Zur Oper am 13. und 17. September 1978 in Berlin


Berliner Opernblätter, 10/78

Große Oper mit Widerhaken

"Frau ohne Schatten" in Berlin

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Die Wiederaufnahme fiel mitten in die Berliner Festwochen und war von der Besetzung her eine der wenigen Aufführungen an der Deutschen Oper, die Weltstadt-Niveau besaßen. "Für ‚Frau ohne Schatten’ schöpfen’s bitte den Rahm ab." Diesen Wunsch Richard Strauss’ hatte die Intendanz endlich zu befolgen versucht, um in der Deutschen Oper an zwei Abenden wieder einmal zu präsentieren, wofür das Haus gebaut worden war: großdimensioniertes Musiktheater.

Kritiker des Aufführungsniveaus unter Siegfried Palms Leitung erhielten mit ihren Negativ-Orakeln aber auch für diese beiden Vorstellungen beinahe recht, denn Birgit Nilssons plötzliche Erkrankung machte ihr Auftreten am ersten Abend unmöglich, und nebenbei erfuhr man auch, daß Matti Kastus nicht singen würde.

Das Glück verließ die Deutsche Oper diesmal jedoch nicht. Die Erfolgsnachrichten aus Karlsruhe waren auch in Berlin registriert worden, und geistesgegenwärtig konnte man im letzten Moment die Wahlberlinerin Ute Vinzing für die Färbersfrau interessieren. Für den Kaiser stand schließlich noch Gerd Brenneis zur Verfügung - ein Sänger, dessen Leistungsfähigkeit sich hinter der Matti Kastus sicherlich nicht zu verstecken braucht.

Als sich am 13. September mit den ersten dunklen Klängen der Musik der Vorhang teilte, war man auf ein großes musiktheatralisches Ereignis eingestellt. Ein Hindernis galt es jedoch zu überwinden: das der Technik. Die Pannen häuften sich. Ein Zwischenvorhang hob sich nicht, und ohne Beleuchtung mußte der Kaiser zu seiner Falknerhausszene ansetzen. Zu lange und zu oft hat man kurze und technisch anspruchslose Opern im Repertoire gegeben, so daß das Haus große und schwierige Werke im Opernalltag nicht mehr reibungslos bewältigen kann. Dem umfangreichen Fotoanschlag im Foyer, mit dem die "neue computergesteuerte Lichtstellanlage" gepriesen wird, sprachen die Ereignisse am 13. September jedenfalls Hohn.

Daß es nach beiden Aufführungen dennoch zu unerhörten Ovationen kam, spricht für die Qualität und den Einsatz der Solisten, des Orchesters und nicht zuletzt auch der unvermindert wirkungsvollen Ausstattung Jörg Zimmermanns. Das Bühnenbild hat nichts von seiner Schönheit, dem entrückenden, farblich kontrastreichen Zauber für das Sankt Nimmerlein der "südöstlichen Inseln" oder "Keikobads Reich" verloren. Anstelle der ursprünglichen Regie trat die individuelle Gestaltungskunst einer Besetzung, deren Mitglieder sich in ähnlicher Ausstattung schon an den Häusern der Städte Wien, New York, Paris, Stockholm, Hamburg oder San Francisco erprobt hatten.

Für die Überraschung des ersten Abends sorgte Ute Vinzing. Sie präsentierte eine in gesanglicher wie darstellerischer Hinsicht hochdramatische Färbersfrau. Ihr Volumen hat in den letzten Jahren an Umfang und Kraft gewonnen, nichts jedoch von seiner Flexibilität eingebüßt. Im Spiel gewandt improvisierend gelang es ihr auch stimmlich, den großartigen Eindruck zu wiederholen, den schon ihre Karlsruher Interpretation hinterlassen hatte. Allerdings muß man ihr bei ihrem Berliner Auftritt eine gewisse Nervosität zugute halten, die durch empfindliche Striche in den Partien des Färberpaares ausgelöst wurde. Diese Kürzungen konnten sich zwar noch durchaus günstig auf die dramaturgische Flüssigkeit der ersten beiden Aufzüge auswirken, hatten aber im 3. Aufzug, wo sie weit über die von Karl Böhm eingeführten hinausgingen, verstümmelnden Charakter. Das stark verkürzte Schlußquintett verlieh den darauf wieder erklingenden Gesängen der Ungeborenen einen Überhang, der die trivialen Züge dieses Finales noch betonte.

