Zur Opernpremiere am 12. März 1976 in Berlin


   Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 1976      

Die "Meistersinger" in West-Berlin

Fischer-Dieskau als Hans Sachs

[...]

An West-Berlins Oper war eine neue Inszenierung fällig. Die Wieland Wagners liegt 14 Jahre zurück und fand damals eine umstrittene Aufnahme. Die jetzige hat unbestrittenen großen Erfolg gefunden, der freilich nicht nur auf der optisch-szenischen Wiedergabe und der musikalischen Durcharbeitung beruht, sondern auf gesanglichen und darstellerischen Qualitäten. Ja, im Verlauf des langen Abends wird immer mehr Dietrich Fischer-Dieskaus Verkörperung des Schusterpoeten Hans Sachs zum starken und mitunter alles andere beiseite schiebenden Erlebnis. Er, der denkende und fühlende Sänger, hat lange gezögert, die Partie in sein Repertoire aufzunehmen. Vielleicht trug Wagners Ideenwelt während der Arbeit an dem Wagner-Nietzsche-Buch zu dem Entschluß bei.

Wie er die Singschule betritt, mit freundlicher Reserve die Meister begrüßt, auf seinem Schemel nachdenklich die Vorgänge beobachtet, das stellt sofort Atmosphäre her. Zunehmend und spürbar gewinnt der Ritter seine Sympathie, die neue Singform seinen Beifall. Die Stimme ist in bester Form. Noch hält Fischer-Dieskau zurück, ein Meister der Ironie auch im beginnenden Kampf mit Beckmesser. Beim Fliedermonolog des 2. Aktes treten neue Töne auf. Da klingt eine verhaltene Leidenschaft zusammen mit lyrischer Resignation, die der "süßen Not" Ausdruck gibt wie kaum je zuvor. Die Szene mit Eva wird auch im Klang der baritonalen Höhe zum ersten Glücksmoment der Aufführung. Wenn Beckmesser erscheint, kommen die schalkhaften darstellerischen Nuancen.

Dann sitzt er am breiten Schreibtisch, sinnend und einsam in seiner Schusterstube, schickt David in die Kammer, beginnt den Wahnmonolog. Die Steigerung zum zartesten Piano in die mittleren dynamischen Werte ist meisterlich angelegt und durchgeführt. Auch die Gespräche mit Stolzing und Eva sind ganz von Fischer-Dieskaus Vortragskunst getragen. Ein Höhepunkt, wenn er das geliebte Mädchen sanft zurückstößt und sich für einen Augenblick resignierendem Liebeszorn hingibt. Im Quintett ist er es, dem man lauscht.

Auf der Festwiese werden alle Hurratöne vermieden. Köstlich gesungen, ist auch das Bekenntnis zur heil’gen deutschen Kunst Ausdruck eines Strebens in die Regionen, wo eitel Schönheit herrscht. Fischer-Dieskau hat mit diesem Hans Sachs als Sänger wie als Schauspieler eine Vollendung erreicht, wie vor ihm nur Rudolf Bockelmann.

Alle haben es schwer neben ihm. Am wenigsten Peter Lagger, der den Pogner so schön singt und so nobel darstellt wie einst Josef Hermann. Das ist guter Wagnerstil auf belcantistischer Grundlage. Gerd Brenneis hat für den Stolzing einen echten, sehr voluminösen Wagnertenor einzusetzen, der manchmal ein bißchen fahl klingt, aber in der Höhenlage vor allem bei den Preisliedern an Schönheit gewinnt und im Vortrag viel musikalische Intelligenz zeigt. Für die Eva ist Gerti Zeumer keine ideale Besetzung. Sie sieht reizend aus, spielt ein wenig wie ein Schulmädchen und weiß den Konflikt ihres Herzens nicht recht anschaulich zu machen. Die Stimme ist reizvoll und sauber geführt, läßt aber das große Blühen vermissen, das nun einmal für Wagners junge Heldinnen unentbehrlich ist. Ernst Krukowski ist ein überraschend guter Beckmesser, vor allem in der Schusterstube, doch auch bei der nächtlichen Serenade vor Pogners Haus. Anders als üblich ist er mit bunten Puffärmeln und Pluderhosen aufgetakelt wie ein verliebter Gockel.

Den David singt Horst Laubenthal ungemein lyrisch und stimmschön. Was ihm fehlt, ist eine gewisse unfreiwillig buffoneske Note, wie sie Peter Schreier in Karajans Salzburger Aufführung zeigte. Ruth Hesses Magdalene ist glänzend gesungen und gespielt, manchmal etwas spektakulär, namentlich im Vergleich mit der kühleren Gerti Zeumer. Von den Meistern fällt durch prächtige baritonale Mittel Gerd Feldhoff auf, doch bleibt seine Darstellung konventionell.

In den realistisch wirkungsvollen Bildern von Jan Schlubach baut Peter Beauvais seine Inszenierung auf. Der bewährte Schauspielmann hat sich mit dem Problem singender Darsteller geschickt und einfallsreich auseinandergesetzt. Wagners Vorschriften werden meistens von ihm treu befolgt. Er versteht Menschen auch in großen Gruppen zu bewegen wie in der Singschule, in Nürnbergs Straßen und auf der Festwiese, deren romantisch schönes Bild Beifall auf offener Szene fand. Die Prügelszene ist ein turbulentes Meisterstück mit übereinander herfallenden Choristen und Tänzern. Viel Originalität und bürgerliche Eleganz zeigen die Kostüme von Barbara Bilabel.

Am Pult steht Eugen Jochum. Er hat den großen Wagnerschen Faltenwurf, die majestätischen Zeitmaße, den Sinn für Bläsertriumphe, aber auch für die zarte, verinnerlichte Lyrik dieser Partitur. Vom Orchester, das sich an dem Abend sehr gut hält, verlangt er viel; die Es-Dur-Stelle in der Ouvertüre hat man selten so rasch gehört. Die Sänger müssen sich seiner autoritären Stabführung fügen. Er ist mehr Präzeptor als Begleiter. Wäre der Chor nicht von Walter Hagen-Groll so präzis einstudiert, so hätte es wohl Schwierigkeiten gegeben. Der musikalische Stil der ganzen Aufführung ist konsequent durchgeführt.

Zwischen Jochums Konzeption und Beauvais’ Szene gibt es Differenzen. Das zeigt sich am deutlichsten auf der Festwiese, wo auf die Aufzüge der Zünfte verzichtet wird und der Lehrbubentanz sich zu einem Massenereignis steigert. Da verlangt Wagners Partitur andere Lösungen. Doch der Schlußbeifall gibt dem Regisseur recht, ohne dem Dirigenten Unrecht zu tun. Es ist ein stürmischer Erfolg für alle und ein Triumph für Fischer-Dieskau.

H. H. Stuckenschmidt


   

   Der Tagesspiegel, Berlin, 14. März 1976      

Die Gegenwart Alt-Nürnbergs

Die "Meistersinger" unter Beauvais’ Regie in der Deutschen Oper

   

Arnold Schönberg notiert einmal in seinem Aufsatz "Probleme des Kunstunterrichtes" aus dem Jahre 1911: "Ich glaube, Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen!... Dieses unter einem Zwang von innen heraus entwickelte Können, dieses Sich-Ausdrücken-Können ist wesentlich verschieden vom Können des Kunsthandwerkers, das eigentlich doch einen anderen ausdrückt als den Autor." Und in der dritten Szene des zweiten Aufzugs der "Meistersinger" resümiert Hans Sachs sein "Walther-Erlebnis": "Lenzes Gebot, die süße Not, die legt’ es ihm in die Brust: nun sang er, wie er mußt’, und wie er mußt’, so konnt’ er’s – das merkt’ ich ganz besonders." Daß am Ende der "Meistersinger" Hans Sachs und mit ihm die Oper in die berühmten, vielfältig schillernden Worte ausbricht: "Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst", ist als Bekenntnis zum Kunsthandwerker im Sinne des Schönbergwortes kaum mißzuverstehen. Die Begriffe Handwerk, Traditionsbewußtsein können nun nur noch, nach alledem was sich hier drei Aufzüge lang zugetragen hat, als Chiffren des Widerstands gesehen werden, als Symbole jener äußersten Anstrengung der künstlerischen Reflexion, die erst aus der Spontaneität des schöpferischen Müssens das Können hervortreibt und damit eigentlich das sich seiner selbst bewußte Kunstwerk. Wagners Kunsttheorie also, von den vielfältigen gesellschaftspolitischen Einlassungen der Partitur einmal abgesehen, bildet einen kaum zu unterschätzenden Unterstrom des bunten "Meistersinger"-Vordergrundes.

An ihn aber hielt sich Peter Beauvais’ großartige Regie auf durchaus faszinierende Weise. Beauvais redet nicht von Tradition, von Zünftelei, vom gestandenen Bürgergefühl des 16. Jahrhunderts, sondern er führt es vor. Wann immer die Regie in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Jan Schlubach die Chance erhält, diese besondere Mentalitätslage zu verdeutlichen, geschieht es. So werden wir mehrmals Zeuge, wie die Podeste, wie das Gemerk errichtet werden; Tradition und Solidität springen besonders auch auf der Festwiese ins Auge, wenn inmitten der Natur die alten Stühle der Meistersinger rituell gestellt werden. Schlubach errichtet im zweiten Aufzug eine atmosphärisch ungemein dichte Nürnberger Straßenlandschaft, die exakt jene Mitte hält, um die Beauvais sich auch bemüht, jene zwischen Intimität und Solidität, zwischen geöffnetem, reaktionsfähigem, menschlichem Verhalten und den konventionellen Zwängen, die von weither kommen. Beauvais scheint eine Meistersinger-, eine Nürnberger Welt im menschlichen Maßstab errichten zu wollen. Eine Welt also – und darin liegt die fruchtbarste Perspektive dieser Regieleistung -, die kommensurabel, die auch heute noch lesbar und auffaßbar ist. Und sein wesentliches Mittel ist eine Personenführung, die sich um ein Höchstmaß an Unmittelbarkeit des gestischen Ausdrucks bemüht. So gelingt Beauvais bereits im ersten Aufzug, bei der ersten Zusammenkunft der Meisterzunft, eine erstaunliche Profilierung der Charaktere. Zuvor, in der Szene zwischen Eva, Walther und Magdalene, wird ohne viel Umstände, mit einem hohen Maß an Selbstverständlichkeit, jenes Spannungsfeld entworfen, das erst zuletzt, in der großen Volksszene auf der Festwiese, seinen glücklichen Ausgang findet. Die Volksszenen aber, vor Pogners und Sachsens Häusern, auf der Festwiese, in denen Volkszorn oder jenes Einverständnis der Menschen im glücklichen Augenblick vorzuführen ist, gelingen Beauvais kaum weniger großartig. Und das Premierenpublikum reagierte denn auch, als der Vorhang zum dritten Aufzug sich hob und damit der Blick auf jene quirlende, festlich gestimmte, vielfältig gruppierte Menschenmenge fiel, mit bewunderndem Beifall. Bewundernswürdig nicht zuletzt durch die charakterisierende Vielfalt und den optischen Genuß, den die Kostüme Barbara Bilabels bereiteten.

Schwer abzuschätzen, wieviel Dietrich Fischer-Dieskau, der die Rolle des Hans Sachs übernommen hatte, durch seine künstlerische, geistesgegenwärtig die Szene permanent konzentrierende Arbeit dieser Inszenierung zugetragen hat. Seine schauspielerische und sängerische Klugheit zu erleben, gehörte zweifellos zu den hinreißendsten Opernerlebnissen seit langem. Geflissentlich, väterlich, beherrschend in den Dialogen, anrührend in seinen Monologen, etwa im großen Ausbruch der ersten Szene des dritten Aufzugs "Wahn! Wahn! Überall Wahn!", gab es an diesem Abend keinen Augenblick, dem er nicht ein Maximum an schauspielerischer und musikalischer Faßlichkeit zu geben vermocht hätte. Und die Diskretion, mit der am Ende Wagners Deutschtümelei von ihm bewältigt wurde, gehörte wahrhaft zu den Kabinettstücken jener an Höhepunkten so reichen Rollenarbeit. Fischer-Dieskau hielt sich dabei streng an Wagners differenzierte sängerische Diktion. Die Pointierungen der Partie, die ernorme Beweglichkeit des sängerischen Ausdrucks in der Tat ans Licht gebracht zu haben, ist sein großes Verdienst.

Ähnliches läßt sich von Gerd Brenneis, der die Partie des Walther von Stolzing übernommen hatte, kaum sagen. Unverständlich hier, warum Beauvais dieser Symbolfigur des modernen Künstlers nur eine sängerische und schauspielerische Gestik gestattete, die des sehnsüchtig Liebenden. Brenneis durfte sich bewegen, wie es eigentlich nur noch in Operetten Brauch geblieben ist: stelzend, mit klischiertem Repertoire an Armbewegungen. Und am unglaubwürdigsten geriet dann auch die Szene mit Sachs, in der beide an seinem "Traumlied" arbeiten. Walther von Stolzing schien allemal stolz, kaum aber in jenem schöpferischen Sinne arbeitsfähig, der hier szenisch gemeint war. Sängerisch freilich war Brenneis der Partie mit ihren stählernen Fortes fast durchweg gewachsen. Sein Tenor vermochte zudem allen lyrischen Schmelz zu entwickeln und war überzeugend immer dann, wenn er Liebessehnsucht zu verströmen Gelegenheit bekam.

