Zum Konzert am 3. September 1980 in Berlin


Berliner Morgenpost, 5. September 1980 

Die blinden Stellen im Spiegel der "Festakademie" für Strawinsky

Dazu bedurfte es nicht ausgerechnet einer "Festakademie": In der Philharmonie führte der Regierende Bürgermeister zur Eröffnung der Festwochen aus, neben den künstlerischen Spitzendarstellungen aus aller Welt seien auch die neuen kleinen künstlerischen Gruppen Berlins zu integrieren, die "kulturelle Teilhabe" möglichst vieler Bürger am Festival zu ermöglichen. Strawinsky, dem zu Ehren die Akademie zusammengetreten war, hätte die Nase gerümpft, und sie sofort fluchtartig wieder verlassen.

Nichts gegen die schöne Beschäftigung jedermanns mit den Künsten. Aber Kreuzberger Sackhüpfen und New York City Ballett, Charlottenburger Laienbühne und Burgtheater, die Chorvereinigung Rote Stimmritze und Pro Cantione Antiqua lassen sich schlecht mischen. Zwangsläufig führt diese Art gutmütig-ahnungsloser Integration zu einer Nivellierung, die ganz gewiß gerade nicht Sache der Festwochen ist.

Man finde in der Geschichte der Festwochen die Geschichte Berlins gespiegelt, merkte Stobbe weiterhin an. Dieser Spiegel aber schien blinde Stellen zu haben. Jedenfalls führte er nicht das Bild Gerhart von Westermans herauf, des mutig-eigenwilligen, originellen Mannes, der als erster Intendant die Grundlagen legte, auf denen seine Nachfolger bauen konnten, und die Festwochen weltläufig machte.

Den entzückend unakademischen Vortrag über Strawinsky, den "Proteus des Stilwandels" (wie er ihn nannte) hielt H. H. Stuckenschmidt, und wenn er von der "Vereinigung des Unvereinbaren" im Werke Strawinskys sprach, so dachte er doch sicherlich nicht im geringsten daran, damit den Integrationsideen des Regierenden Bürgermeisters das Wort zu reden.

Das Schwergewicht der Akademie kam den musikalischen Beiträgen zu, Liedern von Strawinsky und Nicolas Nabokov, dessen Idee als langjähriger Festwochen-Intendant Berlins es gewesen war, das "Opus Strawinsky" ins Zentrum des Herbstes zu rücken.

Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau, vorzüglich begleitet von Aribert Reimann am Flügel, setzten ihre immense Kunst bewunderungswürdig für die freilich recht matten Vorlagen ein.

Die frühen Lieder Strawinskys voller Weltschmerz und jugendlicher Melancholie, einer Gefühligkeit auch, die noch im Nachhinein überrascht, zeigen höchstens auf, was die Musikgeschichte dem erbarmungslosen Griff Diaghilews verdankt, der den Komponisten nach Frankreich und in die Welt des künstlerisch abenteuerlichsten Theaters der Epoche hinüberriß.

Ergreifend andererseits die Vertonungen der Gedichte Anna Achmatowas durch Nabokov, deren zweites mit seinen hochdramatisch expressiv aufzuckenden musikalischen Linien am stärksten zu fesseln wußte.

Klaus Geitel


   

     FAZ, 24. Oktober 1980     

Konzerte der Berliner Festwochen

Bukolische Trauer aus Geräusch und Ton

    

Der Gedanke, während der Berliner Festwochen einmal besonders Igor Strawinsky zu berücksichtigen, stammt von ihrem 1978 verstorbenen Leiter, dem Komponisten Nicolas Nabokov. Sein Nachfolger Ulrich Eckhardt hat die Idee mit großer Energie aufgenommen. [...]

Den Beginn der Veranstaltungen machte ein Abendkonzert "Festakademie opus Strawinsky" in der dicht gefüllten Philharmonie. Strawinsky und Nabokov waren durch Lieder repräsentiert. Dietrich Fischer-Dieskau begann mit zwei von Strawinsky vertonten Gedichten Paul Verlaines, darunter das berühmte "Un grand sommeil noir". Julia Varady ließ sechs lyrische Gesänge von Nabokov aus dem "Requiem"-Zyklus folgen, die sie russisch mit intensivem Ausdruck sang, und gestaltete dann prägnant zwei frühere Melodien opus 6 von Strawinsky auf Texte Serge Gorodetzkys; Fischer-Dieskau machte den Abschluß mit Nabokovs vier Liedern aus Boris Pasternaks "Doktor Schiwago".

