Zum Konzert am 7. September 1980 in Berlin    


     Berliner Tagesspiegel, 9. September 1980     

Zwei Seiten eines Dirigenten

Zubin Mehta gastierte an zwei Abenden mit dem New York Philharmonic Orchestra

     

Wer eigentlich im Mittelpunkt des zweiten glanzvollen Konzertabends stand, Gustav Mahler, die New Yorker Philharmoniker, Zubin Mehta oder aber Dietrich Fischer-Dieskau, dies zu entscheiden, ist wohl unmöglich. Denn ihnen allen galten zu Recht die Ovationen des Philharmonie-Publikums, und sie hätten alle jeweils einen eigenen Artikel verdient.

Durch ihre enge Verbindung zu Mahler (wie auch zu Schostakowitsch) unterscheiden sich die New Yorker charakteristisch von den ansonsten ranggleichen Berliner Philharmonikern, von denen sie sich auch durch die Mitwirkung von Frauen, sogar am Kontrabaß, abheben.

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Webern war gegenüber Mahlers Musik zunächst skeptisch. Die Wunderhorn-Lieder, die er 1905 zum ersten Mal hörte, stimmten ihn aber um, so daß er schließlich von Mahler als einem "Heiligen" sprach. Wenn die Lieder so gesungen werden, wie es jetzt Dietrich Fischer-Dieskau tat, müssen sie wirklich auch die größten Skeptiker überzeugen. Neben seiner klangvollen, runden Stimme ist es vor allem sein intensiver engagierter Textausdruck, der Bewunderung hervorruft. Im Lied "Wo die schönen Trompeten blasen" beginnt Fischer-Dieskau zart mit der Frage des Mädchens: "Wer ist denn draußen?" und lauscht der Antwort nach, die er dann selbst, als Knabe, gibt: "Das ist der Herzallerliebste dein." Der Wechsel zwischen verschiedenen Ausdruckshaltungen, zwischen Ich-Ausdruck, Dialog, und erzählendem Ton wurde auch im "Lied des Verfolgten im Turm" vollendet deutlich. Die grimmig entschlossene "Revelge" gestaltete Fischer-Dieskau als Antikriegslied, mit gleicher Überzeugungskraft brachte er die dumpfe Gebrochenheit und Verzweiflung des "Tambourgsell" zum Ausdruck. Berückend schön geriet, auch im sensibel begleitenden Orchesterpart, die tröstende Melodie "Lieb Knabe, du mußt nicht traurig sein" aus "Der Schildwache Nachtlied". Ich kenne keinen Sänger, der diese Mahlerschen Orchesterlieder stimmlich und ausdrucksmäßig so vollendet gestalten könnte. Als Zugabe erklang das Wunderhornlied "Wer hat dies Liedlein erdacht".

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Albrecht Dümling

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     FAZ, 24. Oktober 1980     

Konzerte der Berliner Festwochen

Bukolische Trauer aus Geräusch und Ton

    

Der Gedanke, während der Berliner Festwochen einmal besonders Igor Strawinsky zu berücksichtigen, stammt von ihrem 1978 verstorbenen Leiter, dem Komponisten Nicolas Nabokov. Sein Nachfolger Ulrich Eckhardt hat die Idee mit großer Energie aufgenommen. [...]

Den Beginn der Veranstaltungen machte ein Abendkonzert "Festakademie opus Strawinsky" in der dicht gefüllten Philharmonie. Strawinsky und Nabokov waren durch Lieder repräsentiert. Dietrich Fischer-Dieskau begann mit zwei von Strawinsky vertonten Gedichten Paul Verlaines, darunter das berühmte "Un grand sommeil noir". Julia Varady ließ sechs lyrische Gesänge von Nabokov aus dem "Requiem"-Zyklus folgen, die sie russisch mit intensivem Ausdruck sang, und gestaltete dann prägnant zwei frühere Melodien opus 6 von Strawinsky auf Texte Serge Gorodetzkys; Fischer-Dieskau machte den Abschluß mit Nabokovs vier Liedern aus Boris Pasternaks "Doktor Schiwago".

