Zum Liederabend am 18. Juli 1975 in München


    

     Münchner Merkur, 21. Juli 1975     

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend

Kuckucksruf und Fischpredigt

     

Ob es ein Zufall war, daß in diesem ausverkauften ersten Liederabend dieser Festspiel-Saison (im Herkulessaal) die Einheimischen, die Deutschen das Feld beherrschten? Ich glaube nicht. Die Verbindung "Des Knaben Wunderhorn"/Mahler/Fischer-Dieskau bedingt einen speziallen intellektuell-ästhetischen Anspruch, zu dem sich offensichtlich viele bekennen, die sonst hier nicht anzutreffen gewesen wären.

Der Ausländer aber, dem der unübersetzbare Begriff "Lied" etwas bedeutet, sieht sich bei diesen Werken von vornherein einem zweifach gebrochenen Verhältnis konfrontiert: dem Mahlers zur Volkspoesie und zum Musikalisch-Folkloristischen, das er liebte, dem er dennoch eben nicht ohne unterschwelligen Zweifel, ohne Ironie beikam. Zum andern aber die Interpretationspersönlichkeit Dietrich Fischer-Dieskaus, die bei meisterhafter – manchmal kaum zu übertreffender – Formung und Gestaltung dieser Lieder nicht unreflektiert zu erfassen vermag, das Artifizielle in ihnen also auch erst wieder als Sänger-Darsteller interpretierend umformen muß.

Wie gut ihm das gelang, gehört zum Staunenswertesten an diesem unvergeßlichen Abend. Da hat jeder Kuckucksruf seine bestimmte, gestaltende Funktion. Und der skurrile Humor in "Des Antonius von Padua Fischpredigt" gelang so ungeziert, wie man dies Fischer-Dieskau auf der Opernbühne oft wünschen würde. Auch alle Manierismen seines Vortrags waren zurückverwandelt in notwendige und treffende Akzentuierungen, seine Stimme sprach glänzend an und war von runder Fülle.

Wolfgang Sawallischs Partnerschaft am orchestral-voluminösen Flügel (einem Bösendorfer, entgegen der Programm-Ankündigung) muß man als kongenial bezeichnen. Daß die latenten Marschrhythmen und die nachgeformten Signale nicht realistisch zum Zuge kamen, was den Intentionen des Komponisten durchaus entsprochen hätte, berührt wohl eine grundsätzliche Einstellung zur Mahler-Interpretation.

Insgesamt enthielt das Programm 15 "Wunderhorn"-Lieder, durchweg Zeugnisse liedschöpferischer Genialität – eine Anthologie beinahe, und doch nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Werk eines immer noch unpopulären und weitgehend unbekannten großen Komponisten.

Karl Robert Brachtel

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     Südeutsche Zeitung, 22. Juli 1975     

Höhepunkte aus der Festwochenfülle

Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und James Galway

    

"Mutter, ach Mutter, es hungert mich. Gib mir Brot, sonst sterbe ich!" jammert ein Kind – unheimlich bewegt. Die Mutter verspricht denn auch, zu ernten, zu dreschen, Brot zu backen, während das Kind immer heftiger klagt. Ende vom Lied: "Und als das Brot gebacken war, lag das Kind auf der Totenbahr’!" Diesen verzweiflungsvollen Text hat Gustav Mahler aus der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" entlehnt. Bei Arnim und Brentano heißt er, höchst berechtigt, "Verspätung". Hilfe, die nicht zur rechten Zeit kommt. Bei Gustav Mahler hat das Lied eine umfassendere, weitreichendere, wenn man so will, theologischere Überschrift, nämlich: "Das irdische Leben". Wäre demnach das irdische Leben so eingerichtet, daß niemand niemandem helfen kann, weil man sterben muß, bevor man vom Brot des Lebens gegessen hat?

Genau davon tönen Gustav Mahlers Lieder. Durch die melodische Hülle schaut man in metaphysische Finsternis. Volksliedhafte Vorwände werden vom Ausdruck und von Verzweiflung aufgezehrt. Übrig bleibt, manchmal, das bare Nichts. Und das bare Dur. Mit Trost hat es wenig zu tun. Ob da unglückselige Tambourgesellen dem Galgen entgegengehen oder Deserteure zu Straßburg auf der Schanz’ die Hinrichtung erwarten oder die Gebeine Gefallener sich erheben: die Opfer machen ihren Henkern keine Vorwürfe, Mahler greift nicht die Gesellschaft an, sondern die gottlose Welt, in der Gott so etwas zuläßt. Was für eine finster-säkularisierte jüdische Theologie! Mahler selber hielt es ja leidensstolz, oft eher mit den Großen als mit den Kleinen. Bei der berühmten Auseinandersetzung zwischen Friedrich dem Großen und dem Müller von Sanssouci stellte er sich auch auf die Seite Friedrichs von Preußen ... Als Musiker wußte er, was Störung durch Müller-Lärm bedeuten kann!