Überhaupt war Fischer-Dieskau der fleißigste Mitarbeiter der Festwochen. Fünfmal stand er auf dem Podium als Interpret sehr verschiedenartiger Gesänge. In der Parade ausländischer Orchester kamen zuerst die New Yorker Philharmoniker mit zwei Konzerten unter Zubin Mehta. Am zweiten Abend gab es Anton Weberns Sechs Stücke opus 6, von Mehta überakzentuiert, von den amerikanischen Blechbläsern und Schlagzeugern phänomenal gespielt, und nach der Pause Gustav Mahlers erste Symphonie. Dazwischen sang Fischer-Dieskau auf seine besondere Weise, stimmlich und geistig auf einsamer Höhe, sechs Mahler-Lieder nach "Des Knaben Wunderhorn". Das "Lied des Verfolgten im Turm", als Dialog zweier Stimmen vorgetragen, mit Tönen schmerzlicher Heiterkeit, habe ich nie ergreifender gehört.

Berlins Radio-Symphonie-Orchester trug unter Gerd Albrecht ein bedeutendes Programm zu den Festwochen bei. [...] Abschließend sang Fischer-Dieskau drei Fragmente aus Aribert Reimanns "Lear"-Oper, deren Titelpartie er schon 1978 bei der Münchener Uraufführung übernommen hatte. Eine grandiose Leistung in Stimme und beim Todesmonolog.

Ebenfalls zwei Abende gehörten dem Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim, der sich an immer größeren Dirigieraufgaben bewährt. [...]

Hierauf sang Fischer-Dieskau dieselben beiden Verlaine-Lieder, die man schon bei der eröffnenden "Festakademie" von ihm gehört hatte, doch nun in der Orchesterfassung von 1953. Sie kommt an die viel spontanere klavierbegleitete trotz mancher instrumentaler Finessen nicht heran; interessant aber war, wie sich Fischer-Dieskaus Stimme den verschiedenen akkompagnierenden Klängen sinngemäß anpaßte. Die dann folgende geistliche Ballade "Abraham und Isaac" reflektiert Strawinskys Begegnung mit Land und Volk Israel bei seiner Tournee 1962. Dem knapp viertelstündigen Werk liegt die Reihe von zwölf Tönen zugrunde. [...]

Als "europäische Erstaufführung" sang schließlich Fischer-Dieskau einen Monolog für Bariton und Kammerorchester opus 229 von Ernst Krenek. Der kürzlich achtzig Jahre alt gewordene Komponist nennt das Stück "The Dissembler", in einer eigenen Übersetzung "Der Versteller". Der Text des Monologs setzt sich mit dem Wesen der Wahrheit auseinander. Zitate aus Goethes "Faust II", Euripides’ "Hekabe", der Bibel und Kreneks eigener "Sestina" umrahmen das Kernstück: ein Gespräch mit dem Advokaten des Teufels. Das Werk wird von einer inspirierten Musik getragen, deren Mittel überwiegend die Singstimme ist. Stellen wie die zerstreuten Klangwechsel zum einleitenden Kommentar "Ich bin ein Versteller", die Glissandi beim Sondieren von Raum und Zeit, die Melodien bei Lynkeus des Türmers "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" oder das gewaltige Fortissimo des "Nemo est qui semper vivat" sind so erfüllt von musikalischer Vision wie viele der besten Werke Kreneks.

Fischer-Dieskau übertraf sich in der schweren Aufgabe selbst. Seine Deutung des advocatus diaboli, die Kopftöne der hoch verstellten Stimme bei der Nennung des Kartenspiels, sein makelloses Englisch und Latein, das abschließende "Gute Nacht" sind Höhepunkte schöpferischer Interpretation. Zusammen mit dem anwesenden Krenek wurde er enthusiastisch gefeiert. Lothar Zagrosek dirigierte das auf philharmonischem Niveau spielende Kammerorchester.

[...]

H. H. Stuckenschmidt


     

     Der Tagesspiegel, Berlin, 5. September 1980     

Emigranten, Weltbürger, Freunde

"Festakademie" der Festwochen in der Philharmonie

[...]

