Zum Liederabend am 16. Oktober 1977 in Wuppertal


    

     General-Anzeiger, Wuppertal, 18. Oktober 1977     

Zauber der Stille

Liederabend mit Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter am Flügel

     

Seit Dietrich Fischer-Dieskau im März 1950 erstmals in Wuppertal gesungen hat (die Christusworte in Bachs Matthäus-Passion), kehrte er in fast regelmäßigen Abständen in die Stadthalle ein. Nie mit einem populären Allerwelts-Programm, meist als unüberbietbarer Gestalter von Lied-Zyklen.

Und wenn er einen Dichter als Thema wählte oder Werke eines Komponisten zur Einheit band, so war die Programmfolge stets auf einen Grundton abgestimmt.

In Wylachs Sonder-Meisterkonzert kam jetzt der meist unbekannte Schubert zum Klingen, ähnlich wie schon einmal im Mai 1971. Aber die stille Innigkeit des Bekenntnisses überwog noch mehr als damals: der Grundton von Wehmut, Schmerz, Tod.

Dabei gebricht es dem begnadeten Sänger in keiner Weise an stimmgewaltigem Ausbruch. "Der Schiffer" kann seinen Trotz gegenüber Naturgewalten nicht stolzer, flammender bekunden, als Fischer-Dieskau es tat.

"Auf der Bruck": Da braust die Leidenschaft eines Verliebten auf, und im Schluß-Stück "Aus Heliopolis" ist titanischer Übermut beschworen.

Muß gesagt werden, daß all diese Stimm- und Ausdruckskraft nichts mit Kraftprotzerei zu tun hat? Daß sie in jeder Sekunde mit Ton- und Wortgehalt übereinstimmt?

Im Piano- und Pianissimo-Bereich teilen sich freilich Schmelz und Nuancierungskunst des Baritons noch faszinierender mit. Wie etwa in "Wehmut" das "vergeht" in Moll verschwebt, ist atemnehmend. Und in "Totengräbers Heimweh", dieser unheimlichen Klage, wird die Todesnähe zur erschütternden Vision.

Solche Intimität, die in der Hausmusik zu Schuberts Lebzeiten wurzelt, büßt im großen Konzertsaal natürlich einiges ein. Selbst in den vorderen Reihen war das Wort über Takte hin kaum oder gar nicht mehr verständlich. Könnte da nicht eine Korrektur der Dynamik Abhilfe schaffen?

Auch auf lichtere Lieder des zweiten Programmteils ("Die Vögel", "Liebeslauschen") trifft dies zu. Aber der Sänger versteht es, auch den zartesten Hauch zum Erlebnis werden zu lassen.

Svjatoslav Richter, der große russische Pianist, war der kongeniale Begleiter, der auf mitgereistem Yamaha-Flügel die Liedmelodie sensibel stützte und weiterspann, vor allem in der Stille.

Wie an Fischer-Dieskau-Abenden gewohnt, hielten im vollbesetzten Saal Ovationen und Zugaben über eine halbe Stunde an.

Nachtrag: Mußte das über den Raum gegossene Dämmerlicht das Fest eines künstlerischen Ereignisses trüben, zumal damit der Blick in die meist unbekannten Texte erschwert wurde?

Alfred Mayerhofer

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