Zum Liederabend am 20. Oktober 1977 in Mannheim   


 

     Mannheimer Morgen, 22. Oktober 1977     

Franz Schuberts höchst empfindsame Liedkunst

Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter im Mozartsaal des Mannheimer Rosengartens

     

Er kann sich die Künstler aussuchen, mit denen er musizieren will. So gibt es Langspielplatten von Dietrich Fischer-Dieskau mit Gerald Moore am Klavier, mit Christoph Eschenbach und seit einigen Jahren auch mit Svjatoslav Richter. Der große Pianist, der als erster Musiker der Sowjetunion nach dem Krieg in der Bundesrepublik spielen durfte, ist sich nicht zu schade, als Begleiter in den Schatten des Sängers zurückzutreten.

Doch was heißt dieses Wort überhaupt in einem solchen Fall? Ist es denn wirklich eine "Schattenrolle", nicht vielmehr eine unerläßliche Voraussetzung, eine Partnerschaft? Die Begleiter der bedeutenden Liedersänger waren zu allen Zeiten selbst bedeutende Pianisten. Von Michael Raucheisen (im Zusammenwirken mit Heinrich Schlusnus) über Hubert Giesen bis zu ... nun ja, eben bis zu Svjatoslav Richter, der sich freilich so einseitig wie die Vorgenannten auf dieses Gebiet nicht festlegen läßt.

Wie alle Musiker von Geblüt reizt es ihn aber wohl, von Zeit zu Zeit dem Solistentum zu entsagen und Kammermusik zu treiben. Mit anderen. Mit Dietrich Fischer-Dieskau zum Beispiel. Was das bedeutet, war durch die dankbar zu registrierende Vermittlung der Heidelberger Konzertdirektion Knoblauch im Mozartsaal des Mannheimer Rosengartens jetzt zu erleben. Neun Städte besuchen die beiden Künstler auf ihrer knapp drei Wochen dauernden Herbsttournee. Aus den unterschiedlichen Programmen war für Mannheim ein reiner Schubert-Abend ausgewählt worden.

Ein echter Schubert-Abend. Eben auch und besonders am Klavier. Richter (der sich an diesem Abend gar nicht wohl gefühlt haben soll, daher der verspätete Beginn) enthüllt am Flügel die ganze Poesie der Natur, die Poesie der Seele, die Schubert eigen ist. Da entstehen musikalische Bilder von berückender Zärtlichkeit, in fließender Bewegung, die nie zum Eigenzweck wird, nie zur bloßen Illustration, sondern zu einer Aussage, in der das vertonte Wort weitergeführt wird in eine unsäglich anrührende Imagination.

Da ist der Pianist eins mit dem Sänger. Auch für Fischer-Dieskau ist die menschliche Tonart, die Erforschung des inneren Kerns wichtiger als der äußerliche Effekt. Er geht dabei sehr weit. Mutet nicht nur seinem Publikum seit eh und je Programme zu, die fernab der gewohnten Straßen liegen. (Schubert an diesem Abend eingeschlossen.) Er liebt es auch, die Stimme zu einem kaum noch hörbaren Pianissimo zu reduzieren, zwingt seine Zuhörer, genauestens aufzupassen, keinen Muckser zu tun, damit nichts von dem verlorengeht, was er an kunstvoller Nuancierung, an Finessen des Ausdrucks, an Verinnerlichung zu bieten hat.

Dietrich Fischer-Dieskau ist gewiß der Schöngeist, der Literat unter den Liedersängern. Unverkennbar die Lust am Manierismus als Stilmittel. Darin Karajan verwandt. Schlichtheit ist für ihn kein Naturereignis, vielmehr ein Kunstprodukt. Er hört gleichsam jedem Ton nach, ob das Wort "süß" wirklich süß im Klang gekommen ist, ob die Sentenz "Auf der Wellen Spiegel ..." so weich, so fließend gehalten ist, wie er sie sich vorstellt. Männliche Kraft, wo sie gefordert wird, Temperament und Dynamik geraten in keiner Sekunde aus der Kontrolle des Geistigen, die ihm oberstes Gebot ist. Fischer-Dieskau denkt tief nach, bevor er singt.