Schauspielerisch und sängerisch gleichermaßen erfreulich waren die Partien der Eva (Gerti Zeumer) und der Magdalene (Ruth Hesse) besetzt. Gerti Zeumer traf den Ton der jungen Pogner-Tochter, jene aus Widerstand und Ergebenheit gemischte Ausdrucksskala der Gefühle, auch musikalisch vorzüglich. Sängerische Intimität wurde hörbar, die immer wieder durch leuchtende Spitzentöne sich selbst zu überstrahlen vermochte. Ruth Hesse überzeugte durch eine grundmusikalische und in jedem Augenblick vorzüglich charakterisierende Gestaltung der Magdalenen-Partie. Peter Lagger lieh der Rolle des Veit Pogner nicht nur die Schwärze seines Basses, sondern auch eine schauspielerisch angemessene Gestik der väterlichen Güte und meisterlichen Würde. Ebenbürtig in ihrem Charakterisierungsvermögen und in ihren sängerischen Leistungen profilierten die Szene, wann immer sie auftraten, vor allem Ernst Krukowski (Beckmesser), Gert Feldhoff (Kothner), Horst Laubenthal (David) und alle anderen Sänger der Zunft, nicht zuletzt der Nachtwächter Josef Beckers.

Eugen Jochums musikalische Arbeit am Pult des großartig disponierten Opernorchesters steigerte sich von Aufzug zu Aufzug. Während das Vorspiel noch Schwächen zeigte, einerseits allzu grob artikuliert schien, in den Piano-Augenblicken Intensität vermissen ließ, Wagners motivische Polyphonie nicht prägnant genug herausgearbeitet war, verschmolz Jochums Orchesterarbeit allmählich immer intensiver mit den sängerischen Aktionen. Im ersten Aufzug setzt sich allein Fischer-Dieskau gegen die wogenden Forte-Brandungen des Orchesters durch. Später ging Jochum behutsamer mit den Sängern um, die Musik Wagners strömte freier, geschmeidiger auch in ihren vielfältigen motivisch-thematischen Bezügen. Die motivischen Sigel und Ausdruckspartikel wurden so weit wie möglich im Detail geschärft, nie aber zu Ungunsten des fortströmenden Ganzen herausgehoben. Jochum gelang zuletzt eine wahrhaft kongeniale "Meistersinger"-Interpretation, die nirgendwann mit bloßem Pathos, mit musikalischem Gebärdenspiel sich begnügte, sondern musikalisch ernst machte. Das Publikum feierte alle Beteiligten mit Ovationen.

Wolfgang Burde


   

   Süddeutsche Zeitung, 16. März 1976      

Jubel um Dietrich Fischer-Dieskaus Hans Sachs

Peter Beauvais inszenierte in Berlin "Die Meistersinger"

    

Rechtzeitig zum Hans-Sachs-Jahr sind in Berlin die Meistersinger nach Nürnberg zurückgekehrt, und der Jubel über das verzaubert-gegenwärtige Gasseninterieur zu Beginn des zweiten Aktes - mit behaglichen Treppen und schattiger Laube, voll Fliederduft und Geborgenheit im Winkel - war wie das Aufatmen des Publikums: "Nun haben wir sie endlich wieder!"

Wieland Wagners schulemachende Entrümpelung auch und gerade der "Meistersinger" mag ihre historischen Verdienste haben; der Eigenart des Lustspiels, Seelendrama, Kunsttraktat und eines von Gustav Freytags Bildern aus der deutschen Vergangenheit gleichzeitig zu sein, konnten die karge Stimmungsfeindlichkeit, die verquälte Sinnsuche und die Reduktion aufs Zeichenhafte nie gerecht werden. Jedenfalls nicht nach meinem Geschmack: Zu genau gehen Dialog und Musik in die Beschwörung des imaginierten Geschichtsaugenblicks ein, zu eng sind in jedem Detail Handlungsdramaturgie, Empfindung, Zeitkolorit und Gedanke aufeinander bezogen, als daß man ungestraft die Elemente des Genres als Patina aus dem Ganzen ausscheiden könnte. Anders als in den Pseudo-Mythen des "Ring" und des "Parsifal" verlangen die "Meistersinger", schon um die Aufführungsdauer zu legitimieren, die genaueste Versenkung in das altdeutsche Idyll.

Ohne alles programmatische Pathos haben Peter Beauvais und sein Bühnenbildner Jan Schlubach die "Meistersinger von Nürnberg" so komplex und so plausibel auf der Bühne verwirklicht, wie es Wagners Buch verlangt und möglich macht. Das Zueinander der Hauptfiguren und ihre Entwicklung werden Zug um Zug einsichtig gemacht, und gerade die musikalisch langgezogenen, auf die Psychologie abgestellten Szenenfolgen, die den Regisseur zur Karikatur oder zum aktionslosen Tiefsinn verführen (wie die Auseinandersetzungen zwischen Hans Sachs und Beckmesser oder das Ende der Morgenszene im dritten Akt), werden ganz konsequent aus ihrer dramaturgischen und psychologischen Funktion heraus interpretiert. Und siehe da, sie verlieren ihre szenische Langatmigkeit und ihre verzerrte Schwankkomik, Hans Sachsens mißmutige Bosheit gegenüber Beckmesser wird ebenso sichtbar wie dessen verbissene und - sicher halb zurecht - mißtrauische Angst, ohne daß Beauvais zu den beliebten tragischen Umwertungen der Figur greifen müßte. Daneben aber sind die Protagonisten ebenso wie die kleinsten Chargen Teil eines minutiös in sich stimmigen Historienbildes, in dem jeder Meistersinger und Handwerksbursch nach Beruf und Herkunft genau bestimmt ist.

Spielwitz ohne Persiflage

Soweit könnte man der Inszenierung einen Rückfall ins 19. Jahrhundert vorwerfen, wären nicht Bühnenbild und Regie - und wieder muß man beide zugleich nennen - der historischen Distanz zur Entstehungszeit sich spürbar bewußt: ein Atelierbild der Lenbach- und Makart-Zeit wird inszeniert, die Vergegenwärtigung des Vergangenen schließt Hans Sachs und Richard Wagner gleichermaßen ein. Das gibt Peter Beauvais die Freiheit, ohne Persiflage dennoch dem Spielwitz und dem Übermut der Einfälle nachzugeben, das Gründerpathos auf Distanz zu rücken und die Geschichte leichterhand ins Märchen zu übersetzen. (Erwähnt werden müssen hier auch die besonders schönen Kostüme von Barbara Bilabel.)

Als das Ereignis des Abends konnte man schon vorher Dietrich Fischer-Dieskaus Debüt als Hans Sachs erwarten. Er blieb diesen Erwartungen weder als Schauspieler noch als Sänger irgend etwas schuldig. Die Rolle des Hans Sachs ist ihm fast auf den Leib geschrieben: In ihrem angespannten Ernst und in ihrer verzichtenden Güte, in ihren grüblerischen Anwandlungen und in der großen volkstümlichen Geste mußte sie zur Identifikation auffordern. Dietrich Fischer-Dieskau gelingt es aber darüber hinaus, auch die verdeckten Züge, die Liebe zu Evchen und den deshalb schwelenden Groll auf den Stadtschreiber deutlich zu machen. Seine Stimme ist so schön, mächtig und wandlungsfähig wie je. Er macht das Singen auf unverwechselbare Weise zu einem gesteigerten Medium des dramatischen Dialogs, wie bei keinem anderen Sänger ist die Trennung zwischen schönen Stellen und Rezitativabwandlungen aufgehoben: Er ist für die Dauer der Aufführung Sachs geworden, und seine Ausstrahlungskraft zwingt sogar das widerstrebende Orchester zur Teilnahme.

Zum zweiten Ereignis wurde aber ganz unerwartet Ernst Krukowski als Beckmesser. Er war - lange bereits aus dem Stamm der Sänger ausgeschieden - für den erkrankten William Murray eingesprungen. Seine Charakterisierung des Stadtschreibers ist sicher kaum an Geschlossenheit und Konsequenz zu übertreffen. Er vermeidet jede Verzerrung und jeden auf der Hand liegenden Witz. Seine Komik besteht gerade in seinem Ernst-Nehmen in seinem Bemühen, alles ganz richtig zu machen. Dabei sang Krukowski auch die abenteuerlichsten Schwierigkeiten wie selbstverständlich, kapitulierte nur vor den massiven Orchestereinsätzen. Ich habe nie einen besseren Beckmesser auf der Bühne gesehen und ihn selten gleich gut gehört.

Damit wären die Aktivposten der Berliner Aufführung erschöpft: ein szenisches Ereignis und eine zum Teil außergewöhnliche Besetzung. Der Rest stand dazu in krassem und teilweise ärgerlichem Gegensatz: Das Orchester spielte den Berliner Wagner-Ton, stumpf und undifferenziert, mit vielen Versehen und Nachlässigkeiten im einzelnen, die in der Tonstärke untergehen sollen. Eugen Jochum dirigierte. Er beschränkte sich darauf, der Oper den großen Umriß vorzugeben, den vorzüglich einstudierten Chor, die Solisten und das Orchester zusammenzuhalten und vereinzelte Höhepunkte in epischer Breite herauszuarbeitn. Sicher eine ungeheure physische Leistung, da dem greisen Dirigenten auch am Ende keine Zeichen der Ermattung oder der Unkonzentration anzumerken waren. Aber insgesamt war seine Auffassung des Stücks der Inszenierung eher im Wege als förderlich.

Norbert Miller

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   Die Welt, Ausgabe B, Berlin-West, 15. März 1976     

Glanz und Herrlichkeit ohnegleichen bei den Meistersingern von Berlin

    

Das, weiß Gott, ist bei Wagner-Aufführungen selten: Zweimal fährt der Beifall auf, bei offener Bühne, und umjubelt das Bühnenbild, die Stimmigkeit des Arrangements. Jan Schlubach hat für die "Meistersinger von Nürnberg" in der Inszenierung von Peter Beauvais, aufgeführt von der Deutschen Oper Berlin, die Szene gebaut, Barbara Bilabel belebt sie mit der Farbenpracht ihrer noblen Kostüme.

Ganz eng drückt im zweiten Akt Schlubach das alte, verwinkelte Nürnberg zusammen. Schusterstube und Pogner-Palais umklammern ein winziges Höfchen mit Brunnen, Bank und Treppengeriesel. Dahinter Laubengänge, sich in die Höhe staffelnd, Galerien, Altane, Fensterreihen. Der Schauplatz dieser Komödie einer Nürnberger Sommernacht ist eng begrenzt. Wie auf der Handfläche dargeboten, schiebt sich der Spaß dem Publikum hin. Ein Lustspiel der Intimität, der Gutnachbarlichkeit des Fensterguckens.

Das Pulverfaß im Erker

In diesem wohnlichen Hof nun prügelt sich das köstliche Fugato der aufgestörten Bürger herab, gischtet über die Treppen, singt aus drei Etagen hernieder - jede Fensteröffnung ein Megaphon für vokalen Protest, jeder Balkon Standplatz für herausgesungene Empörung, jeder Erker ein Pulverfaß. Wie der Chor, geleitet von Hagen-Groll, diese Szene singt (wie später auch das Festwiesenbild), das ist von Glanz und Herrlichkeit sondergleichen.

Aber auch wie Schlubach die Schusterstube des dritten Aktes sich auf offener Bühne zur Festwiese wandeln läßt, ist ein optisches Labsal. Es ist, als ströme plötzlich nach der engen Führung des Quintetts der Aufführung frische Luft zu, und die bunt hingelagerte Lust, mit der Barbara Bilabel, wie eine späte Nachfahrin Hans Burkmairs, die Nürnbergerinnen gekleidet hat, reifen das Werk in eine Apotheose der Festlichkeit. Nichts ist treudeutsch an diesen Kostümen, nichts bieder. Alles ist Kunst. Das lernt man in dieser Aufführung - und gleichzeitig, daß die Werkstätten der Deutschen Oper Berlin noch immer unübertroffen sind.

Peter Beauvais, Opern-Regie-Novize in Berlin, und Jan Schlubach, sein ausgezeichneter Helfershelfer, haben Wagners Libretto mit ganz offenen Sinnen gelesen - dies ein beinahe schon revolutionärer Akt. Beauvais inszeniert nicht nur mit, was zwischen den Zeilen, sondern was in ihnen steht. Da liegt die Schwierigkeit. Beauvais meistert sie auf überzeugend ruhige, unaufwendige Art.

Nun hat er allerdings auch in Dietrich Fischer-Dieskau, der zum ersten Mal in seinem Leben den Hans Sachs singt, einen Schusterpoeten zur Verfügung von heiterer, manchmal auch anrührend melancholischer Nachdenklichkeit. Fischer-Dieskau war nie ein Stimmprotz. Er dröhnte nie wie eine Singkanone. Er war stets ein Künstler der sublimen, überlegten Wirkungen - und er ist es auch hier. Nicht etwa erzvergrübelt, die Schuhe gewissermaßen mit Weltproblemen besohlend. Er ist ein Mann, den Einsamkeit umgibt, der sie aber mit Gelassenheit, Humor und Anstand zu tragen weiß.