Solche Gedanken und Assoziationen mußten einem bei dem aufregenden Mahler-Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau durch den Kopf gehen. Der Künstler verzichtete nämlich darauf, mit einem todsicheren Programm zu brillieren, ja er wählte nicht einmal Mahlers bekanntere Zyklen ("Lieder eines fahrenden Gesellen"; "Kindertotenlieder"), sondern trug Unbekanntes und Halbbekanntes, beziehungsweise Sentimentalisch-Verkanntes von Mahler vor. Es war ein brütend heißer Abend. Man spürte manchmal, daß die Stimme in der Piano-Höhe nicht mehr so leicht ansprach wie früher. Und man spürte natürlich auch, daß der hochintelligent und verhalten-durchsichtig begleitende Wolfgang Sawallisch kein "Pianist" ist, sondern, als Begleiter, gewiß teils mehr – teils auch etwas weniger. Sein Anschlag ist ein wenig spröde. Doch das waren wirklich nur recht unwichtige Begleiterscheinungen eines wahrlich originellen Konzertes.

Übrigens, verglichen mit den großen Liedern großer Liedmeister, haben Mahlers Lieder eine schwer definierbare Schwäche. Sie bestehen nämlich teils aus sentimentalisch reduzierten Volksliedmelodien, teils aus Katastrophe. Melodien werden vom Ausdruck, von messianisch tönender Verzweiflung aufgezehrt. Doch zwischen diesen beiden Polen findet zu wenig Musik statt. Die Entfaltung der Musiksprache weicht der Volksliedsüße oder der Verzweiflung. Das macht die Lieder teils hysterisch, teils ergreifend. Aber sie kommen nur dann wirklich zwingend heraus, wenn der Interpret, wie Fischer-Dieskau es wohl wagte, ausdrucksmäßig an die äußerste Grenze geht. Ihre Übertreibung ist ihre Wahrheit. Nicht zufällig gelangen die harmloseren Stücke ("Wer hat dies Liedlein erdacht", "Rheinlegendchen") weniger gut.

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Joachim Kaiser

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     Abendzeitung, München  21. Juli 1975     

Herkulessaal:

Jubel für Fischer-Dieskau

    

Mit jubelndem Beifall bedankte sich das Publikum bei Dietrich Fischer-Dieskau für zwei Stundern ernster und großer Mahler-Interpretation. Am Flügel: Wolfgang Sawallisch (Herkulessaal).

Die Lieder Gustav Mahlers sind Keimzellen seines gesamten sinfonischen Schaffens, nicht etwa als melodische Vorstudien, sondern durch ihre Tendenz zur gedanklichen wie musikalischen Expansion. Dies dem Publikum plausibel zu machen, hat Wolfgang Sawallisch allein dem Sänger überlassen. Mit akkurater Zuverlässigkeit hielt er sich als Begleiter dezent im Hintergrund. Die Trommelwirbel-Imitation des Tambourgesellen in aschfahles Grau zu kleiden, klingt noch nach Interpretationsabsicht, wenn aber hierauf keine Entwicklung folgt, wenn Partituranweisungen (wie Trompetenmusik) übergangen werden und sich alles auf einer dynamischen Ebene abspielt, oder wenn so betörend traurige Töne wie das Alphorn einfach matt klingen, dann bleibt von Mahlers Musik nur noch die Hälfte übrig.

Vielleicht hätte sich Fischer-Dieskau einen Pianisten wählen sollen, der nicht nur ein Lied wie "Revelge" technisch beherrscht, sondern auch über gleiche dynamische Reserven verfügt (der Bösendorfer hätte bedenkenlos ganz geöffnet werden können). Die Expansionsfähigkeit des Sängers nämlich beschwor ein erschütterndes Liederabend-Erlebnis herauf: Sinfonische Wucht und lyrische Zartheit, wie sie oft in einer einzigen Strophe hart aufeinanderprallen, wurden gebunden in einen ernsten und tiefen Zusammenhang. Niemals trat der poetische Volkston, der alle diese Lieder durchzieht, über die Ufer; Fischer-Dieskau sparte mit Pathos wie mit Sentiment. Trauer, Glück, Sehnsucht und Todesangst standen schmucklos, aber in ihrer ganzen Gewalt nebeneinander. Das war große Gesangskunst – und beglückendes Mahler-Verständnis.

