Zum Konzert am 21. April 1975 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 23. April 1975

Atzmon mit dem NDR-Orchester

Das NDR-Sinfonie-Orchester zeigte sich bei seinem Gastspiel in der Philharmonie glänzend disponiert. In Moshe Atzmon, dem Nachfolger Schmidt-Isserstedts, hat es einen guten, interpretatorisch attraktiven Chefdirigenten gewonnen. [...]

Einen starken persönlichen Erfolg holte sich als Solist des Abends Dietrich Fischer-Dieskau mit den "Liedern eines fahrenden Gesellen" von Gustav Mahler. Jugendlieder, von Mahler selbst betextet, zwischen Wunderhorn und Schubert: Fischer-Dieskaus Interpretation ließ spüren, was unwiederbringlich ist, um so mehr aber, was die reifere, mit der Seele singende Musikerpersönlichkeit in die frühen Stücke hineinzuholen vermag: den ganzen Mahler.

S. M.

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     Spandauer Volksblatt, 23. April, 1975      

Gallebitterer "Fink"

Philharmonie: Fischer-Dieskau und Moshe Atzmon

    

Der lustige Fink, der dem fahrenden Gesellen einen guten Morgen wünscht, ist bei Dietrich Fischer-Dieskau ein gallebitterer kleiner Kerl. Höhnisch verzerrt schnarrt er dem Wanderer sein "Wird’s nicht eine schöne Welt?" entgegen. Der Gegensatz zwischen der erwachenden Natur an einem Frühlingsmorgen und dem traurig Liebesenttäuschten, der übers Feld geht, wird damit zusätzlich belastet.

Ob diese Komplikation "richtig" ist, darf hier offenbleiben. Sie zeigt jedoch beispielhaft die intelligente Durchdringung, der Fischer-Dieskau seine Programme aussetzt. Die Stille des Wehs, eine seelische Verwundbarkeit, die sich in die Sehnsucht rettet, in ihr zum Ausdruck findet - Eigenarten Gustav Mahlers, die in den frühen "Liedern eines fahrenden Gesellen" schon voll ausgeprägt sind - finden bei diesem Sänger kongeniale Erfüllung. Wenn deklamatorisch diesmal nicht alles zu verstehen war, geht das auf Kosten der unflexiblen Begleitung. Manchmal deckte das Orchester die Singstimme zu.

Im "Don Juan" von Richard Strauss hatten die Musiker des NDR-Sinfonie-Orchesters zuvor Präzision und schwellenden Schönklang erkennen lassen. Sie legen sich nur oft zu bravourös ins Zeug. Vielleicht eine Reaktion auf die etwas gleichförmige Art ihres Chefs Moshe Atzmon? Bei Brahms, der die Verhaltenheit schlechthin ist, fand sich leider beides zu fragwürdigem Bund. Die musikalischen Charaktere der

1. Symphonie hoben sich weder in der Zeichengebung noch in der musikalischen Ausführung deutlich voneinander ab. Dem Beifall der vollbesetzten Philharmonie dankten die Gäste mit einem slawischen Tanz von Dvorák.

Hans Jörg von Jena

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