Fischer-Dieskaus heitere Belehrung Stolzings über die formalen Probleme des Meistergesangs wird zu einem Kabinettstück, wie man es von ähnlich komödienhafter, gezielter Beiläufigkeit noch nie zu hören bekam. Auch seiner Schlußansprache nimmt er allen pathetischen Dampf. Er gibt ihr statt dessen eine herzliche, um Zustimmung werbende Beredsamkeit. Dieser Hans Sachs singt von keiner Kanzel herab, er hält Zwiesprache: mit sich, mit dem Nächsten, den Mitbürgern, der Welt.

Am Ende gibt es dann auch keine Zeremonie der bloßen Deutschtümelei. Hans Sachs, der Außenseiter von Nürnberg, entschreitet wie Sarastro in Ingmar Bergmans Film "Die Zauberflöte" - er kehrt zurück ins Gehäuse, in Einsamkeit. Diesem Hans Sachs gibt Fischer-Dieskau seine einzigartige künstlerische Statur.

Eugen Jochum dirigiert die Aufführung ohne das gefürchtete hohle Pathos. Er hält sie heraus aus dem wuchtigen Mahlgang der Wagnerianereien. Er beläßt ihr Würde und Weiträumigkeit. Aber er durchwärmt sie mit kammermusikalischen Reizen. Er gibt dem Sommernachtstraum des zweiten Aktes eine Fülle instrumentaler Poesie - und das Orchester folgt ihm darin mit feinem Gespür für die intimen Wirkungen der reichen Partitur.

Für die Männerwelt zu fein

Alle Rollen sind imponierend besetzt. Gerd Brenneis singt standhaft den Stolzing, mit einigen unliebsamen Schärfen lediglich im Quintett, doch sonst stimmlich durchaus ein Ritter. Ernst Krukowski enthält sich als Beckmesser erfreulich jedem Hang zur Karikatur. Horst Laubenthal ist ein erfreulich feinstimmiger David; glänzend Ruth Hesse als Magdalene. Peter Lagger und Gerd Feldhoff führen die Gilde der glänzend singenden und spielenden Meister an.

Bleibt Gerti Zeumer als Eva. Sie, leider, ist der schwache Punkt der Aufführung, eine liebenswürdige, feine Sängerin, doch hier nicht ganz am rechten Platz; ein sehr hübsches Mädchen, das sich stimmlich nicht immer in der Männerwelt dieses Wagnerschen Nürnbergs zu behaupten vermag. Ihre Stimme gewinnt sich nicht die leuchtende Intensität, die Aufführung hell zu bekrönen.

Doch ins Herz der Aufführung trafen alle diese kleinen Einschränkungen nicht. So tobte der Schlußjubel denn auch über alle Maßen.

Klaus Geitel

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   Berliner Morgenpost, 14. März 1976      

Umjubelte "Meistersinger"-Premiere in der Deutschen Oper

Dietrich Fischer-Dieskau machte sein Berlin-Versprechen wahr

    

Wohlige Erschöpfung machte sich allenthalben breit, als nach fast sechsstündiger intensiver Beschäftigung mit Richard Wagner (die Pausen eingerechnet) der Jubel für die neuen "Meistersinger" der Deutschen Oper Berlin losbrach. Hierzulande eine der Registrierung werte Seltenheit: Der Inszenierungsstab und die Ausführenden erhielten gleichermaßen lobenden bis huldigenden Zuspruch. Der Schreiber sitzt. Sein Report stimmt vorbehaltlos mit der Publikumsmeinung überein.

Die Neuinszenierung der "Meistersinger von Nürnberg" durch den schauspielerfahrenen Peter Beauvais zeichnet sich durch Gediegenheit, zurückhaltende und genaue Führung der Sänger, klugen Einsatz der dramaturgischen Hilfsmittel und planvolle Steigerung der Handlung aus.

Die Bühnenbilder Jan Schlubachs erfüllen die Forderung nach zwingend mitspielen- der Pointierung ebenso großzügig wie historisch-künstlerisch überzeugend. Von gemessener Feierlichkeit das Schiff der Katharinenkirche. Das mittelalterliche Nürnberg Sachsens diesmal nicht in Fachwerk-Romantik, sondern massiver gebaut. Holzschindeln schützen die aus Stein gefügten Erdgeschosse mit den aufsitzenden hölzernen Obergeschossen. Dekorativ und praktisch die einander gegenüberliegenden Häuser Sachsens und Pogners; dazwischen die hinter einem Brunnen versteckte Liebeslaube, Treppen, Balkone, Dächer, Erker - alles spielfördernd. Die Schusterstube des dritten Aufzuges nutzt die ganze Bühnenbreite und gibt den Blick auf das Interieur frei. Die Ein- und Ausgänge sind folgerichtig aus dem zweiten Bild (der Außenansicht) entwickelt.

Die Verwandlung gelingt durch die Auswechslung des Bühnenwagens nicht ohne Mühe. Erst wenn der Horizont erstrahlt und das zunächst schattenrißartig auf die Festwiese strömende Volk voll ausleuchtet, ist die Illusionierung vollkommen.

Farbige Kostümpracht

Jetzt kommt auch die Kostümpracht (Barbara Bilabel) recht zur Geltung. Unter der farbigen Vielfalt der individuell geschneiderten Gewänder ist der von Hagen-Groll wieder vorbildlich studierte Chor kaum zu entdecken.

Eugen Jochum, der mit dieser Premiere sein 50jähriges Bühnenjubiläum feierte, kennt seine "Meistersinger" zu genau, als daß er nicht wüßte, wie man drei ausgewachsene Wagner-Aufzüge anbietet, ohne diesseits und jenseits der Rampe Ermüdungserscheinungen hervorzurufen. Das Entree wird um den Choral und die erste Begegnung Eva/Stolzing erweitert.

Im zweiten Aufzug dann vorsichtige, doch stete Steigerung bis zum Furioso der berühmten Prügel-Fuge. In der Schusterstube Konzentrierung auf das Gespräch Sachs/Stolzing, die Niederschrift des Traumes und das Quintett.

Auf der Festwiese lebhafte Forderung des Chores, betonte Hinwendung zum Preislied und zu Sachsens beschwörender Mahnung "Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst!"

Vom zweiten Bild an musizierte Jochum mit dem Orchester in schönstem Einvernehmen. Wobei die Herausarbeitung der zarten lyrischen Passagen teilweise einzigartig schön gelang.

An Dietrich Fischer-Dieskau, der ein altes Versprechen einlöste und in Berlin seinen ersten Sachs gab, werden künftig alle Interpreten dieser Rolle gemessen werden müssen. Er ist kein alter Zausel, der sich mit seiner eigenen Philosophie über die zweite Lebenshälfte schustert; vielmehr ein Mann, der noch gut im Saft steht; der mit Evchen sehr wohl noch etwas anderes machen könnte als ihr ein Paar Schuhe anpassen.

Über das nationale Pathos seiner Schlußansprache singt und spielt Fischer-Dieskau so locker hinweg, daß man mehr auf das Spiel und die virtuos geführte edle Stimme als auf den Text achtet.

Gerd Brenneis als Walther von Stolzing wurde von der Regie auf ein Mindestmaß an Bewegungen zurückgenommen, so daß ihm Reserven für die Vorführung seines klangvollen heldischen Tenors bleiben.

Ernst Krukowski, kurzfristig für den Kollegen William Murray in die Inszenierung eingesprungen, spielt den Beckmesser weit über die Karikatur hinaus in das dramatische Charakterfach. Die Vereinsamung nach dem mißlungenen Werbelied hatte tragische Größe.

Der von Horst Laubenthal in bester lyrischer Façon gesungene David hätte darstellerisch etwas mehr jugendliche Ungezwungenheit vertragen. Als sehr ansehnliche und teilweise hörenswerte Eva wußte Gerti Zeumer auf sich aufmerksam zu machen. Souverän in Gesang und Spiel Ruth Hesse als Magdalene.

Die Meistersinger - Peter Maus, Martin Vantin, Ivan Sardi, Karl Ernst Mercker, Roberto Banuelas, Miomir Nicolic, Klaus Lang, Loren Driscoll - führten einprägsam und wirkungsvoll Gerd Feldhoff (Kothner) und Peter Lagger (Pogner) an. Als Nachtwächter gab Josef Becker eine interessante Studie.

Horst Feige

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   Berliner Rundschau, 25. März 1976      

Deutsche Oper: "Die Meistersinger" von Richard Wagner

Beifall für einen Erfolg

  

Die Deutsche Oper Berlin hat eine mit Interesse erwartete Neueinstudierung der Meistersinger von Nürnberg vorbereitet, die kürzlich ihre Erstaufführung erlebte. Dietrich Fischer-Dieskau war ein Hans Sachs, der gesanglich im wahrsten Sinne des Wortes alle überragte, bis zum Schluß keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte und klug darauf verzichtete, sich herauszustellen. Er bedarf solcher Dinge nicht. Eine sehr dankbare und ebenso schwere Rolle.

Gerd Brenneis (Walther von Stolzing) errang sich die Sympathie der Hörer, nachdem er schon als Parsifal auf sich aufmerksam gemacht hat. Ernst Krukowski (Sixtus Beckmesser) stand seine anstrengende Partie mit beachtlichem Respekt durch. Sie verlangt großen Einsatz und schauspielerische Begabung. An beidem hat es nicht gemangelt. Die Figur eines Hagestolzes läßt eher eine spirrige, hagere Erscheinung erwarten; statt dessen überraschte uns ein wohlgenährter Stadtschreiber, dem man kaum viel Arglist zutraute. Peter Lagger (Veit Pogner) wirkte äußerlich als Vater der Eva nicht überzeugend genug, was - ungerechterweise - den Gesamteindruck verminderte. Denn gesanglich war er mehr als "nur" zufriedenstellend.

Bei Horst Laubenthal lag seine Bufforolle (David) in guten Händen. Er umging geschickt stimmliche und schauspielerische Übertreibungen, wodurch er den Eindruck von Sicherheit und sorgsamer Vorbereitung vermittelte. Gerd Feldhoff (Fritz Kothner) birgt in seinen verhältnismäßig kleinen Abschnitten eine der kostbarsten Stellen Wagnerschen Genies: das Verlesen der mitteltalterlichen Tabulatur. Die Kenner sehen besonders diesem Höhepunkt stets erwartungsvoll entgegen, aber er ging im Zuge der Handlung verloren. Die Tabulatur hätte mehr in den Vordergrund gerückt werden sollen.

Die übrigen Meistersinger führten ihre Aufgaben routiniert durch. Einige von ihnen hatte man auf so "alt" hergerichtet, daß man um ihr Überleben bei dem Trubel des Sing-Gerichtes fürchten mußte. Gerti Zeumer (Eva), stimmlich vielversprechend, hat noch nicht die Bühnenerfahrung, um neben ihren großen Vorgängerinnen, die wir auf dieser Bühne schon erlebten, bestehen zu können. Trotzdem soll ihr Auftreten nicht unterbewertet werden. Ruth Hesse (Magdalene) erledigte ihre Aufgabe mit Akkuratesse und Geschmack.

Der Dirigent Eugen Jochum wurde vom Publikum mit großem Beifall empfangen. Es ist mir bekannt, daß Jochum in der Zeit vor der Neuaufführung anstrengende und erschöpfende Proben, von deren Enervierung der Uneingeweihte sich nur schwerlich eine Vorstellung machen kann, hinter sich hat. Das Vorspiel schreibt als Zeitmaß: "sehr mäßig bewegt, durchweg breit und gewichtig" vor. Leider hielt sich Jochum überhaupt nicht daran und gestaltete es eher schlank statt gravitätisch. Der ganze erste Akt war zu dünn interpretiert; es fehlte der große Atem der bewältigten Dramatik, der ruhende Pol zwischen Gleichmut und Spannung. Orchester und Bühne standen unter der Pression einer gewissen Unruhe. Es waren zweifellos die Folgen überhöhter Konzentration.

Im zweiten und dritten Akt dagegen schienen die Unruhe überwunden, die Zeitmaße und Akzentuierungen wieder unter Kontrolle. Die Ausarbeitung und Feinheiten gewannen an Durchsichtigkeit, und zwischen Bühne und Orchester herrschte ein ausgewogenes Verhältnis. Sicher werden in den folgenden Wiederholungen noch einige Versäumnisse korrigiert, um ein Maximum des Möglichen zu erreichen.

Ein besonderes Verdienst hat sich Professor Hagen-Groll mit dem Chor, dessen Stimmaterial, Intonation, Präzision, zahlenmäßige Stärke und Geschmeidigkeit unübertrefflich sind, erworben. Der Chorleiter und seine Sänger sind in diesem Wagner-Werk von ausschlaggebender Bedeutung. Mit dem chorischen Einsatz steht und fällt diese Oper.

Die Inszenierung von Peter Beauvais ist sehr fein durchdacht, muß sich jedoch erfahrungsgemäß erst einpendeln, um ganz ungezwungen zu wirken. Das Bühnenbild Wieland Wagners, das vielen die Freude an dem Werk verdorben hat, ist endlich von Jan Schlubachs Entwurf abgelöst worden. Ohne viele Worte, ihm ist damit ein wirklicher Erfolg beschieden. Ich könnte mir vorstellen, daß auf der Festwiese eine angedeutete Silhouette Nürnbergs am Stadtrand sich ganz gut ausnehmen würde.

