Zum Konzert am 17. September 1980 in Berlin


Berliner Morgenpost, 19. September 1980

Zweites Festwochenkonzert des Orchestre de Paris

Des Sängers großartige zehn knifflige Minuten

Das zweite Festwochenkonzert des gastierenden Orchestre de Paris in der Philharmonie, wieder unter Daniel Barenboims Leitung, hinterließ einen glücklicheren künstlerischen Eindruck als das fatale erste.

Freilich stand diesmal auch Erzfranzösisches auf dem Programm: Debussys dreisätzige Meer-Symphonie und die "Orgelsymphonie" von Camille Saint Saëns, den man im Gegensatz zu den Spätromantikern sonderbarerweise wohl als Spätklassiker ansprechen muß.

Zwischen beiden Stücken trat Dietrich Fischer-Dieskau ans Singpult und widerlegte Strawinskys Aversion gegen Interpretation jeder Art aufs vorzüglichste. Nach den beiden früh komponierten, aber spät instrumentierten Verlaine-Liedern Strawinskys durchsang er die zehn kniffligen hebräischen Minuten der biblischen Zwölfton-Ballade von "Abraham und Isaac" mit unerreichtem Nuancenreichtum, Verständnis und Geschmack.

Die eher magere Eingebung Strawinskys wurde vokal von ihm aufs feinste gewürzt. Es blieb bei dem Eindruck eines ausgepichten Balanceaktes auf dünnem und dabei auch noch durchhängendem Seil. Wieder einmal und immer wieder: Fischer-Dieskau ist noch immer der Größte.

[...]

Klaus Geitel


     

     Der Tagesspiegel, Berlin, 19. September 1980       

Grenzen der Vielseitigkeit

Zweites Konzert des Orchestre de Paris mit Barenboim

    

Von Degas gibt es einige bildliche Darstellungen von Orchestermusikern. An sie fühlte ich mich erinnert beim Betrachten des Orchestre de Paris, dessen Musiker schon durch ihr Äußeres, vor allem durch ihre Haartracht und verschiedene Bartformen, auffallen. Anders als hierzulande ist in Frankreich die wallende Mähne noch charakteristisches Requisit des Künstlers. Das Optische scheint überhaupt in der französischen Musik eine größere Rolle zu spielen als in der deutschen. Eines der fesselndsten Beispiele für eine von optischen Eindrücken ausgehende Klangmalerei ist Debussys symphonischer Zyklus "La mer", die dem Orchestre de Paris die Möglichkeit gab, seine ganze Farbpalette vom zarten Streicherpianissimo bis zum strahlenden Trompetensolo zu entfalten. Weniger schön und einleuchtend als die Farbwerte wurden allerdings die Tempoproportionen realisiert. Daniel Barenboim zeigte zwar wiederum sehr viel Sinn für das klangliche Detail, jedoch mangelte es ihm in diesem Fall an formaler Gestaltung des Ganzen.

Sehr viel offenkundiger als bei Debussy ist die formale Anlage in der dritten Symphonie von Camille Saint-Saëns, dem klassizistischen Antipoden Debussys. Barenboim legte hier den Akzent auf die Großform und schaffte es, durch große Bewegungen, indem er neben den Armen, dem traditionellen Handwerkszeug des Pianisten, auch immer mehr den ganzen Körper einsetzte und gelegentlich sogar mitsummte, die Spannung über alle Sätze hinweg zu halten. Gegenüber seinem musikantischen Zug ließ er allerdings den Sinn für Klangkultur hier zurücktreten.

War die Interpretation der Werke von Debussy und Saint-Saëns zwar nicht restlos gelungen, aber doch sicher und engagiert, so muß die Strawinsky-Interpretation als peinlich bezeichnet werden. Mit Musikantenton und Klangkultur lassen sich zwar die "Zwei Gedichte von Verlaine Opus 9", die sich ganz im Stile Debussys bewegen, noch darstellen, bei dem dodekaphonen Spätwerk "Abraham und Isaac" hätten aber auch analytische Qualitäten und wohl auch eine intensivere Probenarbeit hinzutreten müssen.

Strawinsky, dessen Spätwerk nicht nur durch die Synthese von Dodekaphonie und Archaik, sondern auch durch das Vorherrschen religiös geprägter Vokalmusik gekennzeichnet ist, hat in dieser geistlichen Ballade für Bariton und Kammerorchester aus den Jahren 1962/63 eine bemerkenswerte Synthese aus zugleich am Sprachklang und der Dodekaphonie orientierter Melodik geschaffen. Diese Synthese in dem von Dietrich Fischer-Dieskau engagiert vorgetragenen Solopart genauer nachzuprüfen, dürfte allerdings nur dem Kenner des Althebräischen möglich sein. Deutlich wurde jedoch, daß die vagen Dirigierbewegungen des in seine Partitur versenkten Barenboim der Idee von kanonischer Gesetzlichkeit, die für den späten Strawinsky ebenso die Brücke bildete zwischen musikalischer Technik und Religiosität wie für den späten Schönberg, kaum gerecht wurden. Mit dieser Interpretation war denn doch auch der vielseitige Barenboim überfordert.

Die Zugabe des "Meistersinger"-Vorspiels war eine schöne Geste für ein französisches Orchester mit israelischem Dirigenten. Ihr festliches C-Dur schloß sich bruchlos an das Finale der "Orgelsymphonie" von Saint-Saëns an, der mit seiner "Société Nationale" einst den französischen Gegenpol zum übermächtigen Wagnereinfluß hatte bilden wollen.

Albrecht Dümling

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