Zum Liederabend am 3. April 1975 in Stuttgart


     Stuttgarter Zeitung, Samstag, 5. April 1975     

Inmitten von Eichendorffs Welt

Dietrich Fischer-Dieskaus jüngster Stuttgarter Liederabend

    

Fünfundzwanzig Musikkritikerjahre: das waren immer - auf irgendeine Weise - auch Fischer-Dieskau-Jahre, ständige Begegnungen mit diesem großen Sänger, sei's anfangs in Berliner Bach-Kantaten oder in der ersten Opernrolle, dem Posa in Verdis Don Carlos", dann in ungezählten Liederabenden. die von Schubert bis Anton Webern so nahezu alles beinhalteten, was denkbar und wünschbar ist, sei's in Oratorien wie Bachs Passionen oder Brittens War Requiem, auf der Opernbühne in allen Paraderollen, den Falstaffs von Berlin, Wien und München, dem Wolfram in Bayreuth, dem Busonischen Doktor Faust (um nur ganz wenige zu nennen), sei's schließlich auch am Dirigentenpult, mit einem reinen Haydn-Programm.

Dieser jüngste Stuttgarter Liederabend im vollbesetzten Beethovensaal (welcher andere Sänger vermag ihn zu füllen?) war ausschließlich Gedichten Joseph von Eichendorffs gewidmet, in Liedern von Mendelssohn und Schumann, den komponierenden Zeitgenossen des Dichters, auch von Hans Pfitzner und Hugo Wolf, und dazwischen noch von Bruno Walter und dem heutigen Berliner Reinhard Schwarz-Schilling. Ein typisches, literarisch wie musikalisch anspruchsvolles Fischer-Dieskau-Programm, nicht nur mit allen Texten im Heft, sondern auch mit einer Huldigung des schriftstellernden Sängers an den Poeten Eichendorff. Und mit einem Musiker am Flügel, Günther Weißenborn, der die Intentionen dieses Sängers klavieristisch mitzuvollziehen versteht.

Die stilistischen Gegensätze der Musik kostete Fischer-Dieskau einerseits voll aus, von der volksliedhaften Schlichtheit in Mendelssohns "Nachtlied" bis zum burschikosen Auftrumpfen Wolfs in "Seemanns Abschied", in dem sich auch Dieskaus Stimme vor lauter Lust "schier bäumt und überschlägt"; andererseits aber kehrt er doch die erstaunlichen Gemeinsamkeiten aller Liederstile hervor, die nichts anders als ein Beweis für die bindende Kraft von Eichendorffs Poesie sind. Kehrt vom verliebten Serenadenton in Mendelssohns "Pagenlied" nicht einiges, nun mehr neckisch-komisch, in Bruno Walters "Soldaten" wieder? Tauchen nicht die fahlen Farben von Schumanns "Zwielicht" erneut in den versteinerten Klängen von Pfitzners "In Danzig" auf? Und verdichtet sich nicht alle Wortpoesie Eichendorffs in den sensiblen Liedgespinsten Hugo Wolfs, im "Nachtzauber" oder im "Nachruf"?

Fischer-Dieskau, der - unglaublich - im nächsten Monat fünfzig wird, ist jetzt als Liedersänger in einer Phase, in der er manieristisches Deklamieren nahezu ganz abgelegt hat (nur Wolfs "In der Fremde" gab ihm noch einigen Anlaß dazu), in der er sich mehr denn je auf die Kraft der Musik verläßt, also besonders nachdrücklich von den enormen Möglichkeiten seiner Baritonstimme Gebrauch macht (manchmal sogar - was bei ihm ganz neu ist - auf Kosten der Textverständlichkeit). Kein anderer Sänger verfügt über eine so reiche Palette an Klangfarben, an Nuancen des Tonfalls, an Differenzierungen des Ausdrucks. Man könnte jedes einzelne der gesungenen Lieder als Beispiel dafür anführen. Greifen wir jedoch das "Marienlied", in Musik gesetzt von Schwarz-Schilling, heraus: "Wetter, Glockenklänge, Gewitter, graue Wogen, Regenbogen, Sternenmantel" - Fischer-Dieskau verstand da alle seine Register zu ziehen, um dem Wortklang Eichendorffs mit den Tönen des Komponisten auf sensibelste Weise gerecht zu werden. Das hörend zu verfolgen, war ein Erlebnis, dem sich die zweitausend im Saale fast atemlos widmeten.

Eine ganze Serie von Zugaben folgte! Gesänge Wolfs waren von Liedern Schumanns eingerahmt, vom "Intermezzo" und - wie konnte es anders sein? - von der Inkarnation einer Eichendorff-Vertonung, von der "Mondnacht". Läßt die sich überhaupt makelloser singen?

WOLFRAM SCHWINGER

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Stuttgarter Nachrichten, Samstag, 5. April 1975

Dietrich Fischer-Dieskau sang im Beethovensaal Lieder nach Eichendorff-Gedichten

    Die Spur führt ihn nach innen

Ein Liederabend, der zur allgemeingültigen stilistischen Lektion wurde.