Die Kostümierung, für die Barbara Bilabel verantwortlich ist, entsprach in allen Belangen den Anforderungen. Die farblichen Effekte waren geschmackvoll aufeinander abgetönt. Beckmessers Ausstaffierung hat sie sich besonders angelegen sein lassen. - Der Erfolg nahm mit Berechtigung den Charakter von Ovationen an. Buhrufe gab es nicht; dafür stürmische Beifallskundgebungen für alle Mitwirkenden.

Bercow

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   Neue Zürcher Zeitung, 20. März 1976    

Dietrich Fischer-Dieskau als Hans Sachs

"Die Meistersinger von Nürnberg" in Berlin neu einstudiert

    

Am selben Tag, da in Stuttgart Wagners "Parsifal" Premiere hatte, Götz Friedrich ein Beispiel für Wagner-Wiedergabe-Wagnis von heute gab, zeigte die Deutsche Oper Berlin "Die Meistersinger von Nürnberg" als das Gegenbeispiel einer Wagner-Adaption: gegenüber den Bühnenbildern glaubte sich der Zuschauer um mindestens vierzig Jahre zurückversetzt; Jan Schlubach hatte sie in altem Realismus aufgebaut. Zuerst sehen wir einen Kirchenraum, teils schön dunkel, teils strahlend hell, mit gewaltigen Säulen und einem goldenen Altarflügelbild, aber auch mit falschem Grundriß - die Wände der Seitenkapelle verlaufen absurd. Im zweiten Akt erstand Alt-Nürnberg mit Laube und Brunnen, Treppchen, Balkönchen, Erkerchen, schiefen Dächern: exakt aus Großmutters Märchenbuch entlehnt - und keineswegs ironisch, denn es fehlte jeder Verfremdungs- oder Stilisierungshauch. Die Schusterstube, in der kein Utensil fehlte, spiegelte die vorausgegangene Außenansicht präzis mit den Innenmaßen. Für das letzte Bild wurde die Schusterstube, auf Geheiß von Hans Sachs durch David verdunkelt, zur Seite aus dem Bühnenrahmen gefahren. Dafür kam ein rollender Karren in das Bild, mit dem die Lehrbuben das Gestühl der Meister zur Festwiese bringen, die sich durch plötzliche Erhellung des Hintergrundes als eine breite, leicht ansteigende Waldlichtung entpuppt, der erfreulicherweise eine Stadtansicht fehlt, die dafür aber die uralten "Baumhänger" - auf Schleier gemalte Äste und Blätter - fröhlich Urständ feiern läßt.

Ergänzt wurde soviel Naturalismus - der spontan Applaus hervorbrachte - durch die Kostüme von Barbara Bilabel. Sachs-(oder Luther-)Zeit bis in das kleinste Detail hinein, dazu Sonntagsstaat: ein lebendiges schönes Bild, von der Regie locker und unverkrampft, ohne den sonst üblichen forcierten Jubel der Nürnberger, als normales Volksfest gestellt. Peter Beauvais, der Regisseur der Sprechbühne, führte hier erstmals Opernregie. Und wie es Neulingen in diesem Beruf so ergeht: kaum daß ein Darsteller singt, daß ein Ensemble erklingt, ist ein Regisseur hilflos, der zuvor mit durchdacht-schlüssigen Aktionen Sympathie weckt. Fehlte es bis und mit der Schusterstube an Charakterenzeichnung und sinnvoller Aktivität auf der Bühne, so machte das Finale alle Regiesünden wett. Denn hier verzichtete Beauvais konsequent auf jede Heldenverehrung, ließ beim Bürgerfest keinerlei patriotisches Pathos oder falschen Zünfteprunk aufkommen. Sachs mahnt den Stolzing ganz privat, mit zwingendem Understatement, die Meister nicht zu verachten. Als man ihn darob feiern will, verschwindet Sachs für das Publikum inmitten des ihn umgebenden Volkes und geht mit diesem langsam, still, bescheiden in den Hintergrund ab: kein Aufmarsch, keine statische Apotheose, alles löst sich freundlich auf, vorn bleibt das Liebespaar unberüht vom Geschehen versunken stehen. So vorbildlich und ansprechend sah man den "Meistersinger"-Schluß kaum je zuvor.

Mitentscheidend für diese so betont unpathetische Sicht des Werkes war die Interpretation des Hans Sachs durch Dietrich Fischer-Dieskau. Gewiß merkte man, daß er diese Rolle erstmals sang, aber er verstand es, sogleich einen neuen Maßstab zu setzen. Trotz kraftvoll-mühelosem Aussingen herrschte bei ihm eine hochdifferenzierte Lyrik vor, eine bis in spezielle Betonungen hinein überlegte und deutliche Deklamation, mit der auch aufdringliche Reime gemildert schienen. Wirkte Fischer-Dieskau anfangs eher wie ein genüßlich beobachtender Falstaff oder wie ein süffisant kommentierender Alfonso, so wandelte er sich im zweiten Akt zu einem Sachs, der Klugheit, Menschlichkeit und Souveränität zuverlässig mischte. Dieser Sachs lenkte das Geschehen unmerklich, nicht einmal pfiffig - vielmehr als ein würdiger, doch nicht aufgeblasener Schuster-Poet, als ein Mann mit Einsichten, die Skepsis und Güte vereinen, Melancholie nicht in Resignation enden lassen. Ein distinguierter, intelligenter Sachs, wie man ihn nicht glaubwürdiger für heute bieten könnte. Der Beifallssturm des Publikums überschlug sich denn auch für Fischer-Dieskau.

Beckmesser wurde zu einer tragischen Figur aufgewertet. Er trägt sein Preislied im Finale wie abwesend, irr oder träumend vor, geht fast aus der Szene, spürt keine Zuhörer. Man verjagt ihn dann - oder bringt ihn in die Irrenanstalt. Eine beklemmende Sicht, die Ernst Krukowski so vorführte, daß man nachdenklich gestimmt wurde. Gerd Brenneis sang den Stolzing verhalten, nicht immer strahlend genug, Gerti Zeumer gefiel als eine schlank intonierende, reizende Eva ohne Sentimentalitäten, und Horst Laubenthal als David stellte mehr den lyrischen Liebhaber als den heiter-buffonesken Gesellen vor.

Die Chöre hatten ihr dank dem Chorleiter Walter Hagen-Groll gewohnt hohes Klangniveau erneut und bemerkenswert kultiviert bestätigt. Eugen Jochum dirigierte stilistisch gegen die Regiearbeit: pastos, breit, markig, im Klang nicht immer sehr subtil. Das Premierenpublikum zeigte Begeisterung.

W.-E. v. L.

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   Der Abend, Berlin-West, 13. März 1976      

Sachs-Appeal

Wie zu Wagners Zeiten: Meisterhafte "Meistersinger" in der Oper

   

In Richard Wagners "Meistersingern von Nürnberg" besitzen wir seit 1868 eine festliche deutsche Oper, wie es keine zweite gibt. Nicht zu Unrecht hat man sie eines der besten deutschen Lustspiele genannt. Ihre Erneuerung war für ein Institut vom Range der Deutschen Oper Berlin erforderlich, seit man Wieland Wagners Inszenierung von 1962 aus dem Verkehr zog. Die jetzige Premiere unter der Verantwortung von Eugen Jochum und Peter Beauvais fand reichsten Beifall und zweimal Szenenapplaus für das Bühnenbild.

Nach zwei Jahrzehnten, die zur möglichst totalen Abstraktion neigten, schlägt das Pendel seit etlichen Jahren nach der anderen Seite aus. Im Einklang mit vielen Publikumswünschen bevorzugt man wieder einen Stil des historischen Realismus, wie er zu Wagners Zeit vorherrschte. Man zeigt wieder den Abglanz beweisbarer Wirklichkeit.

Peter Beauvais und seine Mitarbeiter (Jan Schlubach für die Bühnenbilder und Barbara Bilabel für die sehr schönen Kostüme) erfüllen diese Zeittendenz mit einer Gründlichkeit der Umkehr, als hätte Wieland Wagner niemals gelebt. Die Alt-Nürnberger Gassen (zweiter Aufzug) mit Blütenranken, Galerien, Treppchen und lauschigen Winkeln fanden bei aufgehendem Vorhang spontan Anklang; für die Chorszenen bot ihre Enge allerdings kaum Spielraum. Auf der hügeligen Festwiese wimmelte die bunte Menge durcheinander wie an einem schönen Sonntag am Havelufer.

Der Regisseur hatte vor allem mit den Solisten intensiv gearbeitet und die "Meister" genau charakterisiert, wie man an so manchem Detail erkennen konnte. Die Belebung der Menschenmassen im Schlußbild zeugte von eingehender Überlegung.

Diese Präzisionsarbeit kam besonders auch der Titelpartie zugute. Dieser Hans Sachs hob sich unauffällig aus dem Meister-Dutzend hervor und fügte sich später auch wieder in die "Innung" ein, kein Star, sondern ein Mann, der sich dank seiner Klugheit und Intelligenz als Erster unter Gleichen fühlen durfte.

Dietrich Fischer-Dieskau erfüllte die darstellerischen Ansprüche am schönsten in der Zurückhaltung, die das patriotische Übermaß der Schlußszene zurückdrängte und in einen gleichsam privaten Disput mit dem adelsstolzen Ritter ummünzte. Er taktierte wie ein mittelalterlicher Kissinger, eher ein Diplomat und Philosoph als ein Handwerksmeister. Stimmlich gab Fischer-Dieskau den Monologen in der Johannis-Nacht einen helltimbrierten, liedhaften Charakter, Weichheit, Humor und vorbildliche Deklamation. Die seinem reifen Bariton weniger zugängliche Tiefenlage meisterte er mit Geschick und Erfahrung.

Am Pult stand mit Eugen Jochum ein langjähriger Wagner-Dirigent, der gleich das Vorspiel in sehr beschwingtem Lustspieltempo nahm und auch die Nebenstimmen des in anderer Sitzordnung spielenden Orchesters zur Geltung brachte. Zum Nachteil des Gesamtkunstwerks und der Textverständlichkeit widmete er sich, als ob er ein Symphoniekonzert dirigierte, so sehr dem Orchester, daß auch tragfähige Solostimmen öfter überdeckt und unterdrückt wurden.

Das galt beispielsweise für Gerti Zeumer als mädchenhaft frische Eva, deren lichter Sopran an Reiz und an Singkunst erfreulich gewonnen hat, aber noch nicht über die rechte Fülle für das große Haus verfügt. Der verstärkte Chor legte wieder Zeugnis für die Meisterschaft Walter Hagen-Grolls ab.

Die Durchhaltekraft seines heldischen Tenors kam Gerd Brenneis als Stolzing eben- so zugute wie seine gute Erscheinung. Als Darsteller tat er lieber zu wenig, als in Pathos zu verfallen. Ähnlich so verhielt sich Horst Laubenthal, der die andere Tenorpartie des Lehrbuben David so lyrisch und leicht sang, wie man es selten hört, aber für seine Jugend zu temperamentschwach wirkte.

Ernst Krukowski nahm die komödiantische Aufgabe des von Natur nörglerischen Kommunalbeamten Beckmesser gesanglich wie auch mimisch vorzüglich und ohne naheliegende Übertreibung wahr. Mit ausgeruhter Baßstimme sang Peter Lagger den Pogner, der seine Tochter nach dem Willen des Komponisten als leibhaftigen Hauptgewinn eines Wettsingens auslobt. Gerd Feldhoffs ergiebiger Bariton und Ruth Hesses tiefer Mezzo stützten das auch sonst treffend besetzte Ensemble zur Tiefe hin ab.

Wolfgang Schimming

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   Frankfurter Rundschau, 19. März 1976      

Nicht ganz ohne Unbehagen

"Die Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper Berlin

    

Das Unbehagen an Richard Wagner, das sich im "Tristan" ohne weiteres in Nichts auflöst, ist in den "Meistersingern von Nürnberg" besonders präsent. Die Figur des Beckmesser, im Licht der deutschen Geschichte (und Kulturgeschichte) gesehen, muß als ziemlich perfide Schöpfung gelten, als eine Variation des jüdischen "Untermenschen" ähnlich dem Mime aus dem "Ring", ausgestattet mit den Zügen, die man in Deutschland immer gern dem Intellektuellen angehängt hat, mit Besserwisserei, Verklemmtheit, sinnloser Gelehrsamkeit; eine Figur, die als eine komische mit dem Schaden und dem Spott aller eingedeckt wird, bis zu ihrem Verschwinden von der Bühne. (Ihr Pendant Mime wird ja gar, unter allgemeinem Beifall, totgeschlagen.) Daß dieser Prügelknabe, anders als die Intellektuellen der Wirklichkeit, Repräsentant konservativer Gesinnung ist in einem Gesamtrahmen, in dem das Fortschrittliche, der "neue, freie Ton" in der Kunst am Ende versöhnt wird mit der Tradition (ein neuer Ton im übrigen, der sich aus ganz alten Quellen speist und damit schon selber Griff nach rückwärts ist) - das alles macht die von Hitler und anderen Spießbürgern bekanntlich besonders geschätzte Sache nicht erfreulicher. Und die Schlußapotheose auf deutsche Art und Meisterschaft, konzentriert auf Hans Sachs, wird zumindest in ihrer beabsichtigten spontanen Wirkung kaum gemildert dadurch, daß dieser Sachs als eine durchaus differenzierte und keineswegs "tümelnde" Erscheinung entwickelt worden ist.