Eine "Festakademie" - so der offizielle Titel der Veranstaltung - der Erinnerungen: H. H. Stuckenschmidt war für eine Laudatio auf den "weltberühmten Emigranten" gewonnen worden, dem diese Festwochen seit dem letzten Wochenende schon in Ton, Tanz und Bild huldigen; und Stuckenschmidts Vortrag "Opus Strawinsky" schloß selbstverständlich den Freund Nicolas ("Niki") Nabokov (1903-1978) ein, vor allem dessen innige Verbindung zu Strawinsky, welcher bekanntlich nicht zuletzt die Anregung zum Hauptthema dieser herbstlichen Kulturtage zu verdanken ist. Und der ehemalige amerikanische Kulturoffizier russischer Abstammung und spätere Festwochenchef habe auch die Gründung des Internationalen Instituts für vergleichende Musikstudien mit initiiert, rief Stuckenschmidt in Erinnerung.

Erinnerungen dann seiner selbst die Fülle über persönliche Begegnungen mit Strawinsky, Begegnungen mit seinen Werken - manches davon enthält das Festwochen-Magazin -, spiegelnd auch die Kritikerpersönlichkeit Stuckenschmidt, die Zeitgenossenschaft mit Künstlern immer äußerst intensiv gelebt hat. In seiner Charakterisierung des "Proteus der Stilwandlungen" kam Stuckenschmidt zu dem Schluß, daß die Weltmusik zwischen 1910 und 1950 aus der Wechselwirkung der beiden Antipoden Schönberg-Strawinsky zu verstehen sei.

In einem Atem zu nennen sind die beiden Komponisten Strawinsky und Nabokov durch die klingenden Beispiele ihres Schaffens, die den Abend krönten in der gefeierten Interpretation der Besten. Was Aribert Reimann an Klavierpoesie und Julia Varady an glockenhaftem Ernst auf Nabokovs lyrische Gesänge aus dem Zyklus "Requiem" (Text: Anna Achmatova) verwandten, diese Art interpretatorischer Beteiligtheit schien steigernd an die Substanz der 1966 komponierten Lieder zu gehen: obwohl im Detail ihrer Repetitions-Gestik nicht unbedingt haftend, eine musikalisch-dramatische Auseinandersetzung mit dem Tod von intensiver emotionaler Wirkung.

Auch die von Dietrich Fischer-Dieskau vorgetragenen Boris-Pasternak-Lieder Nabokovs von 1961 wurden zum fesselnden Ereignis, weil der Sänger und der Pianist sie als große interpretatorische Aufgabe begriffen. Unüberhörbar, daß Nabokov mit seiner Menschlichkeit, auch seiner natürlichen Theatralik hinter dieser Musik steht. die emphatische Geste ("Elle est partie"), die Traurigkeit des Verstummens lassen ein Lied wie "Trennung" als kleines Drama abrollen. Auch ein stolzes Verhältnis zur Simplizität, Adaption im Rhythmischen (Orff), impressionistische Wendungen, die große Steigerung gehören hinein. Kurz: Mir schien es, als sehe man durch die Musik ihren Autor vor sich, den Kosmopoliten Nicolas Nabokov und Freund unzähliger Freunde, wie er von seinem Sitz im Auditorium aufzuspringen pflegte nach kaum beendeten künstlerischen Ereignissen, um sein Lob, seine Begeisterung auch optisch weithin deutlich zu machen: ein enthusiasmierter Weltbürger im Publikum als prominenter Fan.

Das Erbe der nationalrussischen Musik, das Nabokov mit Strawinsky verband, klang vor allem aus früheren Liedern des letzteren, aus den von Fischer-Dieskau gestalteten Verlaine-Gesängen, mit denen Strawinsky im "Feuervogel"-Jahr 1910 aus der slawischen in die französische Geisteswelt wechselte; mehr noch aus den Serge-Gorodetzky-Vertonungen, die Julia Varady sang: Frauen- und Mädchenlyrik, wie sie uns aus russischen Opern vertraut erscheint.

Wer an Zufälle mit Bedeutung glaubt, dem sei noch eine Marginalie Stuckenschmidts mitgeteilt, die ich im Sinn dieser Veranstaltung zumindest nicht untypisch fand: Nabokov starb - sieben Jahre später - am Todestag Strawinskys, dem 6. April.

Sybill Mahlke

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