Zum Konzert am 16. September 1977 in Berlin


Die Welt, Berlin-West, 19. September 1977

Berlins Philharmonisches Orchester unter Zender mit Fischer-Dieskau, Palm, Havenith

Weihnachts-Requiem, mitten im September

Aribert Reimanns "Wolkenloses Christfest" gehört anscheinend zu den christlichen Festen, die sich im Kalender verschieben lassen. Schon lange zur Berliner Erstaufführung anstehend, mußte es seinerzeit krankheitshalber abgeblasen werden. Erst jetzt, mitten im September, klang nun sein Weihnachts-Requiem auf: eine Kantate für Bariton, Violoncello und Orchester von etwa 35 Minuten Spieldauer, gewidmet den beiden Solisten Dietrich Fischer-Dieskau und Siegfried Palm, gespielt von den Philharmonikern unter der glänzenden Leitung Hans Zenders. Aus dem Einleitungswerk wurde das Zentralstück des Abends.

Vier Gedichte des frühverstorbenen Otfried Büthe hat Reimann in Musik aufgehen lassen, sie nicht etwa, jedes für sich, nach dem Brauch älterer Orchesterlieder vertont. Reimann macht kaum Zäsuren. Seine Musik überfließt die Schlußverse fast jeden Poems, verliert sich aber weder in lyrischer Esoterik, noch schäumt sie in zerrissener Expressivität auf.

Es ist eine Musik der kleinen Schritte und der großen inneren Wirkungen: eine beteiligend dramatische Musik, die ihre Spannungen nur selten herausschreit. Danach darf man auf Reimanns "König Lear", an dem er für Dietrich Fischer-Dieskau und die Münchener Staatsoper schreibt, doppelt und dreifach gespannt sein.

Das "Wolkenlose Christfest" (so ist auch das letzte der vier Gedichte überschrieben) zeigt Reimanns Kunst auf einem neuen, höheren Reifegrad. Sie hat alle Nervositäten abgestreift. Sie verspielt sich nicht mehr, sondern genießt die eigene Ruhe und gewinnt sich aus ihr schön klingende Kraft. Dietrich Fischer-Dieskau (wollte man ihm einen Beinamen geben, wie sie für Primadonnen gang und gäbe sind, so müßte man ihn wohl "den Unübertrefflichen" nennen) singt seine Soli mit einer Art seidigen Ernstes: ein Belcantist des Neuen, der über Klangfarben in der Kehle verfügt, von denen die Komponisten, die stets ein Riesenorchester zu usurpieren lieben, um in Klangfarben zu schwelgen, nur träumen können. Fischer-Dieskau ist ein singendes Ein-Mann-Orchester für sich.

Bewunderungswürdig aber auch, wie Siegfried Palm Reimanns luxurierenden Schönklang aufgriff, ohne darüber in cellistische Schönrednerei zu verfallen. Er assistierte dem Werk, Reimann, Fischer-Dieskau, den Philharmonikern auf vollkommene Art. Der Erfolg für das Stück war denn auch bedeutend.

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Klaus Geitel

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