Das sind, kurz angedeutet, die ideologischen Bestandteile, die mir den Besuch jeder Meistersinger-Aufführung nur zu einem begrenzten Vergnügen machen. Die Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin hat sich auf gezielte Deutungen oder gar Umdeutungen in der einen oder anderen Richtung gar nicht erst eingelassen; weder hat sie das Widrige an Wagners Beckmesser-Kreation bloßzustellen noch es durch eine psychologisierende Differenzierung der Figur verschwinden zu lassen versucht. Regisseur Peter Beauvais soll ganz unschuldig "Realismus" als Prinzip verkündet haben und sozusagen werktreu 16. Jahrhundert im Blickwinkel des neunzehnten. Das sieht dann alles schön und rund aus, kompakte Bilder, einhellige Begeisterung beim Publikum und bei der Kritik. Szenenbeifall für die Lebkuchenhäuser des zweiten Aktes (Bühnenbild: Jan Schlubach), nichts ist stilisiert oder verfremdet. Es hat am Ende den großen Vorzug, daß die Festwiese kein kleiner Reichsparteitag wird, sondern bunt und lebendig ist (Kostüme: Barbara Bilabel). Und hat man Ambitionen auf eine kritische Sicht des Ganzen einmal beiseite gelegt, so ist an dieser Inszenierung tatsäschlich wenig auszusetzen. Die Figur des Hans Sachs (Dietrich Fischer-Dieskau), und auch das ist gut, hat nichts Über-Vaterhaftes an sich; Sachs ist hier eher jugendlich, nachdenklich und durch widersprüchliche Emotionen differenziert, am Schluß keineswegs auftrumpfend, sondern eher still zurückgenommen. Für diese Vorzüge im Darstellerisch-Musikalischen nimmt man dann auch die überraschende stimmliche Tiefenlosigkeit Fischer-Dieskaus in Kauf.

Inszenatorische Undeutlichkeiten im zweiten Akt (zum Teil durch das enge Bild und die zu wörtlich genommene Nacht bedingt) oder ein Preislied, das konsequent mit dem Rücken zur gepriesenen Braut gesungen wird, solche Einzelheiten zu monieren, würde den Vorwurf der Beckmesserei schnell nach sich ziehen. Der Heldentenor, der sich nicht wie eine breitbeinige Gliederpuppe bewegt, muß wohl noch gefunden werden (Stolzing: Gerd Brenneis), die meisten Partien waren gut besetzt (Beckmesser: Ernst Krukowski, David: Horst Laubenthal, Eva: Gerti Zeumer, um nur die wichtigsten zu nennen).

Eugen Jochum dirigierte nicht sensibel genug, oberflächlich und gelegentlich grob, und vor allem in den ersten beiden Akten ein wenig langweilig. Jedenfalls stellte sich bei mir die musikalische Faszination vom Orchester her nicht ein, die das Unbehagen an den Meistersingern allenfalls hätte zum Schweigen bringen können.

Rudolph Ganz

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   Spandauer Volksblatt, 14. März 1976      

Umjubelte Neuinszenierung in der Deutschen Oper Berlin

"Meistersinger" ohne Extravaganzen

    

So einhellig erlebt sich das Premierenpublikum in der Bismarckstraße nicht oft. Nach dem fünfdreiviertelstündigen Opernabend hallten Ovationen durchs Haus, die alle Mitwirkenden einschlossen: vor allem auch Peter Beauvais als den Regisseur, Jan Schlubach als den Bühnenbildner, Barbara Bilabel als die Kostümgestalterin der Aufführung. Wagners hintergründige Musikkomödie war "realistisch" über die Szene gegangen. Darob Erleichterung; dafür Zustimmung.

Das Pendel schwingt zurück. Wo vor zehn, fünfzehn Jahren Wagner-Enkel Wieland seine (freilich nie unumstrittenen) Triumphe feierte, ist man des Experiments der Neuerkundung vorerst satt. Statt dessen regt sich und regiert die Neugier. Was wollte Wagner (Richard) eigentlich? In Abwandlung eines berühmten Zitats: wir können Wagner verwirklichen, wenn wir ihn verwirklichen können.

Ganz sicher entspricht das der Situation. Experimente bauen auf Vorkenntnisse, Eingeweihtheit, Gewöhnung, vielleicht auch Überdruß des Publikums. Längst gibt es eine neue Generation, die den erratischen Block der Wagner-Überlieferung unbefangen, unbelastet kennenzulernen ein Recht hat. Sie müßte sich bei dieser Neuinszenierung gut aufgehoben fühlen. Sauber, texttreu, ohne Extravaganzen, relativ unproblematisch, ein faires Angebot: das sind Charakteristika, die sich für sie aufdrängen.

Im zweiten Akt kommt die Gasse Alt-Nürnbergs wieder zu Ehren, ein Fußgängersteig mit Stufen, krumm, verwinkelt, mit überkragenden Stockwerken, links das Haus des Hans Sachs, rechts Pogners reicheres Anwesen mit Laube und Plattform. Der Flieder rankt sich über Sachsens Haustür, die Linde nur wird durch Lichtsprenkel angedeutet. Überraschend geräumig wirkt danach das schlichte Innere von Sachsens Haus und Werkstatt.

In der Festwiese wird Altdeutsches rekonstruiert, als stamme es aus einem rückwärtsgewandten Bild des romantischen Jahrhunderts: Baumwipfel und -zweige neigen sich im Hintergrund, einen symmetrischen Rahmen bildend, zueinander, auf dem ansteigenden grünen Feld tummelt sich eine gegliederte, aber zahlenmäßig begrenzte Stadtgesellschaft, ein buntes Gewirr von spanischem Schwarz und farbenfroher Tracht, die Mädchen in Häubchen, wie’s der Brauch.

Exakt und unaufdringlich die Personenregie: das Spiel um den Kirchenpfeiler im ersten, das Hin und Her um das nächtliche Ständchen im zweiten, die zum Quintett führenden Konstellationen im dritten Akt. Die Chormassen allerdings quellen in der Prügelszene etwas zu plötzlich aus den Häusern. Die Zünfte ziehen unfeierlich auf, fröhlich mischen sie sich in die bewegte und tanzende Menge, in der auch David ganz verschwindet.

Eugen Jochum sorgt mit dem Opernorchester vor allem für den kontinuierlichen Erzählstrom, den begleitenden Kommentar. Die großen Aufschwünge sind den Vokalsolisten überlassen. An archaisch schwerem, üppigen Faltenwurf, an später Nervosität offenbart die Partitur ihren ganzen Reichtum unter Jochums Händen nicht. Ihre Keckheit, ihre humoristische Drastik aber ist stets gegenwärtig. Das Vorspiel zum dritten Akt klang in seiner ganzen resignierenden Herrlichkeit. Die Meistersingerthematik wurde eher klug in Frage gestellt als zum bombastischen Triumphmarsch emporgewuchtet.

Grandios der Chor unter Walter Hagen-Groll; die Mehrstimmigkeit wurde durch eine sehr lebendige Darstellung in den beiden Massenfinals zusätzlich sinnfällig.

Gerd Feldhoff verlautbart die Biederkeit und den selbstsicheren Konservatismus Kothners, Peter Lagger die Großherzigkeit und mulmige Unsicherheit von Vater Pogner - beide im Vollbesitz ihrer tubatiefen, posaunenkräftigen Stimmen. Um sie acht Meister, ein Ensemble aus lauter Solisten. Eine Pointe: die Ängstlichkeit des Nachtwächters (Josef Becker).

Stolzing wird von Gerd Brenneis mit Kraft und Farbe gesungen, im Preislied fügt er zum Nachdruck den Schmelz. Seine Partnerin Gerti Zeumer (Eva) schien mir trotz Charme und sängerischem Niveau gestalterisch zu gleichförmig. Horst Laubenthal ist ein rollendeckender David, nur versteht man von seiner ausführlichen Erklärung der Meistersingerei im 1. Akt zu wenig Text. Ruth Hesse verkörperte wie früher schon eine junge, hübsch gewandete Magdalena.

Stadtschreiber Beckmesser ist bei Ernst Krukowski keine Karikatur, sondern ein intelligenter, wenn auch neurotischer, nervöser, giftiger alter Junggeselle auf Freiersfüßen. Bei aller psychologischen Durchzeichnung belastet er Beckmessers Tragikomödie nicht mit Gefühlsschwergewicht. Die Figur darf sich so lächerlich machen und mitleidlos blamieren, wie ihr Urheber es vorgesehen hat.

Je länger der Abend dauert, um so mehr wächst Dietrich Fischer-Dieskau auch mit der für ihn neuen Partie des Hans Sachs wieder in den Ausnahmerang, der diesem Sänger seit je zukommt. Dieser Sachs ist jung genug, um als ernsthafter Freier glaubwürdig zu sein, nobel, vergeistigt. Nie gab es einen weniger biederen Sachs. Aber verschmitzt ist er, humorvoll, augenzwinkernd, in der Darstellung der Entsagung und der durch grobes Gebaren überspielten Weichheit wie ein Pendant zu Johannes Brahms (der die "Meistersinger" seines Gegners Wagner geliebt hat). Die rezitativischen Partien trägt niemand so textdeutlich wie Fischer-Dieskau vor; die pathetischen (Schlußansprache) nimmt er wirkungsvoll zurück; Monologe und Werkstattbild gestaltet er zu lyrischen und seelischen Zentren des Werkes. Durch ihn wird die strikte und bewußt gemäßigte Aufführung in die Sphäre jenes komplexen Reichtums an Kunstphilosophie, Selbstüberwindung, Travestie und großer Komödie hochgerissen, auf den auch der ganz neue Wagneradept schnell stößt.

Hans-Jörg von Jena

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   tz, München, 15. März 1976     

Gefeiertes Debüt

Fischer-Dieskau als Hans Sachs in Berlin

   

Mit einem Beifallsorkan für Dietrich Fischer-Dieskau endete die "Meistersinger"-Premiere (unter Eugen Jochum) an der Deutschen Oper Berlin.

Fischer-Dieskaus Debüt als Hans Sachs: stimmlich und darstellerisch überragend. Mit schubertisch leichter Phrasierung baut er die Gesangsbögen, gibt einen menschlich warmen, väterlich reifen Sachs, dem man bloß den "einfachen Handwerker" fast nicht mehr abnimmt.

Neben ihm, wie immer in Berlin, wird Walter Hagen-Grolls Chor mit Szenen-Applaus gefeiert, freut man sich über das realistische Nürnberg Jan Schlubachs, herrscht Entzücken über Gerti Zeumers Evchen und nicht mehr als Wohlwollen für Brenneis’ opernhaften Stolzing, dem auch der sonst gewandte Peter Beauvais bei seiner ersten Berliner Opern-Regie nicht zu mehr Farbe verhelfen konnte.

Viel (politische) Prominenz im Publikum - ein großer Abend, den die Oper, zumal mit Wagner, immer noch überzeugend hinkriegt.

H. H.

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   Die Wahrheit, Berlin-West, 22. März 1976      

Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg"

Wirkliches Theater in der "Deutschen Oper"

    

Endlich gibt es wieder einmal wirkliches Theater in der Westberliner Oper und nicht nur im Scheinwerferkegel untätig herumstehende Sänger mit schönen Stimmen: Peter Beauvais’ Neuinszenierung von Richard Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" erhielt für ihre realistische Regie-Konzeption berechtigte Beifallsovationen, wie es im Opernhaus unserer Stadt bei Premieren seit längerem nicht mehr der Fall war.

Von Wagner als kurzweiliges musikalisches Lustspiel konzipiert, ist ihm beim Komponieren die Geschichte von den drei Männern, die in das heiratswillige Evchen verliebt sind, bei einer reinen Spieldauer von knapp fünf Stunden etwas lang geraten. (Jedoch läßt die Inszenierung die Längen vergessen.)

Das Ganze spielt im Nürnberg des 16. Jahrhunderts. Die Meistersinger sind Handwerksmeister, die sich in ihrer Freizeit der Kunst des Gesangs und der Dichtung widmen - wie Hans Sachs, der verwitwete, in den besten Jahren stehende Schuster und Volksdichter, der Evchen nicht nur väterlich liebt, und der Stadtschreiber und Junggeselle Sixtus Beckmesser sowie der Goldschmied Veit Pogner, der seine Tochter Eva würdig verheiraten will und sie deshalb als Preis für den besten Meistergesang anbietet: Die Bürgertochter als Preis der Muse.