Ein Dirigent, der die groß besetzten Passagen wie Blöcke aus der Partitur herausmeißelte und lautstark auskostete, der sich diesmal weniger mit den Feinheiten der Orchestrierung oder der Ausgewogenheit zwischen Streicher- und Bläserbewegungen aufhielt, war Heinrich Hollreiser. Folgte ihm das Orchester der Deutschen Oper am ersten Abend etwas unkonzentriert und zerfahren, fand es am zweiten dann zu einer kontinuierlicheren Verfassung, mit der es die Oper dann zunehmend musizierte, als sie nur zu spielen.

Birgit Nilsson war am 17. September soweit gesundet, daß sie die Färbersfrau nunmehr übernehmen konnte. Ihrer Durchschlagskraft taten die Orchestermassen der Aktfinali keinen Abbruch. Nach wie vor gebietet sie über ein phänomenales Organ, das im oberen Register unversiegbare stählerne Strahlkraft besitzt. Auch in dieser Partie überwältigte sie mit überlegener technischer Geschmeidigkeit im Ansatz hoher Töne und in der Beherrschung ihrer mezza voce. Birgit Nilssons Färbersfrau war - erstaunlicherweise - auch in den ersten beiden Akten weniger hysterisch auffahrende Tragödin rollensprengender Dimensionen, als ein sich ganz schlicht nach Liebe, Aufmerksamkeit, nach seiner eigenen Identität sehnendes Geschöpf. Diese Interpretation ergab zusammen mit ihrer vokalen wie physischen Wucht ein Rollenmonument, das sich ebenso durch Kraft und Ursprünglichkeit wie durch erstaunliche (wenn auch nicht immer ganz rollenspezifische) Subtilitäten und Zwischentöne auszeichnete.

Eine Kaiserin, die wiederum ihre eigenen, schon zur Legende gewordenen Leistungen einholen, wenn nicht gar übertreffen konnte, war Leonie Rysanek. Die Sopranistin, die diese Partie seit Beginn der fünfziger Jahre weltweit unvergleichbar geprägt, ja zu ihrem Begriff geworden ist, hat mit dieser Partie in den letzten 25 Jahren die größten Erfolge ihrer Laufbahn im deutschen Fach errungen. Im 1. Akt gewann ihre Gestaltung nun eine schwebende, unirdische Komponente dazu - ein Ausdrucksmittel, das dem folgenden Bewußtwerdungsprozeß der Figur als großartiger Kontrast diente. Der vorbehaltlose stimmliche wie körperliche Einsatz dieser Sängerin verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht. Vom ersten Bild an entfaltete sie ihr vor Temperament glühendes, in jeder Phase packendes Konzept von der Menschwerdung der Frau ohne Schatten, dieses unbewußt und egozentrisch liebenden Fabelwesens. Leonie Rysaneks goldener Sopran erklang so leuchtend, tönte mit einer Strahlkraft und einem Höhenhunger über den Ensembles, als sei die Zeit an dieser Stimme spurlos vorübergegangen. Die Klippen des 3. Aktes, der ganz ihrer Gestaltung gehörte, meisterte sie mit einer solchen Souveränität, als seien Oktavsprünge und Spitzentöne ihr täglich Brot. Schauspielerisch zog sie die Register ihres langjährigen Könnens, ihrer einzigartigen Routine und ihrer völligen Identifikationsfähigkeit.