    

"Einer, dessen Sprache an sich schon Musik ist und die doch Töne nicht verdrängte, sondern sie eher durch ihre andeutende Zartheit zum Fortführen mit den Mitteln der Melodie und der klanglichen Anreicherung hervorlockte, war Joseph Freiherr von Eichendorff", schrieb Dietrich Fischer-Dieskau 1968. Mit einem Liedprogramm nach Gedichten Eichendorffs trat der Sänger nun im nahezu ausgebuchten Beethovensaal auf. Am Flügel der altgediente Günther Weißenborn; vor dem Flügel ein fast verklärter Troubadour.

Stetig sich verändernde Weiterentwicklung und Fähigkeit zur Wandlung bezeichnen ein Interpretenformat. Fischer-Dieskau, nunmehr leicht ergrauter Fastfünfziger, hat in den drei Jahrzehnten seiner Karriere dem deutschen Klavierlied die Welt geöffnet; er hat es der Welt plausibel gemacht. Seine Interpretationen wurden Maßstab. Und dies nicht gar der Stimme wegen, jenem zweifellos unverwechselbaren Sound, der dennoch sekundär blieb; sondern in erster Linie der Einfühlungsgabe und unvergleichlichen Beherrschung der (geistigen und technischen) Mittel wegen.

Was man im Beethovensaal erlebte, war stilistische Lektion sondergleichen eines Musikers, dem das Kunstlied zur eigenen Natur geworden ist und, der es ohne die Spur der Verbrämung auf seinen Gehalt und sein Metrum zurückzuführen vermag. Die totale Ausschöpfung wirkt denkbar mühelos; und was sich dereinst als betörendes Klangbild oder gar manieristischer Effekt darzubieten schien, ist jetzt auf schier absolute Substanz reduziert.

Eichendorffs wohltemperierte romantische Poesie hat viele Komponisten animiert. Zunächst Felix Mendelssohn-Bartholdy, dessen "Pagenlied" (neben " Waldschloß" und "Nachtlied") mit der traumhaften Schwerelosigkeit und kammermusikalischen Eleganz einer Chopin-Miniatur erklang. Danach fünf Schumann-Vertonungen ("In der Fremde", "Schöne Fremde", "Zwielicht", "Im Walde" und "Der Einsiedler" aus dem fundamentalen Liederkreis op. 39 und dem späten op. 83, die man als Herzstück deutscher romantischer Intimkunst bezeichnen darf. Was Fischer-Dieskau da an metrischer Präzision entwickelte und mit untrüglichem Kunstsinn bis auf die Urgründe imaginärer Realität erhellte, wie er die Wortdiktion mit dem Melos verband, entpuppte das wahre Wesen jener so oft verleumdeten, weil verkannten Romantik.

Fünf Eichendorff-Lieder Hans Pflitzners ("Im Herbst", "Lockung", "In Danzig", "Der verspätete Wanderer" und "Nachts") machten zweifellos viele Hörer mit Pfitzners Prägnantestem bekannt, wenngleich sich hier schon die Diskrepanz zwischen elementarer Eichendorffscher Empfindungsgewißheit und Pfitzners suchender Bemühung um jedes (schon entglittenes) Selbst- und Weltverständnis zeigt; dennoch - welch kunstvolle Sätze, aus großer Erbschaft gewoben.

Im zweiten Programmteil hörte man den Komponisten Bruno Walter, dessen Eichendorff-Lieder "Der Soldat" und "Der junge Ehemann" den hochkultivierten Mahler-Schüler auswiesen; Turbulenzen mit fein empfundenem Effekt. Fast an Pfitzners Format heranreichend drei Lieder des Kaminski Schülers Reinhard Schwarz-Schilling (geboren 1904), der mit seiner Zueignung an die Violine "Bist du manchmal auch verstimmt" eigentlich schon auf Henzes neapolitanische Lieder hinweist.

Zum Abschluß sang Fischer-Dieskau fünf Wolf-Lieder ("In der Fremde", "Nachtzauber", "Der Musikant", "Nachruf" und "Seemanns Abschied") - klingende Interpunktion, Zauber über Zauber, Entdeckung über Entdeckung; und all dies Schwere, Voraussetzungsbeladene, tausendfach Durchdachte, so einfach und aufs spezifische Maß zurückgenommen und, konzentriert in makellosem Zusammenwirken mit dem hochversierten Partner. In hinteren Sitzreihen mußte man freilich schon die Ohren spitzen, um all jenen Feinklang noch zu hören; denn akustische Zugeständnisse macht Fischer-Dieskau nicht; kann er gar nicht machen, um auf der Spur seiner Progression zu bleiben, die nach innen führt. Die Entwicklung dieses Sängers besitzt keine für uns feststellbare Parallele. Obwohl ihn die Natur keineswegs mit einem unermeßlichen Stimmaterial ausstattete, verstand er es, seine Stimme und also sich selbst vollkommen in das Kunstwerk zu integrieren, wodurch - wie an diesem Abend - eben jene Schönheiten und allgemeingültigen Lösungen entstanden, die das Publikum beglückten.

Dieter Schorr

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