In diesen Wettstreit platzt der Ritter Walther von Stolzing, der sich gleich in der Kirche in Evchen verliebt, jedoch nicht die bürgerliche Kunst der Meistersinger beherrscht. Beim Probesingen fällt er durch. Stolzing und Evchen sehen die Lösung nur in einer nächtlichen Flucht, die aber durch eine große Prügelei verhindert wird. Am andern Tag - das Preissingen soll stattfinden - rappeln sich alle nach dem nächtlichen Spuk wieder auf, gelingt es Stolzing mit Sachsens Hilfe, ein ungewöhnliches, aber noch tragbares Preislied zu verfassen, so daß er gegen Beckmesser den Preis davonträgt. Ausschließlich in Evchen vernarrt, verweigert er die Annahme der Meisterwürde, was Sachs zu der berühmten, chauvinistisch mißbrauchten Schlußansprache "Ehrt Eure deutschen Meister" veranlaßt. (Uraufführung der "Meistersinger": 1868). Dietrich Fischer-Dieskau als Hans Sachs ist es durch Lockerheit, unprätentiöses Spiel und unpathetischen Gesang gelungen, den Schlußmonolog gründlich zu entschärfen. Er hält keine große Ansprache, sondern macht dem Stolzing fast vertraulich klar, daß er sich daneben benommen hat, und damit hat sich die Sache. (Schade, daß das gut disponierte Orchester unter Eugen Jochum da nicht recht mitzog, schleppte und auch sonst häufig zu bieder und ohne Witz spielte.) Überhaupt verlor Sachs durch die Inszenierung die altväterlich-weisen Züge, statt dessen hat er schwer mit seiner Beziehung zu Evchen zu kämpfen, gerät jedoch nicht in jene von anderen Inszenierungen her vertraute tragische Entsager-Pose.

Auch der Beckmesser des ausgezeichneten Ernst Krukowski gewinnt menschliche Züge. Die in der Figur enthaltene widerliche Karikatur auf den jüdischen wagnerkritischen Musikschriftsteller Hanslick ist völlig beiseite geräumt. Beckmesser hat seine Chance beim Preissingen, die Komik der Figur entsteht nicht aus verachtungswürdiger Lächerlichkeit, sondern aus Beckmessers Ungeschick und Sachsens Schläue, der vernichtende Spott ist zurückgenommen. Aus den insgesamt auf hohem Niveau stehenden gesanglichen Leistungen ragt der David Horst Laubenthals hervor. Es ist zu hoffen, daß die Premierenbesetzung, insbesondere mit dem Sachs Fischer-Dieskaus auch dem Abonnementspublikum zur Verfügung steht.

Zum großen Volksfest wurde die Festwiese mit Schabernack und Tanz, mit fantasiereichen, bunten und liebevoll-detailliert geschneiderten Kostümen, ein lebendes Breughel-Bild, vergnüglich anzusehen; das Publikum dankte mit Szenenapplaus. Hervorragend auch das Bühnenbild, vor allem im ersten und im dritten Akt. Die mittelalterliche Stadt im zweiten ist etwas zu putzig und zu postkartenartig geraten, sie sieht ein bißchen nach dem aus, was bestimmte US-Amerikaner an Rothenburg, dem Prototyp der altdeutschen Stadt, "so nice" finden.

Zum seit langem vermißten Ereignis des Abends wurden jedoch die durchgefeilte Personenführung und eine beachtliche schauspielerische Leistung. Sei es nun, daß die Lehrjungen die Stühle für das Probesingen herzurichten hatten, oder seien es das zärtliche Zwiegespräch Evchen-Sachs oder Beckmessers Diebstahl in Sachsens Stube, immer wurden wirkliche Menschen dargestellt.

go

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   Hannoversche Allgemeine, 16. März 1976      

Ein Mensch und lauter Marionetten

Dietrich Fischer-Dieskau in der Berliner "Meistersinger"-Neuinszenierung

    

Neugierig und lange hatte man auf Dietrich Fischer-Dieskaus ersten Hans Sachs gewartet. In einer Neuinszenierung der "Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper Berlin löste Fischer-Dieskau nun sein Versprechen ein: Mit einer singschauspielerischen Glanzleistung der seltensten und vollendetsten Eigenart.

Fischer-Dieskau liegt nicht in jener üblichen Bandbreite der Gestaltung zwischen schusterndem Philosophen und philosophierendem Schuster. Das solide Handwerkergepräge der Figur ist kaum zu merken, genausowenig eine angestrengte Geistigkeit. Fischer-Dieskaus Sachs strahlt Bonhomie und Humanität aus. Das Menschliche, das Bewegende, das Anrührende der Figur ist in den Vordergrund gekehrt. Das bedeutet keine Rückkehr zur Akzentuierung der Liebesgeschichte, des Verzichts Sachs’ auf Evchen, was ja längst als unwesentlicher Bestandteil der Handlung erkannt ist. Das bedeutet aber, daß hier die menschliche Qualifikation des einzelnen triumphiert über Gildendünkel, kleinbürgerliche Befangenheit.

Über diese so herzliche und sympathische Rollenzeichnung schien sich allerdings Fischer-Dieskau nicht mit seinem Regisseur Peter Beauvais einigen zu können. Fischer-Dieskau bringt als einziger etwas wie eine individuelle Menschlichkeit in die Aufführung. Er ist umgeben von Marionetten. Weder Gerd Brenneis als Stolzing noch Gerti Zeumer als Evchen noch Peter Lagger als Pogner noch Ernst Krukowski als Beckmesser treten irgendwo aus ihrem Rollenklischee heraus.

Wenn sich Beauvais und sein Ausstatter Jan Schlubach schon zu einer tendenzlosen, oberflächlich realistischen und historisierenden Inszenierung bekennen wollen, dann täte doch wenigstens Theater not, Schauspielerei, Bewegung und Dynamik. Aber die Aufführung schleicht langatmig und steif daher, verschenkt ganz fahrlässig allen Witz dieses so witzreichen musikalischen Lustspiels.

Neben Horst Laubenthal, der einen lyrisch-kultivierten David singt, ist Fischer-Dieskau auch der einzige Sänger, der den Ansprüchen Wagners und der Deutschen Oper Berlin gerecht wird. Das kann weder Brenneis mit seinem scharfen Charaktertenor noch der enge, glanzlose Sopran Gerti Zeumers noch der flache, substanzlose Bariton Krukowskis. Fischer-Dieskau allerdings singt grandios: Mit mächtiger freiströmender Stimme, mit einem Nuancenreichtum, der keinen Ton und keine Silbe verschenkt, mit einer Differenzierung des Ausdrucks, der in jeder Situation den glaubhaften, weil natürlichen Ton findet. Fischer-Dieskau ist eben kein Opernsänger, sondern ein Erzähler musikalischer Geschichten.

Der Dirigent ist Eugen Jochum. Er setzt auf Glanz, auf strahlende Diesseitigkeit, er entschlüsselt das Stück aus seiner C-Dur-Einrahmung. Manches wünschte man sich in solcher Konzeption blanker poliert, heller klingend, aber in der kräftigen Skandierung und der musikalischen Lockerheit sind Jochums "Meistersinger" ein durchaus freudvolles Unterfangen.

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Richard Bernstein

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   Stuttgarter Zeitung, 17. März 1976      

Kein deutsches Kunstdenkmal

Dietrich Fischer-Dieskau als Sachs in den Berliner "Meistersingern"

    

Nach Wieland Wagners heftig diskutierter Inszenierung von 1962, die schon seit geraumer Zeit vom Spielplan verschwunden war, hat nun auch die Deutsche Oper Berlin neue "Meistersinger von Nürnberg", die nicht kunstvoll in einer idealisierten Opernsphäre angesiedelt sind, sondern die im Stil eines historischen Realismus den Abglanz konkreter Wirklichkeit zeigen. Gewiß waren dabei von Peter Beauvais als Regisseur keine radikal neuen Einsichten oder Erkenntnisse zu erwarten, aber immerhin gelang es ihm, lebensnahe Figuren und Arrangements auf die Bühne zu bringen. Leben und Leiden von Menschen aus Alt-Nürnberger Tagen - das war die Devise seiner szenischen Einstudieurng, der sich auch Jan Schlubachs idyllische Bauten, in denen es kräftig nürnbergelte, und Barbara Bilabels bunte und bis ins Detail liebevoll entworfenen Kostüme angemessen anpaßten .

Eine solche auf Realismus, auf saftvolle Typen von gediegener Charakteristik ausgerichtete Annäherung an die "Meistersinger" kam ganz besonders der Titelpartie zugute. Dieser Hans Sachs stand nicht als deutsches Kunstdenkmal auf dem Sockel, vielmehr war er ein Mann, der sich unauffällig von den "Meistern" abhob. Mit Dietrich Fischer-Dieskau war diese Partie nahezu ideal besetzt: vorbildlich deklamierend, wohltuend zurückhaltend in Gesang und Gesten drängte er das kunstphilosophische und nationalstolze Übermaß der Schlußszene zurück. Vorzüglich auch Ernst Krukowski als Beckmesser: kein karikaturistisch überdrehter Meckerer, eher ein nörgelnder Kommunalbeamter, mehr tragisch als komisch. Bedeutend schwächer waren die übrigen Protagonisten. Gerti Zeumers Evchen und Ruth Hesses Magdalene gelangen akzeptabel. Gerd Brenneis als Stolzing und Horst Laubenthal als David waren zwar ausgezeichnet bei Stimme, aber leider schwach im Temperament und oft nicht zu verstehen. Das geht auch zu Lasten von Eugen Jochum, der am Pult stand und sich aus lauter Vorliebe für die penible Auffaltung von Wagners dichter motivischer Arbeit oft zu heftigen Akzenten hinreißen ließ und die Sänger überdeckte und unterdrückte, so daß man oft genug den Eindruck hatte, eine Sinfonie mit Solostimmen zu hören.

Wolfgang Schultze

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   Weser-Kurier, Bremen, 19. März 1976      

Fischer-Dieskau ist der ideale Sachs

Peter Beauvais inszenierte für die Deutsche Oper Berlin Wagners "Meistersinger von Nürnberg"

   

"Die Meistersinger von Nürnberg" sind, man mag es drehen und wenden, wie immer man will, das realistischste Musikdrama Richard Wagners. Das heißt aber auch, daß sie einer aktualisierenden oder verfremdenden Neudeutung den stärksten Widerstand entgegensetzen. Jede "Entrümpelung" der "Meistersinger"-Szene verbannt zusammen mit dem alten Plunder auch die historische Stimmigkeit und mit ihr die Poesie von der Bühne. In der Deutschen Oper Berlin handelt Peter Beauvais, als Openregisseur ein Außenseiter, aus dieser Einsicht heraus. Er nimmt das Werk beim Wort - und sich allerdings auch die Freiheit, zu dechiffrieren, was zwischen den Zeilen des Textbuches steht. Die Resultate solcher auf den Sinn wie auf den Hintersinn der Vorgänge drängenden Textbefragung sind ohne Rest in die Inszenierung eingebracht, vornehmlich in die individualisierende Zeichnung der Charaktere, die noch die Episodenfiguren, ja die sonst in der Anonymität verharrenden Figuranten des Chores umfaßt.

Stimmigkeit auch in der optischen Veranschaulichung des Werks: Der Bühnenbildner Jan Schlubach und die Kostümbildernin Barbara Bilabel widerstehen wie Beauvais der Versuchung, sich auf Kosten des Werks interessant zu machen. Aus solcher, der Sache und nicht der eigenen Profilierung dienenden Bescheidenheit heraus gelingen ihnen Bildwirkungen von suggestiver Poesie, besonders im zweiten Akt und im Festwiesen-Panorama. Im atmosphärisch dichten Alt-Nürnberg-Ausschnitt findet der Johannisnachtzauber seinen genauen Ort; die Festwiese, hinter der kein Nürnberg-Prospekt zu sehen ist, nimmt sich mit dem Gewimmel der zeittypisch kostümierten Meistersinger, Bürger und Kinder wie das Gemälde eines Meisters der Dürer-Zeit aus.

Zum Ereignis wird die Aufführung jedoch insbesondere durch Dietrich Fischer-Dieskau. Er singt den Hans Sachs zum ersten Male in seiner Karriere - und zugleich mit einem durch Kunstverstand disziplinierten vokalen und schauspielerischen Impetus, als wollte er allemal die Maßstäbe für die Darstellung dieser Partie setzen. In Statur, Ausstrahlung und Beweglichkeit ist er ein sehr vitaler, sehr junger Sachs, der die Fäden des heiter-intriganten Spiels von allem Anfang an sehr fest in Händen hält, ein Mann, der für das Goldschmiedstöchterlein Eva durchaus in Frage käme. Die erotische Spannung zwischen ihm und Eva, auf die der junge Ritter Stolzing, in Berlin ist es der vorzüglich disponierte Gerd Brenneis, mit Betretenheit und leiser Eifersucht reagiert, hat auf der Opernbühne kaum je zuvor so sinnfällig-diskreten Ausdruck gefunden. Dem Meistersänger unter den Meistersingern gelingt es sogar, die fatale ichbezogene Deutschtümelei, in der Wagner sich in seinem "Verachtet mir die Meister nicht" ergeht, wenn nicht zu eliminieren, so doch zu entpathetisieren.

Daß Fischer-Dieskaus singuläre Leistung sich nicht als die eines Gesangsstars verselbständigt, ist der Intelligenz des Sängers, der klug ausbalancierenden Regiehand Beauvais’ und der glänzenden Besetzung der anderen Partien zuzuschreiben. Die innige Mädchenhaftigkeit der Eva Gerti Zeumers, die robustere der Magdalena Ruth Hesses, die kernige Väterlichkeit des Pogners Peter Laggers und die mitleidheischende Jämmerlichkeit des Beckmessers Ernst Krukowskis sind in dieser Inszenierung jederzeit gesanglich und schauspielerisch voll präsent. Walter Hagen-Grolls Chöre singen schallplattenreif; das Orchester wächst nach dem recht unausgewogen intonierten Vorspiel vom zweiten Akt an, dann aber sehr rasch, in seine Aufgaben hinein. Der Beifallsorkan am Schluß signalisierte den bisherigen Höhepunkt der diesjährigen Berliner Opernsaison.

