Zum Konzert am 17. September 1979 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 19. September 1979

Große Worte – neu gelesen

Sawallisch, Fischer-Dieskau und die Berliner Philharmoniker

"Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß": Robert Schumann, der gebildete Dichter-Schriftsteller-Komponist, wußte, was er wagte, als er zwischen 1844 und 1853 solche Sätze in Musik setzte: "Szenen aus Goethes "Faust". Es ist eine Komposition aus drei Teilen, in rückläufiger Folge entstanden, die bewußt im Dienst am Wort nach den Sternen greift, das heißt zugleich, daß sie sich als hilfreiche Beigabe zum Verständnis Goethes anbieten möchte.

Bei den Goethe-Feiern 1849 in Dresden, Weimar und Leipzig mag der zuerst geschaffene dritte Teil des Werkes – "Fausts Verklärung" – unter anderem diesem Ziel gedient haben, in einer Epoche, die den zweiten Teil des "Faust" nur bei wenigen als "Bildungsgut" voraussetzen konnte. Bescheidenheit ziert gewiß auch unsere Gegenwart am besten, wenn es um die Überprüfung der Kenntnis des "ganzen" "Faust" geht, zu schweigen hier und jetzt von jedermanns Lob beziehungsweise Lektüre.

Andererseits bleibt der "Zitatenschatz", die Griffigkeit im Detail, die in der Rezeptionsgeschichte der Tragödie erster und zweiter Teil nicht zuletzt ihrer Qualität zu verdanken haben. Schumanns Komposition leidet an diesem "Mangel", dem ständigen "Am-Ärmel-Zupfen" durch Bekanntes, kaum. Die Auswahl besticht durch ihre Gradlinigkeit, sie ist sogar auf ihre Weise kreativ, weil sie sich meisterhaft konzentriert auf Schuld, Streben, Ringen und Erlösung des faustischen Menschen. Das bedeutet: relativ wenig von der Fülle der Erscheinungen, kein Pudel, keine Studierstube, keine Walpurgisnacht, keine Helena-Episode und so fort, auch die Rolle des Mephisto relativ klein gehalten. Statt dessen: unvermittelter Einstieg in die Gartenszene Faust/Gretchen: "Du kanntest mich, oh kleiner Engel, wieder...", dann Gretchen vor dem Bild der Mater dolorosa, schließlich die Szene im Dom – Ende des ersten, um das Gretchen-Schicksal kreisenden Teils; die Liebestragödie wurde auf charakteristische "innere" Vorgänge zusammengefaßt. Die Ouvertüre, die Schumann kurz vor seinem Zusammenbruch als letztes Stück der (ohne Opuszahl gebliebenen) "Faust"-Komposition schrieb, rührt ans Herz durch die gleichsam errungene Verbindung von Stimmungsmomenten und "Gearbeitetem". "Im Garten" herrscht opernhafte Natureinheit (im Text ein paar Striche, daneben die ganz duettgemäße Wiederholung von "Süß Liebchen!")

"Ach neige, du Schmerzensreiche" beginnt durchaus liedhaft und dringt psychologisierend vor bis zum Schrei Gretchens "Hilf! Rette mich vor Schmach und Tod!": eine grandios angelegte Szene, die in Julia Varady die kongeniale Darstellerin hatte. Überhaupt war es ein Abend großer Interpreten – festwochenwürdig im Verhältnis von Anspruch, Rarität, Kosten und Ergebnis: der wohl ernsthafteste "Faust" der Musik wurde in der Philharmonie erweckt. Gleich die folgende "Szene im Dom", die Gretchen in der heftigsten Seelenqual zeigt, offenbarte in Siegmund Nimsgern (Böser Geist/Mephisto) und dem Chor der Deutschen Oper weitere Pluspunkte: das "Dies irae" überspannt klanglich dominierend – wie die Macht der Kirche – die private Not des Mädchens.

Im zweiten Teil kommt mit Harfenklang, Tenorsolo (Siegfried Jerusalem: Ariel), weiteren Vokalsoli die Natursphäre des Sonnenaufgangs leuchtend ins Spiel, und Dietrich Fischer-Dieskaus liedhaft-spirituelles Besingen des blendenden Lichts ist nahezu imstande, die Einwände der Exegeten zu denunzieren, daß hier der Dichtung durch Töne nichts hinzugefügt werden konnte. Fischer-Dieskaus Faust hält dagegen: Interpretations-Nuancen. Und wer könnte nach dem Mahler-sensiblen Marsch ("Großer Vorhof des Palastes, Fackeln") den Gesang der "neckischen" Lemuren – Knaben des Staats- und Domchors: auf bestem Standard -, die die Grablegung vorbereiten, "Fausts Tod", zart gedämpft begleitet vom vollen Berliner Philharmonischen Orchester unter Wolfgang Sawallisch, so intensivieren wie er! Diese tiefen deutschen Sätze beinahe neu entdeckt, für das Heute gelesen als eher stille Mitteilung: "Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn."

