zagrosek die europäische Erstaufführung statt, in Anwesenheit des Komponisten, der mit seinen Interpreten sehr herzlich gefeiert wurde.

Opus 229 im Schaffen des heute 80jährigen summiert und stellt in Frage, zweifelt und rechtfertigt, porträtiert und entzieht sich. Thema ist der Künstler, der Literat, der Komponist, der Gaukler. Auch Krenek selbst, der Suchende, Sich-Wandelnde, Verwandelnde?

"Wahr zu sein: Stichwort für mich. Zu finden Wahrheit in der Täuschung. Wahr sein durch Verstellung": so heißt es in der deutschen Übersetzung des englischsprachigen Werks, die der Komponist selbst 1979 in Palm Springs angefertigt hat. Ihr expressionistischer Duktus zeigt, wie sehr der Librettist Krenek sich selbst seit "Karl V." treu geblieben ist. Indes ist nun zu differenzieren, weil das Libretto des "Verstellers" nicht nur englischsprachig, sondern dreisprachig abgefaßt, und nicht allein von Krenek geschrieben, sondern auch aus abendländischer Geistes-Substanz - inklusive Bibel-Latein und "Faust II" - collagiert ist.

"Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" läßt Krenek den "Dissembler" plötzlich in deutscher Sprache mit den Worten Lynkeus’ des Türmers singen. Aber was bei erstem Hören den Überraschungseffekt des Zitats vermittelt, andererseits manchem, je nach Gemütslage, verdächtig tief und bildungslastig erscheinen mag, verrät im Kontext seinen Sinn: der Künstler, dem die Welt nur zum Schönen wird, das heißt schöner als sie ist, das ist der reine Ästhet, der reine Tor - im Vorstadium des Zweifels, der Lebensstürme, die ihn der Wahrheit näherbringen. Seine Kindheit schildert der Versteller gegen Ende des Monologs so: "Mein Turm war heil, ich stand auf festem Grund." Mir schien, als wolle das Werk unter anderem die Welten aufzeigen, die zum Beispiel zwischen "Jonny spielt auf" und den Klageliedern des Jeremias liegen; der "Actor" oder "Joker", obwohl er sich jazzig-tänzerisch davonmacht, mit lässigem "Good Night" von der Bühne geht, hat Einblicke in seine (Künstler-)Seele gestattet, die nun gar nicht auf die leichte Schulter genommen sein sollen. Es sind, alles in allem, Reflexionen über die Wesenswahrheit der Kunst - ein insofern bewegendes und essentielles Alterswerk von Ernst Krenek.

Das begleitende Kammerorchester mit vielbeschäftigtem Schlagwerk und gestopftem Blech, die ausgesparte, immer wieder eruptiv auffahrende Partitur, ihre Signal-Charaktere suggerieren Gaukler-Atmosphäre; aber auch Akkorde des Nachdenkens, das innige Violinsolo ("What is true?), Illustration finden Raum. Von Mitgliedern des Berliner Philharmonischen Orchesters wurde die artifizielle Klangpalette angemessen zur Geltung gebracht. Auf das Würfelspiel mit dem Zufall antwortet die Musik mit klarem Finaleffekt. Nichts ist eindeutig außer der Verstellungskunst.

Was für eine Aufgabe für Dietrich Fischer-Dieskau! Rein äußerlich manifestiert sich der permanente Rollenwechsel des Solisten, wenn der Monolog zum Dialog mit dem Advokaten des Teufels wird - eine Szene im übrigen, die auch von Kreneks Liebe zu Schubert zu sprechen scheint, indem sie dessen quasi-dialogische "Faust"-Vertonung Gretchen/Böser Geist in Erinnerung ruft. Dazu noch stellt Fischer-Dieskau das Kind, den Psalmodisten, den Schauspieler, den Denker, den Spaßmacher dar - und die Sache will es so, daß auch ein Fischer-Dieskau-Porträt dabei herauskommt.

[...]

Sybill Mahlke


    

     FAZ, 24. Oktober 1980          

Konzerte der Berliner Festwochen

Bukolische Trauer aus Geräusch und Ton

    

Der Gedanke, während der Berliner Festwochen einmal besonders Igor Strawinsky zu berücksichtigen, stammt von ihrem 1978 verstorbenen Leiter, dem Komponisten Nicolas Nabokov. Sein Nachfolger Ulrich Eckhardt hat die Idee mit großer Energie aufgenommen. [...]