Genau da liegt die Faszination, die er durch das wundersam schöne Timbre seines Baritons und die ausgefeilte Technik abzusichern weiß. Genau da liegt die Gefahr, die seinem Liederabend droht. Die Gefahr allzu großer Empfindsamkeit. Der trügerische Eindruck, nicht ausbrechen zu können aus der Attitüde des Gepflegten, des Geschmackvollen, des Genießerischen, eines Kultur- und Kunstbewußtseins, das die Abgründe des Schicksalhaften wie des menschlichen Charakters nicht zu kennen scheint. Die Gefahr der Einseitigkeit, des Eintönigen. Die Fähigkeit, leise Schluß-Wendungen zum verlöschenden Hauch zu bringen, ist ein intellektueller Vorgang, kein sinnenhaftes Geschehen.

Richters pianistische Zutat bleibt auch da realistischer, gegenwärtiger, nicht ganz so jenseitig transzendierend. Er bleibt gleichsam auf der Erde, auch wo er kostbare Facetten in Anschlag und Ausdruck dem Sänger entgegenbringt.

Beide wurden sehr und lange gefeiert bei ihrem Mannheimer Gastspiel. Beide wurden erst nach mehreren Zugaben entlassen.

Kurt Heinz

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     Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg, 22. Oktober 1977     

Der wenig bekannte Schubert

Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter in Mannheim

   

Zwei große Namen, ein großer Abend im Mannheimer Rosengarten. Dietrich Fischer-Dieskau gehört zu den Botschaftern des Liedes in unserer Zeit, vor allem zu den begnadeten Vermittlern des umfangreichen Liedschaffens von Franz Schubert. Fischer-Dieskau hat mit einer ganzen Reihe von exzellenten Pianisten bei Schubert Bekanntes völlig neu hörbar gemacht, Unbekanntes zum selbstverständlichen Gemeingut erhoben. In den beiden je neun Schubertlieder umfassenden Gruppen war kein einziges, das zu den sogenannten berühmten zu zählen wäre. Und dennoch hatte jedes Lied den Anschein des Bekannten, des schon einmal Vernommenen, des endlich wieder Gehörten. Es bleibt wohl das Geheimnis des großen Sängers, eines jeden großen Sängers, woher er letztlich die überragende Überzeugungskraft nimmt, die aus nahezu jeder seiner Liedinterpretationen herausstrahlt.

Svjatoslav Richter, der weltberühmte russische Pianist und Solist deutscher Abstammung, ist ebenfalls ein Botschafter des Schubertliedes geworden. Wie ein großer Opernsänger die Hinwendung oder die Rückkehr zur Gattung Lied als höchste Stufe einer Künstlerlaufbahn begreift, so scheint Svjatoslav Richter seine Erfüllung in der Liedbegleitung gefunden zu haben. In welcher Vollendung Fischer-Dieskau und Richter bei unterschiedlichster Physiognomie und jeweils eigenem Temperament im gemeinsamen Musizieren harmonieren, ist wiederum ein Geheimnis. Da läßt sich zwischen Singstimme und sogenannter Begleitung kein noch so dünnes Blatt mehr schieben. Das nahtlose Ineinanderfließen von den Boden bereitenden Klavier-Vorspielen, von Gesangsbögen, von musikalischen Sinneinheiten, von lautmalerischen Instrumentaleffekten oder von dezidiert vorgetragenen vokalen Interpretationsschwerpunkten – all dies hat die Qualität eines einzigen, ungeteilten Organismus.

Die zweite Liedgruppe nach der Pause war die entschieden bessere, geschlossenere, die hochgespannten Erwartungen einer begeisterungsfähigen Zuhörerschaft sicher erfüllende, wenn nicht übertreffende Gruppe. Die Stimme von Fischer-Dieskau benötigte an diesem Abend diese relativ lange Anlaufzeit, um zur vollen Entfaltung zu gelangen. Wie er zusammen mit Richter die in "Totengräbers Heimweh" erreichte Höhe einer fast beklemmenden Unmittelbarkeit in der Vermittlung von Gedicht und Vertonung im gesamten zweiten Teil und in sechs Zugaben durchhielt, machte schon allein dieses Konzert zu einem Ereignis. Der Gefahr, daß leicht überzogenes Deklamieren von oftmals banalen Textinhalten zum Selbstzweck und das Singen im eigentlichen Wortsinn zweitrangig werden kann, ist Fischer-Dieskau dabei nicht immer entgangen. Diese Gefahr gehört zu seinem Gesangsstil und zu seiner Anschauung von musikalischer Interpretation. Sie schlägt immer dann in eine bislang unerreichte Darbietungskunst um, wenn sprachliche und musikalische Lyrik sich zu einer höheren Einheit zusammenfinden.