Der dritte Teil mit viel herrlich fließender Musik, verinnerlichtem Jubel und geistigem Crescendo, den Bogen zur Gretchen-Handlung spannend, mündet in den "Chorus mysticus", dessen Komponierbarkeit Schumann selbst bezweifelte. Unglücklich erschien mir die oratorische Geschäftigkeit, in die die Musik ("...zieht uns hinan ... zieht uns hinan") nach dem harmonisch eindrucksvollen Beginn verfiel. Bleibt zu ergänzen, daß auch die kleineren Soli mit Robert Holl, Barbara Daniels, Marianne Seibel, Marga Schiml, Cornelia Wulkopf und Thomas Schulze erstklassig besetzt waren, daß der interessante Abend den Beteiligten, unter denen Fischer-Dieskau, Varady, der sorgfältige Sawallisch, das Orchester und die Chöre besonders hervorzuheben sind, großen Beifall brachte. Vielleicht auch im Ganzen den Erfolg in Schumanns Sinn (und dem dieser Festwochen-Thematik), daß der eine oder andere von uns Vielbeschäftigten öfter mal wieder zu Goethes "Faust" greift.

Sybill Mahlke


  

     Berliner Morgenpost, 19. September 1979     

Jubelnder Erfolg nach der etwas klapprigen Ouvertüre

     

Zwei Stücke und zwei Festwochen-Aufführungen, die zwangsläufig zum Vergleich herausfordern: unlängst Berlioz’ "Faust-Verdammung" durch die Bostoner Symphoniker von Ozawa, jetzt Robert Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" seitens der Berliner Philharmoniker unter der Stabführung von Wolfgang Sawallisch.

Dabei ist der Werke-Vergleich schon fragwürdig. Zu eigenwillig selbstgestrickt ist Berlioz’ Dramaturgie, während Schumann sich getreulich auf eine bewährte dramatische Poesie stützt. Seine "Szenen" können gewiß nur einen fragmentarischen Durchblick durch das Werk gestatten, doch die Sicherheit, mit der er teils opernhaft, teils oratorisch wirksame Partien aus der Gesamtheit ausgräbt, dürfte zumindest denjenigen Hörern ein hohes ästhetisches Vergnügen bereitet haben, die ihren Goethe-Faust nicht nur im Bücherschrank, sondern noch einigermaßen im Kopf haben. Musikalisch mag Berlioz die effektvolleren Akzente setzen; die sorgfältigere Psychologie liegt zweifellos auf seiten Schumanns.

Als Klammer beider konzertanter Faust-Ereignisse diente jedoch nicht nur das Sujet, sondern auch der Interpret Dietrich Fischer-Dieskau, dort Mephisto, hier Faust.

Diesem Sänger ist eben das Singen eine solche Selbstverständlichkeit, daß er keinerlei Gedanken daran zu verschwenden scheint, wie man klingende Töne zu produzieren habe. Dafür kann er seine ganze Aufmerksamkeit auf Vortrag und Gestaltung richten. Und diese Außerordentlichkeiten der Deklamation, mit denen er auch hier wieder brilliert, die konzentrierte Genauigkeit, mit der er die umfangreiche Palette seiner Mittelpunkte einsetzt, das sind die immer wieder hinreißenden Momente bei der Begegnung mit Dietrich Fischer-Dieskau.

Neben ihm konnten sich Sigmund Nimsgern, Siegfried Jerusalem, Barbara Daniels und Cornelia Wulkopf eindrucksvoll behaupten, während Julia Varady, Marianne Seibel, Marga Schiml, Thomas Schulze und Robert Holl vor allem in ihrer Artikulation etwas schwächer wirkten. Walter Hagen-Groll und Christian Grube steuerten wohleinstudierte Chöre (der Deutschen Oper Berlin und der Knaben des Staats- und Dom-Chores) bei.

Die blitzende Unmittelbarkeit, die Ozawas Aufführung vor allem auszeichnete, schien Sawallisch gar nicht erst zu beabsichtigen. Auch Präzision schien nicht unbedingt die oberste Losung zu sein, weshalb es schon mit einer etwas zaghaften und klapprigen Ouvertüre begann. Im zweiten Teil allerdings steigerte sich die gesamte Aufführungsintensität, daß davon sogar noch der ausführliche hymnisch-lyrische Schlußteil profitieren konnte und zum jubelnden Erfolg führte.

Wilfried W. Bruchhäuser

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