Zum Konzert am 24. Oktober 1975 in New York


Mannheimer Morgen, 5. November 1975

Musikalisches Präsent für die Vereinten Nationen

Uraufführung der Kantate "An die Nachgeborenen" von Gottfried von Einem in New York

Je schlechter die Generalprobe, um so besser die Premiere. Dieser für das Theater gültige Aberglaube hatte seine musikalische Variante: die Delegation Israels rügte das Ausmerzen eines Psalmenverses in dem für die Vereinten Nationen komponierten Chorwerk "An die Nachgeborenen" des Österreichers Gottfried von Einem. Nichts sei ihm ferner gelegen als den Bibeltext zu ändern, so der über den Einspruch sichtlich bestürzte Komponist. "Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht" - der vierte Vers des 121. Psalms - sei in Einems deutscher Bibel aus dem Jahre 1781 nicht enthalten gewesen. Man nahm einen Neudruck des für den "Tag der Vereinten Nationen" vorbereiteten Programmheftes vor - und siehe da, auch der die Kantate einleitende 90. Psalm war nicht vollinhaltlich vertont. Niemand protestierte dagegen, daß von siebzehn Versen bloß dreizehn verwertet wurden. Und der von einem Teil der amerikanischen Presse entfesselte Sturm im Wasserglas legte sich völlig, als der der "Bibelschändung" verdächtigte Komponist den Sängern der Temple-Universität (Philadelphia), die an der Erstaufführung der Kantate mitwirkten, ein neues Chorwerk, "Der Hüter Israels" betitelt, zu liefern versprach.

Spezieller Dank der UNO galt der Stadt Wien; sie hatte auf eigene Kosten die Wiener Symphoniker und deren Chefdirigenten Carlo Maria Giulini nach New York entsendet sowie die solistische Mitwirkung von Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Hamari möglich gemacht. "Globale Kulturpropaganda" - wurde doch die Uraufführung der Kantate vom amerikanischen Fernsehen für weltweite Ausstrahlung aufgezeichnet.

Bertolt Brechts dreiteiliges Gedicht "An die Nachgeborenen" ist als Kernstück des nach ihm betitelten, 45 Minuten dauernden Opus dem Mezzosopran anvertraut. Es wird (in den Werksegmenten III und V) von zwei Hölderlin-Gedichten ("Geh unter, schöne Sonne" und "An Diotima") für Bariton umrahmt. Diese drei den Solisten - teils liedhaft, teils arienmäßig - zugeteilten Werksegmente verbinden kurze Orchestersätze mit vier "Außenringen". Die vom Mittelpunkt am entferntesten gezogenen Kreise, also Alpha und Omega des Ganzen, sind Vertonungen der eingangs erwähnten Psalmenverse, einmal für gemischten Chor, dann auch die Solostimmen mitumschließend. Die Verbindungsbrücken, die Teile II und VI, lieferte Sophokles: zum ersten mit einem Chorgesang aus der "Antigone", zum zweiten mit einem aus "Oedipus auf Kolonos", welcher, analog zm Psalmen-Finalsatz, auch Passagen für die Solisten enthält.

Einems Absicht, mit dieser deutsch textierten Kantate der Menschheit eine Heilsbotschaft, ein neues Hoffen auf wahre Nächstenliebe, den Glauben an eine bessere Zukunft zu verkünden, mag sich der multinationalen Zuhörerschaft der Uraufführung nicht völlig erschlossen haben. Gewiß kann man seinem gesprächsweise erteilten Hinweis auf Benjamin Brittens "War Requiem" beipflichten, das "selbstverständlich in der englischen Muttersprache dieses Komponisten textiert und dennoch überall verstanden worden ist"; ebenso der Erklärung, daß Sprache durch Musik "einen allgemein verständlichen Ausdruck" erhalte.

Im übrigen waren die Texte im Programmheft in deutscher, englischer und französischer Sprache angeführt. Aber wurde damit der Sinn der Hölderlin-Verse, der Exzerpte aus den Dramen des Sophokles einer nicht vollzählig mit europäischem Geistesgut vertrauten Zuhörerschaft entschlüsselt? Das Grundthema des Werkes - die Darstellung des Menschen in seinem abgründigsten, schier ausweglosen Elend - dürfte nicht allein der Mentalität des pragmatisch denkenden Amerikaners, sondern auch der Einstellung und dem religiösen Empfinden manches anderen Nichteuropäers fremd sein. Von der Musik schien dagegen niemand überfordert gewesen zu sein. Ein prinzipiell sich nicht als Neutöner aufspielender Geist, bleibt Einem auch diesmal allen "schaumäßig" gebastelten Klangexzessen fern, gibt der menschlichen Stimme das, was sie produzieren kann, und nichts, was sie strangulieren könnte. Er zeigt große Könnerschaft als ehrlich empfindender Melodiker, als ein Mann mit sicherem Gespür für die Klangvaleurs jeder einzelnen Intrumentalstimme.

Das mit einer funkelnden Wiedergabe von Beethovens siebenter Sinfonie zu Ende geführte Festkonzert trug allen Mitwirkenden langen, lauten Beifall ein. Auch der Kantate war eine sehr sorgfältige Einstudierung zuteil geworden; Giulini vermochte den lyrisch-herben Phasen des Werkes Transparenz abzugewinnen, den dramatischen Teilen den Auftrieb gebändigter Lust am Monumentalen; oftmaliger Rhythmuswechsel und Verfallen auf hektisch skandierten Chor-Sprechgesang bildeten für das Orchester und für die ebenso prächtig trainierte Sängerschaft keine wie immer gearteten Schwierigkeiten.

Robert Breuer

zurück zur Übersicht 1975
zurück zur Übersicht Kalendarium