Helmut Kotschenreuther

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   Wiesbadener Kurier, 17. März 1976      

"Meistersinger" ernstgenommen

Peter Beauvais inszeniert Wagner

    

Nach einer historisch notwendig gewordenen Phase szenischer Entrümpelung, die gerade in der Berliner Adaption der Bayreuther "Meistersinger" durch Wieland Wagner ihren Kulminationspunkt erlebt hatte, bringt uns die Nostalgie-Welle wieder vieles vom einstigen Dekorationskleinkram zurück. Hinter einem Wandvorhang sehen wir in Sachsens Schusterstube eine minutiös zusammengetragene Fülle an Hausrat. Durch blumenumrankte Fenster blicken wir auf Giebel und Dächer einer altertümlichen Beschaulichkeit, die bereits den kleinen, freilich etwas verbauten Gassenausschnitt im Mittelakt zu einem nürnbergischen "Il Campiello" gemacht hatte. Wahrlich, hier läßt sich’s dichten und singen, vor allem aber raufen.

Es sind also konkrete Schauplätze mit einer sangesfreundlichen Akustik, die Jan Schlubach in der Deutschen Oper für den vom Fernsehen kommenden Peter Beauvais gebaut hat. Seine dritte Operninszenierung - nach "Lucia" und "Melusine" in Zürich - ist indes nicht nur optisch konzipiert; sie bringt manches wieder ins Lot und bricht zugleich in einem positiven Sinne mit bisherigen Aufführungstraditionen. So führt beispielsweise durch den engen Geisteshorizont der Meister-Welt ein karikierender roter Faden, und doch nimmt Beauvais jeden von ihnen ernst. Bei aller Gemeinsamkeit dokumentieren sie dennoch - durch schöne Kostüme (Barbara Bilabel) überaus sorgsam differenziert - eine gewisse, aus Generationsproblemen resultierende Meinungsvielfalt. Da ist etwa der glatzköpfig-schwerhörige Hans Schwarz (I. Sardi), der von harter Arbeit gezeichnete Hermann Oertel (K. Lang), der verschmitzte Eißlinger (K.E. Mercker) oder der jugendlich-elegante Foltz (M. Nikolic), um nur die hervorstechendsten von ihnen zu nennen.

In diesem Meisterkreise erscheint uns Pogner - auch dies eine interessante Variante der Regie - eher verunsichert als prahlerisch, wobei ihn Peter Lagger jetzt auch stimmlich feiner gestaltet als in der W.-Wagner-Inszenierung. Erst recht gewinnen Kothner (Gerd Feldhoff), der gleichsam gefiltert und weniger aufgeblasen wirkt sowie der charakterlich wie psychologisch vertiefte Beckmesser (Ernst Krukowski). Sein schauspielerisch sensibel gezeichneter Stadtschreiber - die wohl interessanteste Figur - entbehrt bei aller Verschrobenheit nicht einer gewissen Eleganz.

Daß Dietrich Fischer-Dieskau ein Sänger ist, der es sich mit keiner seiner Aufgaben leicht macht, dürfte weitgehend bekannt sein. Freilich ist er damit nicht unbedingt auch eine unantastbare künstlerische Autorität. Sein Sachs hat große Momente des rezitativischen Meditierens, zeigt andererseits in mancher überzogenen und auf seine besondere Weise pointierten Phrase, daß der Liedersänger dem Bühnensänger wie immer einen großen Schatten vorauswirft. Erstaunlich immerhin, wie er die gewaltige Klangarchitektur durchdringt, deren instrumentale Schönheiten Prof. Eugen Jochum - gleichsam von Akt zu Akt wachsend - mit enormer Sensibilität und dabei doch ohne jedes Pathos herausarbeitet.

Dabei läßt er die Musik ebenso ruhig atmen, wie er etwa auch die kleineren Stimmen ohne Schaden durch das Riesenwerk geleitet. Da ist beispielsweise Gerti Zeumer, ein Sopran von bescheidenem Klangvolumen, als brave Eva von solidem Durchschnitt. Und da ist Horst Laubenthal, ein David ohne spielerische Wendigkeit und irgendwelchen Timbrereiz. Gerd Brenneis, immerhin ein Stolzing von jugendlich-heldischer Kraft, bleibt als Darsteller noch weitgehend unbekümmert, während etwa Ruth Hesse ihre schon in der Vergangenheit bewährte Magdalene erfolgreich fortsetzt. Ebenso schöpfen auch die Chöre der Deutschen Oper unter der Leitung ihres begnadeten Direktors Walter Hagen-Groll aus einem reichen Fundus an Erfahrung, indem sie ihren internationalen Ruf erneut bestätigen. Für sie, die prachtvoll singende Hundertschaft, ein großer Erfolg, ein Erfolg auch für alle Beteiligten.

Bernd Kima

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   Augsburger Allgemeine, 16. März 1976      

Wonnen mit Wagner

"Meistersinger" in Berlin - "Parsifal" in Stuttgart

    

Richard Wagners "Meistersinger von Nürnberg" in einer Meister-Inszenierung: Die Deutsche Oper Berlin hat ihren größten Erfolg seit langem zu verbuchen. Dem Zug der Zeit - weg von der Abstraktion - folgend, präsentiert sie dieses beste deutsche Lustspiel auf der Opernbühne im Stil eines historischen Realismus.

Einen optischen Genuß von hohen Graden bieten die Bühnenbilder von Jan Schlubach, die ebenso wie die Farbenpracht der Kostüme von Barbara Bilabel zu spontanem Applaus reizen. In dieser Szenerie verteht es der Opern-Regie-Neuling Peter Beauvais hervorragend, die Menschen in Gruppen und einzeln zu bewegen. Darüber hinaus gelingt es ihm, sehr rasch die Charaktere zu profilieren sowie ein Spannungsfeld herzustellen, das über die sechsstündige Darbietung (Pausen mitgerechnet) erhalten bleibt.

Ein großer Teil des Erfolges geht zweifellos auch auf das Konto von Dietrich Fischer-Dieskau, der hier zum erstenmal in seinem Leben den Hans Sachs singt. Nicht nur stimmlich, auch darstellerisch ist er ein Schuster-Poet par excellence, ein Mann, der in der Einsamkeit Gelassenheit und Humor gewonnen hat und dessen Souveränität nicht einschüchtert, sondern Vertrauen erweckt.

Auch die übrigen Rollen sind glänzend besetzt. Am Dirigentenpult Eugen Jochum, der eine Steigerung des musikalischen Ausdrucks von Akt zu Akt erreicht.

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Liselotte Müller

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   Deutsche Zeitung Christ und Welt, 19. März 1976      

Parsifal im Nagelwald

Die Wagner-Welle wogt: Vier Neuinszenierungen im Überblick

100 Jahre Bayreuth: Zum Jubiläum warten Wagner-Regisseure mit neuen Regietaten auf, mit Experimenten und Nostalgiekitsch nach Führergeschmack.

    

Die Wagner-Szenerie ist so schizophren, wie es offenkundig Wagners Werken entspricht - oder wenigstens der augenblicklichen Stil-Situation an unseren Opernbühnen. Zwischen Wiederkehr des alten Wagner-Kitsches und extrem experimentellen Bemühungen schwanken die Perspektiven der Interpreten. Die Hörer wollen die jüngste Wagner-Welle offenkundig nostalgisch gewertet wissen.

Gut, die Welle schwappt zurück - das war gewiß voraussehbar. Aber was ist davon zu halten? Es gibt wieder Wagner-Bühnen-Bilder, die auch Hitler gefallen hätten, will sagen: man kommt sich - stilistisch wohlgemerkt - genau vierzig Jahre zurückversetzt vor. Neuinszenierungen von Wagner-Werken in den letzten Tagen und Wochen haben freilich auch erkennen lassen, daß einige Theater sich gegen diese wilde Nostalgie-Welle wehren, nicht erneut im vordergründigen Märchenzauber des 19. Jahrhunderts versinken wollen.

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Auch in Berlin war Jan Schlubach am Wagner-Werk. Er wird der erfolgreichste, der fürchterlichste Bühnenbildner von morgen, wenn er so weitermacht. Für die "Meistersinger" imitierte er den Gartenlaube-Stil, das Märchenbuch von Großmutter so perfekt, daß man ihn für einen großen "Fälscher" halten kann. Für das Publikum scheint er auf dem richtigen Weg zu sein: seine Bilder erhielten Sonderapplaus. Man hatte gleichsam den Wagner-Kitsch von vorgestern aus dem Fundus geholt und neu angepinselt - mitsamt den alten Baumhängern, diesen üblen Attrappen, die man ausgerottet hoffte - oder waren die Berliner nach Paris gefahren, um das, was Liebermann ausmistete, billig aufzukaufen? Die alten Häuser von Nürnberg, mit Laube und Treppchen, mit Verwinkelungen und schiefen Dächern, mit Erkerchen und Balkönchen - alles war wieder da, kraß und direkt: das alte, verlogene Idyll.

Versöhnt wurde das kritische Auge durch Barbara Bilabels Kostüme, die mit Rückgriffen auf die Sachs-Luther-Zeit (mit Männerschaube und -Faltrock) viel Atmosphäre erzielten. Hinzu kam die Regie des Opern-Neulings Peter Beauvais, die anfangs recht unentschieden wirkte, doch im Finale ausgesprochen fesselte - hier wurde das Volk unprätentiös bewegt, ein Bürgerfest locker und selbstverständlich vorgeführt, alle Peinlichkeit des "Habe acht" oder des "Verachtet mir die Meister nicht´" klug umgangen. Da herrscht kein falscher Prunk und kein patriotisches Pathos, Sachs mahnt den Stolzing ganz privat, mit herrlichem Understatement. Als man ihn am Ende nochmals umjubelt, verliert der Betrachter ihn im Trubel der ihn umgebenden Menschen aus den Augen, während das Liebespaar offenkundig unberührt und still versunken vorn stehenbleibt. Sachs trollt sich langsam von dannen: keine Apotheose, kein großer Aufmarsch, keine Heldenverehrung. Das wirkte vorbildlich. Obwohl Fischer-Dieskau den Sachs zum ersten Male sang - phantastisch genau, imponierend kraftvoll und lyrisch-dezent -, setzte er für diese Rolle sogleich einen neuen Maßstab.

Wolf-Eberhard von Lewinski

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   Basler Nachrichten, 27. März 1976      

Wagners "Meistersinger" in der Deutschen Oper Berlin

Rückkehr zur Romantik

    

Berlins Oper hatte ihre Sensation: "Die Meistersinger von Nürnberg" kamen in einer den Intentionen Wagners vollgültig entsprechenden und mit prallem Leben erfüllten Neuinszenierung heraus. Peter Beauvais, bekannt als beachtlicher Fernsehregisseur, rückte endlich wieder zurecht, was Jahrzehnte lang in Experimentierwut verunglimpft worden war, unterstützt durch schon beim Aufgehen des Vorhangs begeistert akklamierten Bühnenbildern und wundervollen Gewändern der Solisten und des umfangreichen, prachtvoll singenden Chores. Rauschender Beifall, Jubel und Freude wollten am Schluß der Oper kein Ende nehmen.

Diese Neuinszenierung von Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" in der Deutschen Oper Berlin ist fern von allem Bemühen um einen neuen zeitgenössischen Stil von dem einzig richtigen Ansatzpunkt her realisiert: man geht das Werk einfach von der dramatischen Intention seines Autors an. Nichts von "gesellschaftskritischen" Aspekten oder Psycholigisierereien. Hans Sachs wird, wie Wagner ihn von Anfang an einführt, hier nicht mehr als ein biederer "Nüremberger Schuster und Poet dazu" gestaltet; sondern als ein aus Güte und Weisheit überlegen vorausahnender Poet, der den unüberlegten jugendlichen Überschwang und den Beharrungsstandpunkt der Meister auf der Tradition mit Klugheit zu vereinen weiß.

Für die Inszenierung zeichnet Peter Beauvais verantwortlich, der sich durch zahlreiche Fernsehspiel-Leitungen einen Namen gemacht hat. Außerdem auf der Opernbühne nicht unerfahren, bringt er von Hause aus die Liebe zum Detail mit, zur minimalen doch präzisen Gestik und Mimik. Er hält sich genau an die Vorlage und vermeidet jedes Experimentieren. Als Mann der Optik bringt er eine Fülle intimer, bedeutsamer Nuancen ins Spiel, so daß jede Figur zu einem eigenständigen Charakter profiliert wird. Seine Personenführung war wohltuend bemüht, die menschlichen Probleme in voller Übereinstimmung mit der musikalischen Diktion als wichtiges Element der Handlung voll ausspielen zu lassen.