Überhaupt war Fischer-Dieskau der fleißigste Mitarbeiter der Festwochen. Fünfmal stand er auf dem Podium als Interpret sehr verschiedenartiger Gesänge. In der Parade ausländischer Orchester kamen zuerst die New Yorker Philharmoniker mit zwei Konzerten unter Zubin Mehta. Am zweiten Abend gab es Anton Weberns Sechs Stücke opus 6, von Mehta überakzentuiert, von den amerikanischen Blechbläsern und Schlagzeugern phänomenal gespielt, und nach der Pause Gustav Mahlers erste Symphonie. Dazwischen sang Fischer-Dieskau auf seine besondere Weise, stimmlich und geistig auf einsamer Höhe, sechs Mahler-Lieder nach "Des Knaben Wunderhorn". Das "Lied des Verfolgten im Turm", als Dialog zweier Stimmen vorgetragen, mit Tönen schmerzlicher Heiterkeit, habe ich nie ergreifender gehört.

Berlins Radio-Symphonie-Orchester trug unter Gerd Albrecht ein bedeutendes Programm zu den Festwochen bei. [...] Abschließend sang Fischer-Dieskau drei Fragmente aus Aribert Reimanns "Lear"-Oper, deren Titelpartie er schon 1978 bei der Münchener Uraufführung übernommen hatte. Eine grandiose Leistung in Stimme und beim Todesmonolog.

Ebenfalls zwei Abende gehörten dem Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim, der sich an immer größeren Dirigieraufgaben bewährt. [...]

Hierauf sang Fischer-Dieskau dieselben beiden Verlaine-Lieder, die man schon bei der eröffnenden "Festakademie" von ihm gehört hatte, doch nun in der Orchesterfassung von 1953. Sie kommt an die viel spontanere klavierbegleitete trotz mancher instrumentaler Finessen nicht heran; interessant aber war, wie sich Fischer-Dieskaus Stimme den verschiedenen akkompagnierenden Klängen sinngemäß anpaßte. Die dann folgende geistliche Ballade "Abraham und Isaac" reflektiert Strawinskys Begegnung mit Land und Volk Israel bei seiner Tournee 1962. Dem knapp viertelstündigen Werk liegt die Reihe von zwölf Tönen zugrunde. [...]

Als "europäische Erstaufführung" sang schließlich Fischer-Dieskau einen Monolog für Bariton und Kammerorchester opus 229 von Ernst Krenek. Der kürzlich achtzig Jahre alt gewordene Komponist nennt das Stück "The Dissembler", in einer eigenen Übersetzung "Der Versteller". Der Text des Monologs setzt sich mit dem Wesen der Wahrheit auseinander. Zitate aus Goethes "Faust II", Euripides’ "Hekabe", der Bibel und Kreneks eigener "Sestina" umrahmen das Kernstück: ein Gespräch mit dem Advokaten des Teufels. Das Werk wird von einer inspirierten Musik getragen, deren Mittel überwiegend die Singstimme ist. Stellen wie die zerstreuten Klangwechsel zum einleitenden Kommentar "Ich bin ein Versteller", die Glissandi beim Sondieren von Raum und Zeit, die Melodien bei Lynkeus des Türmers "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" oder das gewaltige Fortissimo des "Nemo est qui semper vivat" sind so erfüllt von musikalischer Vision wie viele der besten Werke Kreneks.

Fischer-Dieskau übertraf sich in der schweren Aufgabe selbst. Seine Deutung des advocatus diaboli, die Kopftöne der hoch verstellten Stimme bei der Nennung des Kartenspiels, sein makelloses Englisch und Latein, das abschließende "Gute Nacht" sind Höhepunkte schöpferischer Interpretation. Zusammen mit dem anwesenden Krenek wurde er enthusiastisch gefeiert. Lothar Zagrosek dirigierte das auf philharmonischem Niveau spielende Kammerorchester.

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H. H. Stuckenschmidt

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