Neu für das Berliner Publikum war der Barak Dietrich Fischer-Dieskaus. Seine darstellerische Intelligenz und die schlanke Linie seiner Singstimme bestimmten einen Färber, dessen Handlungen vom Kopf, vom Intellekt her bestimmt waren. Mit der Erdhaftigkeit, der naturverbundenen Einfachheit Baraks verband sich Fischer-Dieskaus sängerische Persönlichkeit in den ersten beiden Akten nicht gerade ideal. Rollenanspruch und Spieltalent des Sängers schienen nebeneinander zu stehen. Auch war dieser Barak von überlegener Jugendlichkeit, die seinen hilflos elementaren Wutausbruch am Ende des 2. Akts unglaubwürdig scheinen ließ. Daß Fischer-Dieskau seinen Gesangspart unvergleichlich delikat und besonnen auskostete, versteht sich bei ihm von selbst. Einen jubelnderen Barak als den seinen hört man am Schluß der Oper selten.

Gerd Brenneis, der den Kaiser schließlich sang, bot sein nunmehr heldentenorales, expressives Organ auf. Der extremen Lage seiner Partie war er gut gewachsen, ihre Anforderungen meisterte er mit ausgeglichenen Registern und umfangreichem Volumen. Wenn der Kaiser, was allerdings selten zu beobachten ist, auch Raum für darstellerische Qualitäten läßt, so war das hier Gerd Brenneis’ Sache nicht. Mit seinem vokalen Einsatz jedoch war aber auch er den Ansprüchen seiner Partie gewachsen.

Ruth Hesse, als Amme weltweit gefragt, bot trotz entzündlicher Gelenkerkrankung eine Leistung, die schillernde dämonische Züge aufwies. Diese Amme hatte Mutterinstinkt, verführerische Zweideutigkeit, Schläue und auch Wärme. Ihre Stimme beherrschte die hohen dramatischen Passagen der Partie exzellent, hatte in der Mittellage ein feines, seidiges Mezzotimbre und klang nur im Brustregister etwas reduziert. Bewundernswert war wieder ihre Bühnenpräsenz und ihr reaktionsfreudiger körperlicher Einsatz.

William Dooley setzte als Geisterbote zu Beginn der Oper mit seinem charakteristischen Bariton einen markanten Höhepunkt. In weiteren Partien gab Karin Ott eine höhensichere Stimme des Falken; Dorothea Weiss war ein hellstimmiger Hüter der Schwelle. Baraks Brüderterzett fand in Ernst Krukowski, Manfred Röhrl und Martin Vantin bewährte, souveräne Verkörperungen; nicht ganz so gut sah es mit den sechs Solostimmen aus, die reichlich unhomogen erschallten. Auch die hohen Chorpassagen der ungeborenen Kinder klangen unsicher und anämisch.

Das festlich gestimmte Publikum ließ sich’s jedoch zu recht nicht verdrießen und feierte die Solisten schon nach den einzelnen Aktschlüssen mit frenetischen Ovationen, die sich am Schluß orkanartig verstärkten und alle Mitwirkenden einschlossen. Der Beifall war nicht übertrieben, doch konnte man seinem Stärkegrad etwas wehmütig entnehmen, wie ausgehungert das Berliner Publikum nach derartigen Aufführungen zur Zeit ist. Nach Opern, die dem Rang und den Dimensionen des Hauses eher entsprechen, als ungezählte "Fidelio"-, "Don Carlos"- oder "Madame Butterfly"-Vorstellungen, mit denen man ein zahlreich erscheinendes, dankbares Touristenpublikum befriedigt. An Bilanzen und Platzausnutzungsziffern läßt sich die künstlerische Qualität eines Opernhauses dann wohl doch nicht ablesen.

BKD


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 15. September 1978 

"Die Posaune, die uns lädt"

Wiederaufnahme der "Frau ohne Schatten" in der Deutschen Oper

    