Hermann Jung

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     Die Rheinpfalz, Unterhaardter Rundschau, Ludwigshafen,    
    
22. Oktober 1977     

"Hausmusik" in höherem Sinn

Schubert-Liederabend mit Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter

     

Wer sich noch an Friedrich Brodersen, Paul Bender, Heinrich Rehkemper und Karl Erb erinnert, der weiß, mit welcher geistig-musikalischen Selbstverständlichkeit diese Münchner Sänger das Lied bis in große Säle trugen. Ihr wahrer Nachfolger wäre Fritz Wunderlich geworden, nach seinem Tod setzte nur Peter Schreier in etwas kühler Schlichtheit ihre Liedweise fort. Einen anderen Weg beschritten Richard Tauber mit seiner "musikantischen Phraseologie", sowie Gerhard Hüsch und Hans Hotter. Von da etwa gingen Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey aus, die auf unzähligen Schallplatten geradezu Kompendien des Liedes darstellten und das Publikum erneut in die größten Säle lockten. Prey mehr auf die volkstümliche Art und Fischer-Dieskau, der schon seit seinem 25. Lebensjahr (also seit 1948) als "bester deutscher Gesangskünstler" gilt, auf intellektuellere Weise. Seine stimmlich-musikalische Leistung reicht von balladesker Expressivität zu äußerster Vornehmheit.

Rank und schlank, wie nie zuvor, betrat er mit Svjatoslav Richter als Begleiter das Podium im so gut wie ausverkauften Mozartsaal des Mannheimer Rosengartens. Das pathetisch Tönende von einst hat er weitgehend abgetan, ebenso die übermäßige Pointierung, so daß die Interpretation des ausgewählten Schubert-Programms in stilistischer, sprachlicher und musikalischer Kompetenz nahezu ohne Vergleich erschien: Im Gebrauch der Mittel zurückgenommen, mied er meist das spröde Forte, das er gerne sporadisch anschlägt und stellte die "gesungene" Phrase im mezza voce, das ihm meisterhaft zur Verfügung steht, noch mehr (oft bis zur letzten Verdünnung) heraus. So behandelte er Schubert (und am Schluß fünf Zugaben dazu) mit der "Intimität der Hausmusikpflege" auf höchster Ebene. Es begann mit dem stürmisch bewegten "Versunken", um gleich in das eher enttäuschende von "Des Sängers Habe" überzugehen. Die Artikulation der Romantik in "Wehmut" hätte weniger überlegte Deutung und mehr Expression vertragen. Das "Zügenglöcklein" sang Fischer-Dieskau sehr schön. "Der Schiffer", ein ausgesprochenes Tenorlied, war in die höhere Baritonlage transponiert, was einförmigen Ausdruck ergab, dennoch bestach das allen Respekt verlangende Unternehmen. In "Totengräbers Heimweh" war die Stimmungsnähe der dramatischen Ballade zur "Winterreise" in voller Spannung getroffen. "Am Fenster" inspirierte den Sänger, "Die Sterne" gelangen in vollkommener lyrischer Gelöstheit. Beeindruckend die "Fischerweise", das überakzentuierte Deklamieren im Rhythmus störte bei "Auf der Bruck". Mit "Im Frühling" wurde eines der kostbarsten Lieder Schuberts gedeutet. Pianowohllaut und stupende Diktion zeichneten den Vortrag des Sängers aus.

Svjatoslav Richter wirkte jedem routinierten Ausdrucksschema entgegen. Zu der künstlerischen Sorgfalt, die Fischer-Dieskau in die Schöpfungen legte, fügte der berühmte Russe eine mentalitätsmäßig unbeirrte Schubert-Begleitung hinzu. Er war das lebendige Kunstwerk selbst, löste alles aus dem Notenbild heraus, fand den Weg zum Sängerpartner wie auch den Weg zum Publikum: Auf kammermusikalische Intimität bedacht, wie sie dem ursprünglichen Charakter der Lieder zukommt, brachte er dennoch die "biedermeierliche Hausmusik" in die große Konzertaufführung ein. Er verwandelte sie in feiner und sicherer Weise, half wesentlich mit, daß ihre Botschaft den traf, der sich ihr öffnete.

Kurt Unold

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