Die Figur des Hans Sachs wurde in der Besetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau zum vielbejubelten Mittelpunkt des Abends. Seine schauspielerisch höchst sparsame, doch immer präsente Gestaltung, seine sängerisch wie selbstverständlich wirkende Souveränität, erreichten ein Höchstmaß individueller Darstellung. Neben ihm konnte sich Gerd Brenneis als Junker Stolzing am überzeugendsten behaupten. Sein klug geführter, kraftvoll sich entfaltender Tenor gab dem jungen Ritter strahlende, glanzvolle Erscheinung. Vielleicht bald ein kommender Wagner-Tenor. Leider entsprach das Evchen von Gerti Zeumer nicht den Erwartungen dieser von Wagner so zauberhaft angelegten Jugmädchenfigur mit ihrem verinnerlichten, schüchternen, doch schnell entflammbaren Gemüt. Gewiß ein reizvoller Anblick, dieses bildhübsche, fast mondäne Mädchen - aber eine Eva? Kann sie als höchster Preis dem Sieger beim Meistersingerfest begehrenswert erscheinen, wenn gerade sie ihren mädchenhaften Zauber nicht mit warmtimbriertem Stimmklang in diese Figur einströmen lassen kann? Ruth Hesse, gottlob keine ältliche Jungfer, sondern jugendlich, vital, ist ein aufgewecktes Mädchen mit einem prächtigen Organ. Dem Lehrbuben David gab Horst Laubenthal mit weichem, schön klingendem Tenor eine quicklebendige Gestalt. Als Überraschung gab Ernst Krukowski seinem Beckmesser, frei von jeglicher billigen Karikatur, eine ihm gemäße Würde und den sauren Eifer des regelbesessenen Merkers in der Singschule.

Sehr vorteilhaft gelingt dem Atelierfachmann Beauvais die stimmungsvolle Ausleuchtung der von Jan Schlubach geschaffenen Bühnenbilder, von denen das des zweiten Aktes mit der Realistik der verwinkelten Gäßchen Alt-Nürembergs, seinen heimeligen Bürgerhäusern mit Erkern, Lauben, Treppen, Brunnen sowie die mit Menschenmassen sich über und über anfüllenden Festwiese schon beim Aufgehen des Vorhangs jubelnd beklatscht wurde. Die von Barbara Bilabel entworfenen Kostüme waren Nostalgie weckende Prachtgewänder, fast zu kostbar für wohl vermögende, doch schlichte Nürnberger Bürger. Für die Prügelszene und den Aufmarsch der Zünfte auf die Festwiese wurde Jörg Schmalz als choreographischer Mitarbeiter herangezogen. Er schuf mit den mitten in der Johannisnacht aus dem Schlaf aufgescheuchten, nachtbehemdeten, aufgebrachten Bürgern eine wüste Szene von nahezu Breughelscher Deftigkeit und aus dem Aufmarsch der Zünfte im letzten Akt einen köstlichen, farbenprächtigen, lebendigen und wirkungsvollen Höhepunkt für das den Spaß an der Freude mit Augen und Ohren genießende Publikum.

Die vielen anderen Meister fielen hinter den Protagonisten leider zurück, unter ihnen Peter Lagger als reicher Goldschmied Pogner, prächtig gewandet und imposant, der jedoch stimmlich nicht zu seiner besten Form zu finden vermochte. Der Chor unter der Leitung von Walter Hagen-Groll war in seiner vielfach aufgespaltenen Verteilung präzise und doch geschmeidig, von herrlicher Klangfülle, so daß er mit ausgiebigem Applaus gefeiert wurde. Eugen Jochum kam wohl anfänglich mit der Akustik des Hauses nicht zurecht. Viel zu schwerfällig und massiv geriet die Ouvertüre und der erste Akt zu breit. Erst von der Schusterstube an, mit Sachs’ Wahn-Monolog, kam das Orchester zu einer, den Sängern flüssiger und differenzierter assistierenden Musizierweise. So endete das Meistersingerfest mit frenetischem Jubel und Bravos von fast halbstündiger Dauer, bis das Publikum das Haus in Hochstimmung verließ.

Johann Friedrich Hasse

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   Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, Unterhaardter Rundschau,   
    20. März 1976
     

Glanzvolle "Meistersinger" in Berlin

Gelungene Debüts: Peter Beauvais als Opern-Regisseur - Fischer-Dieskau sang erstmalig den Hans Sachs

    

Als am 1. April 1870 erstmals Richard Wagners "Meistersinger von Nürnberg" an der damaligen königlichen Hofoper in Berlin aufgeführt wurden, inszenierten die Anti-Wagnerianer an der Spree einen handfesten Skandal. Als Wagnerenkel Wieland sie zuletzt als Weihnachtspremiere im Dezember 1962 mit einigen neuen Akzenten versehen an der "Deutschen Oper Berlin" mit Greindl, Beirer, Schmitt-Walter, Grobe, Pilar Lorengar und Sieglinde Wagner herausbrachte, war man interessiert und beifallsfreudig, obschon es auch einige Verwunderung gab. - Jetzt wurde die Oper in drei Aufzügen sozusagen neu aufgelegt. Als Regisseur hatte man sich den erprobten Fernseh- und Schauspielregisseur Peter Beauvais geholt, einen Mann der leisen, intensiven Regieanmerkungen und der bei diesem Openregiedebüt überraschend gut einschlug.

Peter Beauvais nahm die Handlung klug in den Steigerungsmomenten auf, führte die Sänger mit großem Feingefühl und nutzte geschickt alle vorhandenen dramaturgischen Hilfsmittel. Sogar die oft problematischen Chorszenen gelangen in den überaus exakten, freundlich eingestimmten Bühnenbildern Jan Schlubachs, die nürnbergische Idylle auf die Bühne zauberten. - Eugen Jochum am Dirigentenpult, holte - nachdem anfänglich manches überdimensional geklungen hatte - alles an musikalischen Wirkungen aus der Oper heraus.

Erstmals singt den Hans Sachs Dietrich Fischer-Dieskau. Er bestimmt und akzentuiert denOpernabend. Dies ist kein alternder Meister, sondern einer, der mitten im Leben steht, der über ein gerüttelt Maß an Lebenserfahrung verfügt aber jung genug, um dem Ritter ein ernsthafter Konkurrent zu sein. Fischer-Dieskau versteht es, auch dem Opernschluß das überbetonte nationale Pathos zu nehmen und singt den Part mit der schönen Mahnung "Verachtet mir die Meister nicht" in eine höhere Bedeutung hinüber. Dieser Hans Sachs Fischer-Dieskaus bleibt der strahlende Mittelpunkt. Darstellerisch und gesanglich hielten die Eva der Gerti Zeumer und die Magdalene der Ruth Hesse ihre Rollen über fünf Stunden beeindruckend durch. Den Stolzing, durch Gerd Brenneis mit schönem Stimmvolumen vorgetragen, hielt die Regie offenbar in seiner Beweglichkeit merkbar zurück. Güte, Würde und Einfühlungsvermögen zeichnete Peter Laggers Veit Pogner aus. Horst Laubenthal gab dem David reizvollen gesanglichen Umriß - allerdings weniger Jugendfrische. Ernst Krukowski, für seinen Kollegen Murray kurzfristig eingesprungen, sang bravourös und ohne jeden Anstrich ins Karikaturhafte den Beckmesser, ja, er lieh ihm einen Hauch von Einsamkeit.

Eine Vielzahl weiterer Partien gehören zu dem abgerundeten begeisternden Abendeindruck. Nicht zu vergessen die von Walter Hagen-Groll eindrucksvoll einstudierten und glänzend vorgetragenen Chöre. - Berlins neue "Meistersinger" sind eine Reise an die Spree wert!

Heinz Grothe

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   Nordsee-Zeitung, Bremerhaven, 16. März 1976      

Grenzenloser Jubel

Ganz realistisch: Wagners "Meistersinger" in der Deutschen Oper Berlin

   

Der Jubel kannte keine Grenzen, als in der Deutschen Oper Berlin sich der Vorhang über Nürnbergs Festwiese senkte. Wieland Wagner hatte 1962 zuletzt die "Meistersinger von Nürnberg" inszeniert, Peter Beauvais machte jetzt die totale Kehrtwendung. Fort von jeder Abstraktion hatte er sich von Jan Schlubach ein Alt-Nürnberg bauen lassen, das auch Richard Wagners Wohlgefallen gefunden hätte.

Realistischer ging’s kaum noch: war die Katharinenkirche noch von schlichter Erhabenheit, so waren im zweiten Aufzug die mittelalterlichen Gassen fast schon realistisch überzeichnet, da stimmte alles, von dem Fliederbusch an Sachsens Haus bis zu den im Mondlicht glänzenden Dachschindeln, die Schusterstube war wohl etwas überdimensioniert, stimmte aber in ihrem Aufriß korrekt mit dem äußeren Bild des vorangegangenen Aufzuges überein. Bei offenem Vorhang verwandelte sich dann die Szene in die Festwiese, leicht ansteigend mit links und rechts einrahmenden Bäumen; hier wie bereits zu Beginn des zweiten Aufzuges quittierte das Publikum die Bilder mit prasselndem Beifall.

Beauvais wollte nach eigener Bekundung für ein modernes Publikum nachzuvollziehende Menschen auf die Bühne stellen, auf realistische Weise das ungeheure psychologische Gewebe, die Motivation der Personen vor allem, herausarbeiten. Das ist ihm vollauf gelungen. Jeden einzelnen der Meister hatte er genauestens charakterisiert, allen voran Hans Sachs, den Dietrich Fischer-Dieskau erstmals sang.

Dieser Sachs war kein alter, Lebensweisheit ausstrahlender Mann, er war noch jung genug, um dem Ritter ein ernsthafter Konkurrent zu sein. Darstellerisch wie stimmlich ließ Fischer-Dieskau keinen Wunsch offen, das deutschtümelnde Pathos seiner Schlußansprache überspielte er grandios in einer Art persönlicher Ansprache mit dem stolzen Ritter. Vom ersten bis zum letzten Auftritt blieb Fischer-Dieskau der strahlende Mittelpunkt.

Ihm nicht immer ebenbürtig waren die übrigen Solisten: Gerd Brenneis als Stolzing, Gerti Zeumer als Eva, Ruth Hesse als Magdalena, Horst Laubenthal als David, Ernst Krukowski als Beckmesser, Peter Lagger als Pogner und Gerd Feldhoff als Kothner. Die Lehrbuben und wie später auf der Festwiese die Zünfte und die Nürnberger Bürger hatte Beauvais gut in Bewegung gehalten, fast des Guten zuviel, wenn aus dem Tanz der Lehrbuben eine allgemeine Schunkelei wird.

Am Pult saß Eugen Jochum, das Orchester war blendend aufgelegt, wenngleich die Solisten von ihm sich manchmal etwas Zurückhaltung sicher gewünscht hatten. Der Schlußbeifall galt uneingeschränkt allen Beteiligten, ein dickes Sonderlob wieder einmal mehr dem hervorragenden Chor unter der Leitung von Walter Hagen-Groll.

Hans Ulrich Kersten

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   Reutlinger General-Anzeiger, 19. März 1976      

Kein Raum für nationales Pathos

Fischer-Dieskau als "Meister" Hans Sachs - Differenzierte Chöre

    

Dietrich Fischer-Dieskau (50) gibt ein aufregendes, in Stimme und geistiger Durchdringung der Figur hinreißendes Rollendebüt. Der Bariton singt und spielt zum ersten Male den Hans Sachs in einer musikalisch-szenischen Neueinstudierung von Richard Wagners einziger Musikkomödie "Die Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper Berlin, die Wieland Wagners Berliner "Meistersinger"-Inszenierung von 1962 ablöst. Für die Premiere gab es einhelligen stürmischen Beifall eines begeisterten Publikums, das Fischer-Dieskau mit Ovationen und Bravorufen überschüttete.

Der Erfolg der von Eugen Jochum al fresco dirigierten Neuaufführung beruht einerseits auf einem Irrtum, zum anderen aber auf ihrer Lebendigkeit und gesanglich-darstellerischen Intensität, die während der bis in die mitternächtliche Stunde dauernden Vorstellung nicht nachläßt. "Nürnberg ist wieder da" - so ließe sich der Sonderapplaus für die braungetönte Szenerie des zweiten Aktes mit seinen Treppen und winkligen Gassen zwischen behutsam vergammelt wirkenden mittelalterlichen Häusern und für das Breitwand-Panorama einer ansteigenden Waldlichtung im Finale interpretieren.

Offenbar werden die restaurativen Elemente der die Vergangenheit wiederentdeckenden Ausstattung (Bühnenbild: Jan Schlubach, Kostüme: Barbara Bilabel) beklatscht. Aber Peter Beauvais zielt in seiner dritten Opernregie bei aller historischen Detailtreue auf die menschliche Komödie mit psychologischer Vertiefung. So wird auch dem nationalen Pathos der Festwiese kein Raum gegeben.

In Übereinstimmung mit der szenischen Interpretation klingen die von Prof. Walter Hagen-Groll einstudierten Chöre nie bombastisch, stets differenziert in ihrer Vielstimmigkeit.

Genau der richtige Protagonist dieser Inszenierung ist Fischer-Dieskau. Er offenbart sich als ein aus der Kleinbürgerwelt herauswachsender philosophischer Kopf, der

"überall Wahn" erkennt, aber mit der Weisheit des Herzens das Spiel lenkt.

Ingvelde Geleng/dpa

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