Rüdiger Schwarz

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     tz, München  21. Juli 1975     

Konzert als Höhepunkt

Liederabend Fischer-Dieskau

    

Wie richtig, daß aus den Opernfestspielen von einst schlichte Münchner Festspiele geworden sind. Denn einer der wirklichen Höhepunkte dieses Jahres fand im Konzertsaal statt. Wir verdanken ihn Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem Begleiter Wolfgang Sawallisch und ihrer exemplarischen Wiedergabe von Gustav Mahlers Liedern aus "Des Knaben Wunderhorn".

Dabei gab es zu Beginn, im Rheinlegendchen, einige Momente der Besorgnis: Klang’s da nicht allzu betulich wie vom lieben Onkel, der den Kinderlein von der heilen Welt erzählen will? Doch der folgende Tambourgesell verscheuchte alle Einwände.

In den letzten Jahren hatte Fischer-Dieskau zuweilen die Manier, dem Wort im Lied Vorrang vor der Melodie einzuräumen: Flucht vor den Abnützungserscheinungen der Stimme? Wenn dies das Wort Krise rechtfertigt, so hat sie der fünfzigjährige Sänger voll überwunden.

Betörendes Piano, strahlendes Forte, das unvergleichliche Schwellenlassen der Töne, der große Atem ("auf grüner Heide") – alles ist wieder da. Ausdruckskraft, musikalische Intelligenz, sicherer Geschmack: Eine Jahrhundertstimme präsentiert sich wie eh und je.

Münchens Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch, dessen Begleiterqualitäten so bekannt sind wie sein Sinn für die Spätromantik, übertraf in manchen Liedern noch die ohnehin hohen Erwartungen.

Dankbarer, langer Jubel, der nach drei Zugaben fast erpresserische Ausmaße annahm.

H. R.

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     Mittelbayerische Zeitung, Regensburg  23. Juli 1975     

Mit Stimmkultur und Intelligenz

Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey sangen bei Liederabenden in München

    

Der eine ist ein Intelligenzsänger, der durch sein vokales Deuten besticht, der andere kann mit vokalem Glanz, mit Emphase und Gefühl auftrumpfen: So vordergründig lassen sich die beiden deutschen Baritone mit Weltgeltung, Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey, einordnen. Zwei Tage nur lagen ihre Liederabende bei den Münchner Festspielen auseinander und gaben so klangnahe Vergleichsmöglichkeiten.

Fischer-Dieskau und Mahler-Lieder – eine ideale Kombination. Da sind in der Komposition Doppelbödigkeit und Brüche, im Text gezielte Schlichtheit und Anspielungen bereits vorhanden. Entsprechend legte es der Sänger gar nicht darauf an, "zu faszinieren", "dieskauisch" tief zu deuten. Frisch und ausgeruht wirkend kam er auf das Podium des Herkulessaals und sang ungekünstelt 15 Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn".

Schon der lockere Einstieg mit "Ablösung im Sommer" ließ über die farbig, flexibel und voluminös klingende Stimme staunen, Eigenschaften, mit denen Dieskau in dieser Paarung sonst nicht beeindrucken kann. Dazu trat die typische deklamatorische Intensität, das geistige Feuer. So wuchs dem "Tamboursgsell" bitterer Ernst ohne Kunstfeierlichkeit zu, das "irdische Leben" tönte von blinder Geschäftigkeit. Dieskau mußte nichts hineinlegen, er konnte ganz darstellend singen: von der unabänderlichen Selbstgefälligkeit in der "Fischpredigt", von Trennungsleid und dem über diese Welt hinausweisenden Schmerz über den Verlust der Geliebten ("Nicht wiedersehen!").

Nach der Pause klang die Stimme noch voller und wärmer. "Revelge" schlug um in eine grotesk-grausige Totentanz-Parade, nach dem "Lied eines Verfolgten" gab es Einzelbeifall. So gelang sogar am Schluß die Wendung zum Humor und die ebenso feine wie scharfe Selbstironie des "Selbstgefühls" umfaßte Künstler wie Publikum. Riesenbeifall und drei Zugaben.