"Dumpfe Halbtierheit" schreibt der Germanist Richard Alewyn dem Färber in der "Frau ohne Schatten" zu; aber spricht ein Handwerker, der die Ware selbst zum Markt trägt, um den Esel zu sparen, in irgendeinem Land je von Reden, die gesegnet seien "mit dem Segen der Widerruflichkeit"? Über Hofmannsthals Erzählung, das Konzentrat der schweifenden Opernhandlung, sind Abhandlungen und Dissertationen verfaßt worden. "Aus unsern Taten steigt ein Gericht / Aus unsern Herzen ruft die Posaune, die uns lädt", singt die Kaiserin, Tochter des Geisterfürsten Keikobad, die sich durch Mitleid den Schatten, Sinnbild des Menschseins und der Mutterschaft, verdient. Und der Färber und die Kaiserin bilden im Verlauf der umfänglichen Handlung mit dem erst versteinten, dann erlösten Kaiser der "südöstlichen Inseln" und der erst giftig und "trotzig" redenden, dann geläuterten Färberin ein "magisches Quadrat". Es geht in der Märchenbeschwörung mit weißen Gazellen, blutenden Falken, Wasser des Lebens, Geisterboten und Stimmen der Ungeborenen, die sich als Fischlein in der Pfanne vernehmen lassen, um nicht mehr und nicht weniger als "das ewige Geheimnis der Verkettung alles Irdischen" (Hofmannsthal).

Eingedenk der Tatsache, daß dies alles der Weltkriegs-Realität, während derer es vollendet wurde, sehr fern, bewußte oder unbewußte Flucht ist, daß die Partitur von einem Richard Strauss stammt, der die Mittel einer modernen Musik, die ihm als dem Komponisten der "Salome" zur Verfügung standen, längst aufgegeben hat, daß man es mit dem Gegenteil eines avantgardistischen Werkes zu tun hat, daß von "Faust"-, "Iphigenie"-, "Zauberflöte"-Dimensionen vielleicht weniger die Rede sein kann als von einem nostalgischen Welttheater – eingedenk aller Einschränkungen, die der zurückgewandten Eigenart der "Frau ohne Schatten" zukommen, kann sich kaum jemand vor der Verzauberung verschließen, die das Stück auf Interpreten und Publikum noch immer ausübt.

Ein Werk des Ästhetizismus – gewiß: aber könnte sonst Dietrich Fischer-Dieskau sich mit der Darstellung eines "dumpfen", ahnungslosen Charakters, wie er dem Färber eigen sein soll, so subtil präsentieren und in die Herzen singen wie jetzt in der Deutschen Oper Berlin? Die Raffinesse der Dichtung und Abglanz-Musik gestattet die seiner Interpretation – zu schweigen von der unvergleichlich timbrierten Lyrik im letzten Akt: "daß ich sie einmal noch sähe". Die ganze Aufführung unter Heinrich Hollreisers musikalischer Leitung zeichnete sich durch Sensibilität aus, was auch die Aufbereitung der in sich sehr stimmigen Sellner-Inszenierung von 1964 durch Winfried Bauernfeind betrifft. Und deren Patina steht dem Werk nicht schlecht. (Die ungewöhnliche Länge der zweiten Pause und damit der Vorstellung hatte mit dem schwierigen Aufbau der alten Szenerie Jörg Zimmermanns zu tun.)

Die Chance, anstelle der vorgesehenen Birgit Nilsson die Färberin zu singen, nutzte Ute Vinzing mit schönem musikalischem Impetus und vokalen Qualitäten, die sich in den letzten Jahren erstaunlich entwickelt haben. Gerd Brenneis, obwohl nicht die ideale Stimme für den Kaiser, vertrat seine ebenfalls kurzfristig übernommene Partie sehr respektabel, William Dooley und Dorothea Weiss nahmen in kleineren Rollen aus dem Geisterbereich für das Ensemble ein, die "Stimmen der Wächter der Stadt" sorgten mit William Murray, George Fortune und Victor von Halem für klangvolles Unisono. In einer ihrer besten Rollen, der der Amme, schien Ruth Hesse (trotz einer sehr schmerzhaften Entzündung im Arm) über sich selbst hinauszuwachsen. Leonie Rysanek schließlich bestätigte in der Partie der Kaiserin ihren Rang als Star mit der Kostbarkeit ihres Soprans und faszinierender Gestaltungsintensität.

Bravo-Rufe für die Sänger, den Dirigenten und das Orchester (in dem Ursula Götz und Günter Lösch sehr schön die Streicher-Soli gespielt hatten).

Sybill Mahlke

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