Zum Konzert am 26. Juni 1980 in Göttingen


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juli 1980  

Göttingen, Karlsruhe: Händel-Feste

Traditionstreue und Bildersturm

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Das Festkonzert, mit dem sich Günther Weißenborn nach zwanzig Jahren von der künstlerischen Leitung des Händel-Fests verabschiedete, zehrte in der Werkauffassung von dem Pioniergeist um den Cembalisten Fritz Neumeyer, den Flötisten Gustav Scheck und den Schweizer Cellisten August Wenzinger, die noch in den dreißiger Jahren, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg die Alte-Musik-Bewegung (auf historischen Instrumenten) in Gang gebracht haben. Aus der Sicht heutiger Barock-Avantgardisten ist auch diese Richtung mit ihrem Kompromiß aus Metrik-Strenge und bewegter Diskant-Linie, kleiner Besetzung und füllig musikantischem Ton bereits in die Jahre gekommen, hat sie sich aufgelöst zu einem stilistisch unentschiedenen, etwas müden Allerwelts-Barock.

Kaum aber waren Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau zum Sangeswettstreit von Apoll und Daphne angetreten, belebten sich die Tempi, frischte sich das Spiel des Südwestdeutschen Kammerorchesters auf. Und dies, obwohl Fischer-Dieskau kein jugendlich strahlender Apoll mehr war. Mit buffonesker Offensive versuchte er Daphne und den zaubrischen Stimmglanz zu gewinnen, den alle übrigen Sänger als maßstabsetzend fürchten, das Publikum als idolhafte Verkörperung von Sängertum überhaupt verehrt. Gestalterisch gewann er ihn zurück, als er über die Vergänglichkeit des Schönsten sinnierte, "was Natur erschuf", und im Verzicht auf die in Lorbeer verwandelte Geliebte, mit dem die Kantate in Moll und Adagio endet. Dieses heraushörbare Mitbedenken einer großen, aber doch unaufhaltsamen Sängerkarriere war um so ergreifender neben der in allen Feinfarben der Stimmkultur brillierenden Julia Varady.

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Ellen Kohlhaas


  

     Göttinger Tageblatt, 28./29. Juni 1980     

Dieskaus Apoll: ein Operngott

Festkonzert unter Weißenborn

     

Ein Weltstar war nach Göttingen gekommen, seinem langjährigen Liedbegleiter und Freund Günther Weißenborn zuliebe. Dietrich Fischer-Dieskau war die Attraktion des traditionellen Festkonzertes, mit dem Günther Weißenborn sich als künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele verabschiedete. Es war das einzige ausverkaufte Stadthallenkonzert der diesjährigen Veranstaltungsreihe. Wieviel Sympathien Weißenborn sich im Laufe der vergangenen 21 Jahre in der Leinestadt erworben hat, zeigte der demonstrative Beifall, den die Zuhörer ihm, dem Südwestdeutschen Kammerorchester und den Solisten zollten.

Händel und seine größten Zeitgenossen, Bach und Telemann, standen auf dem Programm. Und die Interpretationen wurden gerade durch die Tatsache interessant, daß Weißenborn mit Telemanns farbig instrumentierter Orchestersuite C-Dur (Wasser-Ouvertüre) und Bachs a-Moll-Konzert für Cembalo, Flauto traverso und Solovioline (BWV 1044) ganz anders umging als vor ihm Gardiner und Koch mit vergleichbarer Barockmusik.

Weißenborn kultivierte die Funktion der Musik als höfische Unterhaltung des 18. Jahrhunderts, die nicht durch hervorstechende Effekte irgendeiner Art in ihrem ruhigen Fluß gestört wird. Seine Tempi sind nicht extrem, aber kontrastierend in ihrem tänzerischen Duktus. Seine Dynamik gliedert die Musik nicht in statisch wirkende Abschnitte, sondern sie ordnet sich der natürlichen Gestik einer Phrase unter, wie es in der Musik der Mannheimer und bei den Vertretern des frühklassischen, "galanten" Stils der Fall ist. Das – leider durch Besetzungswechsel nicht so perfekt und klangschön wie im Vorjahr musizierende – Südwestdeutsche Kammerorchester spielte so "normal", daß die Instrumentalsolisten (insbesondere der Solooboist Rolf-Julius Koch mit seinem warmen, innigen Ton) durch wesentlich stimmungsvollere Interpretationen ihrer Partien beinahe aus dem Rahmen fielen.

Ein solcher Gegensatz beherrschte auch die abschließende italienische Kantate Händels. "Apollo e Dafne" für Sopran, Bariton und Orchester geriet zu einer konzertant aufgeführten, kleinen Oper allein durch Dietrich Fischer-Dieskaus affektgeladene Gesangskunst. Unvergleichlich ist Dieskaus Fähigkeit, den Ausdrucksgehalt eines Wortes, eines Satzes sinnfällig zu gestalten. Unvergeßlich setzte er die Wandlung des "Apoll" in Töne um, dessen Draufgängertum der bestürzten Verzweiflung eines weinenden Gottes weicht, der die Geliebte Dafne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelte, verlor.

Dabei war Dieskau erst in der Arie "Placati al fine" in seinem hinreißenden, ureigenen Pianissimo zu Hause, und erst sein Schlußmonolog wirkte ganz konzentriert und verinnerlicht. Vorher war ihm Streß anzumerken. Intonation und Ausdruckskonsequenz enttäuschten anfangs zu hoch gesteckte Erwartungen an den berühmtesten deutschen Sänger der Gegenwart. Seine Duo-Partnerin Julia Varady war auch nicht in ihrer besten Form, setzte aber ihre Callas-ähnliche, einerseits hochdramatische, andererseits sehr lyrische, metallische Stimme immer sicherer im opernhaften Sinne Dieskaus ein.

Göttingen feierte seine Stars. Die Händelfestspiele 1980 hatten ihren Höhepunkt.

Antje Amoneit

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