Zum Konzert am 5. Dezember 1976 in Stuttgart


Stuttgarter Zeitung, 9. Dezember 1976 

Harmonie der Stimmen

Pendereckis "Magnificat" in der Stiftskirche

Man sagt, daß gegenseitiges Wohlwollen nicht gerade eine der hervorragendsten Eigenschaften der Kirchenmusiker sei. Um so höher ist die ausgezeichnete Zusammenarbeit zu bewerten, welche normalerweise rivalisierende Organisten und Chöre jetzt bei den Kirchenmusiktagen bewiesen. Einen wahren "Gipfel" der Kooperation markierte jetzt deren Ende: Nachdem das Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks beim Entree mit Mendelssohns "Elias" den Auftakt gegeben hatte, trafen jetzt im Finale mit dem Radiosinfonieorchester Frankfurt, den Chören des Süddeutschen und des Bayerischen Rundfunks sowie dem Chefdirigenten des Südwestfunks Musikbedienstete aller anderen Rundfunkanstalten diesseits der Mainlinie zusammen, wobei neben Ernest Bour die Musikstars Dietrich Fischer-Dieskau und Krzysztof Penderecki als weitere Katalysatoren fungierten.

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Dazwischen stand die "Gesangsszene" nach Giraudoux als letztes Werk von Karl Amadeus Hartmann. Im Gegensatz zu Penderecki verschmilzt Hartmann hier Musikgesten verschiedenster Provenienz zur weiträumigen Klanglandschaft. Dabei handelt es sich einerseits um archaisch-zeitlose Klangsymbole wie etwa das einleitende Flötensolo als "Stimme in der Wüste" oder den wiederholten "Tusch" als Zeichen zum Szenenbeginn. Andererseits findet Hartmann als echter Expressionist packende moderne musikalische Metaphern für das "Verhetzte", Verängstigte und die Schwelle des "Umkippens" in die Katastrophe. Seine Tonsprache liebt auch hier das Füllige, Pastose, ganz seiner Mentalität entsprechend, wobei allerdings, wie es ein moderner Berlioz als Landsmann des Dichters sicher nicht getan hätte, die oft bitter-sarkastische Note des Textes ausgespart beziehungsweise dem Ingenium des Solisten überlassen bleibt.

Hier war es Dietrich Fischer-Dieskau, der nicht nur den jederzeit glaubhaften musikalisch-thematischen Übergang garantierte, sondern als großartiger Gestalter und Musiker alle Ausdrucksfacetten und emotionalen Zwischentöne wunderbar deutlich artikulierte und, wenn es sein mußte, solche Klage um "stummen Frühling" und Untergang auch herausschmetterte.

War die instrumentale Aktion der Frankfurter bei Hartmann unter Ernest Bours gewissenhaft-sachlicher Leitung schon ungleich dichter, so bewies Krzysztof Penderecki im souveränen Umgang mit den Sängerheerscharen (zu den oben genannten trat noch der Knabenchor der Christophorus-Kantorei Altensteig) sein zunehmendes Format als Dirigent. Alles in allem ein bedeutender Abend auf dem Hintergrund einer Programmkonzeption, die Schule machen sollte.

Manfred Gutscher

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     Stuttgarter Nachrichten, 7. Dezember 1976     

Stuttgarter Kirchenmusiktage 1976

Pendereckis Heerscharen

Großaufgebot des Rundfunks mit Fischer-Dieskau als Solisten

    

Mit einem wahren Superaufgebot wurden in der Stiftskirche die 8. Stuttgarter Kirchenmusiktage beschlossen. In einer schier überfüllten Veranstaltung des Süddeutschen Rundfunks sangen und spielten die Chöre des SDR und Bayerischen Rundfunks, die Christophorus-Kantorei Altensteig sowie Schola cantorum Stuttgart, das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung des Chefdirigenten des Südwestfunks Ernest Bour. Dazu dirigierte Krzysztof Penderecki sein Magnificat. Dietrich Fischer-Dieskau war der Solist.

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Von ganz anderer, sehr viel direkterer Art ist die "Gesangsszene", die der deutsche Bekenntnis-Sinfoniker Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) kurz vor seinem Tode komponiert hat und über deren letzten Takten er gestorben ist. Zu Texten aus Giraudoux’ "Sodom und Gomorrha" schrieb er einen aus tiefster Unruhe geborenen, beschwörenden, fast verzweifelten Aufschrei über den Verfall der Welt, der betroffen macht. Hartmanns expressive Musik mag die eher geschliffenen, distanzierten Worte des französischen Dichters überfordern und zum Trugschluß führen, sie sei etwas theatralisch. Doch wer die Integrität und Leidenschaftlichkeit dieses bedeutenden (so sehr vernachlässigten) "deutschen Honegger" kennt, weiß, wie ernst dieses musikalische Furioso gemeint ist. Fischer-Dieskau sang und deklamierte die Texte mit der ihm eigenen Intensität.

Mit der abschließenden Aufführung von Pendereckis "Magnificat" von 1973/74 unter des Komponisten Leitung ergab sich von Aufwand und Publicity her zweifellos der Höhepunkt. Ähnlich wie in seiner Lukas-Passion, aber eben nicht mehr so unverbraucht in den Mitteln, charakterisieren gewaltige chromatische Cluster die kunstvoll gegliederte, kontrapunktisch raffinierte Vielstimmigkeit. Doch gewinnt man den Eindruck, als höben sich Wirkungen ob solch materieller Überfrachtung auf, als verstrickten sich Polyphonie und Polyrhythmik. Gewiß entstehen da grandiose Klangräume, gewaltige Glissando-Kaskaden und Alfresco-Wirkungen; doch wurde bei all dem auch Erschöpfung der Mittel spürbar (die etwa Ligetis Requiem nicht aufweist). Glanzvolles Gloria-Es-Dur schließlich ließ vorhergehende Aufwände etwas ominös erscheinen. Immerhin hatte Stutgart damit eine weitere Großaufführung des berühmten polnischen Zeitgenossen.

Dieter Schorr

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