Wolfgang Sawallisch begleitete Fischer-Dieskau und man hätte seine Begleiterfähigkeiten noch weit mehr bewundert, wäre nicht zwei Tage später Leonard Hokanson auf dem gleichen Stuhl gesessen: ......

Wolf-Dieter Peter

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     Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger   
    1. August 1975     

Neuer Versuch mit "Idomeneo"

Rückblick auf die Münchner Opernfestspiele

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Unalltägliches in Liederstunden

[...]

Nicht alltäglich zu Hörendes bot auch Dietrich Fischer-Dieskau – an den Opernaufführungen als Amfortas und drastisch vitaler Falstaff beteiligt – mit einem Gustav Mahler gewidmeten Abend. Das Programm brachte fünfzehn Lieder nach Texten aus "Des Knaben Wunderhorn"; sie sind alle Zeugnisse der eigentümlichen Vorliebe des Komponisten für diese deutschen Volksdichtungen, deren schlichten Ton er mit nachgefühlt "naiv" gehaltenem Melos in oft unvergleichlicher Weise musikalisch zu treffen verstand; vor allem aber bewegen die ernsten, von Liebesleid und Soldatennot und –tod kündenden Stücke dieser Liederfolge, durch ihre schmerzlich-innigen, gramvoll-trotzigen und traurig-trostlosen Ausdruckszüge. Zu einem verzaubernden Höhepunkt dieses mit unvergleichlich feinnerviger Gesangs- und Textcharakterisierungskunst gestalteten Konzerts wurde – neben anderem, auch Heiterem - die ergreifende Darstellung des "Nachtlieds der Schildwache". In Wolfgang Sawallisch hatte Fischer-Dieskau einen pianistisch meisterlichen, jedoch etwas trocken, mit zuwenig Klangphantasie musizierenden Begleiter am Flügel.

Anton Würz

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     Schwäbische Zeitung, Leutkirch,  1. August  1975     

König Midas – guter Kumpel – Wunderprediger

Konzerte von Dietrich Fischer-Dieskau , Hermann Prey und Kieth Engen bei den Münchner Opernfestspielen

   

Die Staatsoper München hat zu den Opernfestspielen auch dieses Jahr wieder die großen drei Liedersänger in Konzerten präsentiert: Dietrich Fischer-Dieskau und zwei Tage später Hermann Prey im Herkulessaal der Residenz, dann den Bassisten Kieth Engen in einer Matinée im Cuvilliéstheater.

Fischer-Dieskau sang, mit Wolfgang Sawallisch am Flügel, Lieder von Gustav Mahler, nicht die bekannten Zyklen, die das Publikum von ihm erwartet, sondern die herben, teilweise dramatisch anklagenden, weniger bekannten Gesänge aus "Des Knaben Wunderhorn". Gleich als zweites das todtraurige Lied vom Tambourgesell, der den Galgen fürchtet, dann auch das hier als "Irdisches Leben" betitelte Lied vom Sterben des hungernden Kindes, das die Mutter vergeblich um Brot bittet, später dann die sarkastische Weise vom Antonius von Padua, der den Fischen predigt, und "Zu Straßburg auf der Schanz". Diese und die vielen anderen tiefernsten, schier verzweifelten Gesänge, melodisch höchst kostbar, kompositorisch wohl die erste Bewußtseinsanalyse des modernen Menschen in Tönen; die Ruhelosigkeit, das Ahasverische, den jähen Wechsel der Stimmungen, der sich in jagenden Kontrasten, im skrupellosen Nebeneinander der Gegensätze formuliert, - all das typisch "Mahlerische" wußte Fischer-Dieskau in einer bei diesen Liedern bisher unbekannten Vortragsart zu gestalten, enegiegeladen, heldisch in der Tongebung, unerbittlich herb im Ausdruck. Die Lieder bewegen sich bevorzugt in der tiefen Lage, so daß der Sänger das tiefe Register mehr gebrauchen mußte als seine seraphisch schöne Tenorlage, viel mehr Forte als das bewunderte Piano. Aber Fischer-Dieskau ist sozusagen der König Midas unter den Sängern, dem alles zu Gold wird, was er vorträgt. Sawallisch setzte seine ganze pianistische Kunst ein, auf jede Vortragsnuance im Klavierpart im richtigen Geist zu reagieren.

[...]

Eckart Fricke

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