Zum Liederabend am 25. April 1978 in Bonn

    

     General-Anzeiger, Bonn,  27. April  1978     

    

"Winterreise" pausenlos

Dietrich Fischer-Dieskau holte sein Bonn-Gastspiel nach

     

Gewiß singt er, interpretiert er singend heute anders als vor zehn, fünfzehn Jahren. Doch haben solche Wandlungen an der Tatsache nichts geändert, daß Dietrich Fischer-Dieskau immer noch einer der ganz großen begnadeten Liedersänger der Epoche genannt werden muß. Welchen schriftstellerischen oder musikalischen Tätigkeiten sich der Künstler in den letzten Jahren sonst auch zugewendet haben mag (dem Orchesterdirigieren widmet er sich neuerdings mit besonderer Intensität), im Liedgesang findet sein Können wohl immer noch den beredtesten, vollendetsten Ausdruck. Der Bonner Abend in der vollbesetzten Beethovenhalle, mit dem er sein schon für den letzten Oktober geplantes Gastspiel im Rahmen der Akademischen Sonderkonzerte Rabofskys nachholte, bewies das erneut.

Daß das am Beispiel von Schuberts "Winterreise", der höchsten Herausforderung an die Gestaltungskunst eines Liedersängers, geschah, machte den Abend zusätzlich zu einem bewegenden Ereignis. Denn Fischer-Dieskau war seit jeher der Ansicht und praktizierte sie auch, daß dieser Zyklus mehr ist als eine lockere Sammlung von schönen Einzelliedern, sondern in bewußter, sehr differenzierter Ausgestaltung von Zusammenhängen eine durchgehende Geschichte erzählt, als deren Inhalt sich freilich nur subsumieren ließe, was mit so weiten Begriffen wie der romantischen "Sehnsucht nach dem Tode", der Melancholie angesichts von Endzeit, der resignierenden Absage an jede Hoffnung auf Erfüllung von Liebe oder Glück umschreibbar wäre. Um das erfahrbar zu machen, ist es nur folgerichtig, wenn der Interpret heute darauf besteht, den Zyklus ohne Pause aufzuführen und das neunzigminütige Werk als das bündige Drama aus lyrischen Episoden hinzustellen, das es in der Tat ist.

Wie nun im einzelnen aus solchen Episoden, aus Momentbildern und in harter oder weicher Beleuchtung herausgestellten Details, aus lyrisch verkürzter Beschreibung oder moralischer Betrachtung der Sängerinterpret ein "Gesamtkunstwerk" zu erstellen unternimmt, darüber ließe sich sicherlich ausführlich diskutieren – und streiten wohl auch über Stellen, die etwa "überinterpretiert" erschienen angesichts ihrer offenkundig bloß rührenden Naivität und Unschuld. Grundsätzlich hat der Liedersänger Fischer-Dieskau dabei gegenüber seinen früheren Interpretationen gerade auch der "Winterreise" heute das übertriebene, manieristische Deklamieren fast ganz abgelegt, dringt er eher auf die künstlerische Essenz und eine Formel der Vergeistigung.

Mehr auch als früher verläßt er sich offenbar auf die Kraft der Musik, unterstreicht oder akkompagniert er wohl seinen Vortrag noch mit entsprechenden Gesten und wechselnden Haltungen, macht aber dabei immer sehr nachdrücklichen Gebrauch von den enormen Möglichkeiten seiner Stimme, spielt in noch reiferer, durchdachterer Differenzierung die reiche Palette an Klangfarben und Nuancen des Tonfalls aus, über die er verfügt, um den Ausdruck noch genauer, noch treffender, noch näher an Schuberts Musiktext mitzuteilen. Aus der großen Anspannung der anderthalb Stunden des Zuhörens, die von keiner Minute der Langeweile und des Spannungsabfalls getrübt erschienen, lösten sich die Ovationen des Publikums für den Sänger und seinen Mitgestalter am Klavier, Günther Weissenborn, der sicherlich wie kaum einer die Intentionen Fischer-Dieskaus gerade beim Singen von Schubert-Liedern mitzuvollziehen versteht.

Hans G. Schürmann

zurück zur Übersicht 1978
zurück zur Übersicht Kalendarium