Den Beginn der Veranstaltungen machte ein Abendkonzert "Festakademie opus Strawinsky" in der dicht gefüllten Philharmonie. Strawinsky und Nabokov waren durch Lieder repräsentiert. Dietrich Fischer-Dieskau begann mit zwei von Strawinsky vertonten Gedichten Paul Verlaines, darunter das berühmte "Un grand sommeil noir". Julia Varady ließ sechs lyrische Gesänge von Nabokov aus dem "Requiem"-Zyklus folgen, die sie russisch mit intensivem Ausdruck sang, und gestaltete dann prägnant zwei frühere Melodien opus 6 von Strawinsky auf Texte Serge Gorodetzkys; Fischer-Dieskau machte den Abschluß mit Nabokovs vier Liedern aus Boris Pasternaks "Doktor Schiwago".

Überhaupt war Fischer-Dieskau der fleißigste Mitarbeiter der Festwochen. Fünfmal stand er auf dem Podium als Interpret sehr verschiedenartiger Gesänge. In der Parade ausländischer Orchester kamen zuerst die New Yorker Philharmoniker mit zwei Konzerten unter Zubin Mehta. Am zweiten Abend gab es Anton Weberns Sechs Stücke opus 6, von Mehta überakzentuiert, von den amerikanischen Blechbläsern und Schlagzeugern phänomenal gespielt, und nach der Pause Gustav Mahlers erste Symphonie. Dazwischen sang Fischer-Dieskau auf seine besondere Weise, stimmlich und geistig auf einsamer Höhe, sechs Mahler-Lieder nach "Des Knaben Wunderhorn". Das "Lied des Verfolgten im Turm", als Dialog zweier Stimmen vorgetragen, mit Tönen schmerzlicher Heiterkeit, habe ich nie ergreifender gehört.

Berlins Radio-Symphonie-Orchester trug unter Gerd Albrecht ein bedeutendes Programm zu den Festwochen bei. [...] Abschließend sang Fischer-Dieskau drei Fragmente aus Aribert Reimanns "Lear"-Oper, deren Titelpartie er schon 1978 bei der Münchener Uraufführung übernommen hatte. Eine grandiose Leistung in Stimme und beim Todesmonolog.

Ebenfalls zwei Abende gehörten dem Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim, der sich an immer größeren Dirigieraufgaben bewährt. [...]

Hierauf sang Fischer-Dieskau dieselben beiden Verlaine-Lieder, die man schon bei der eröffnenden "Festakademie" von ihm gehört hatte, doch nun in der Orchesterfassung von 1953. Sie kommt an die viel spontanere klavierbegleitete trotz mancher instrumentaler Finessen nicht heran; interessant aber war, wie sich Fischer-Dieskaus Stimme den verschiedenen akkompagnierenden Klängen sinngemäß anpaßte. Die dann folgende geistliche Ballade "Abraham und Isaac" reflektiert Strawinskys Begegnung mit Land und Volk Israel bei seiner Tournee 1962. Dem knapp viertelstündigen Werk liegt die Reihe von zwölf Tönen zugrunde. [...]

Als "europäische Erstaufführung" sang schließlich Fischer-Dieskau einen Monolog für Bariton und Kammerorchester opus 229 von Ernst Krenek. Der kürzlich achtzig Jahre alt gewordene Komponist nennt das Stück "The Dissembler", in einer eigenen Übersetzung "Der Versteller". Der Text des Monologs setzt sich mit dem Wesen der Wahrheit auseinander. Zitate aus Goethes "Faust II", Euripides’ "Hekabe", der Bibel und Kreneks eigener "Sestina" umrahmen das Kernstück: ein Gespräch mit dem Advokaten des Teufels. Das Werk wird von einer inspirierten Musik getragen, deren Mittel überwiegend die Singstimme ist. Stellen wie die zerstreuten Klangwechsel zum einleitenden Kommentar "Ich bin ein Versteller", die Glissandi beim Sondieren von Raum und Zeit, die Melodien bei Lynkeus des Türmers "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" oder das gewaltige Fortissimo des "Nemo est qui semper vivat" sind so erfüllt von musikalischer Vision wie viele der besten Werke Kreneks.

Fischer-Dieskau übertraf sich in der schweren Aufgabe selbst. Seine Deutung des advocatus diaboli, die Kopftöne der hoch verstellten Stimme bei der Nennung des Kartenspiels, sein makelloses Englisch und Latein, das abschließende "Gute Nacht" sind Höhepunkte schöpferischer Interpretation. Zusammen mit dem anwesenden Krenek wurde er enthusiastisch gefeiert. Lothar Zagrosek dirigierte das auf philharmonischem Niveau spielende Kammerorchester.

[...]

H. H. Stuckenschmidt

zurück zur Übersicht 1980
zurück zur Übersicht Kalendarium