Zum Liederabend am 23. September 1974 in Berlin  


  

     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. September 1974     

Der andere Mund

     

Als der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau am Montag zum zweiten Teil seines Berliner Liederabends aufs Podium kam, brachte er einen Mann mit herauf, auf den er alle Aufmerksamkeit zu lenken suchte. Der große, wahrlich glänzende Sänger, dessen leuchtendes Gesicht im Optimismus auch den Erfolg widerspiegelt, brillant gefaßt in einen Anzug, den ein himmlischer Schneider angepaßt haben muß, wies mit den Händen auf einen kleineren, älteren, ehemals wohl schnellschrittigen Mann, der die vollendete Beherrschung und elegante Wirkung des jüngeren nicht erreichte; der ältere verbeugte sich zögernd, mit einer spürbaren Hemmung, setzte sich dann ans Klavier, und es begann der merkwürdigste Liedvortrag, den man sich denken kann.

Nach den Schönberg-Liedern drängte sich im zweiten Teil des Programms durch einen gesuchten, aber immer von Gefühls- und Artikulationsstößen gebrochenen epischen Zusammenhang der Wörter etwas ganz Ungewöhnliches. Die Situation, die der Text umspielte, war die des alten Mannes, der sich beim Wein einen Trost sucht, in der Schenke aber auf eine lärmende Jugend trifft ("die Knaben machen kühnen Krach"), vor ihr allein bleibt und mit der "Spätlese" seine Lebensbilanz zieht. Der da sitzt, beim Wein, der da sitzt am Klavier, das ist der Neuerer von einst, der als Johnny der Jugend aufspielte, Skandal machte und sich nun, da die Jungen sich um ihn nicht kümmern, fragt, ob er nicht nur dem Neuen nachgerannt sei.

Der alte Klavierspieler Ernst Krenek steht beim Vortrag auf, kratzt mit dem Fingernagel über die Klaviersaiten – stützt den Ellbogen auf die Tasten: Er wiederholt – oder zitiert er? – die altgewordenen Signaturen der Avantgarde von einst. Hart stößt die Klage über den Alten hervor: "Er ist geehrt, doch unbegehrt", seine Verdüsterung bildet sich ab in den jäh abstürzenden Zeilen: "Abgeschafft ins Pantheon, degradiert zur Unperson, ein Lacherfolg im Himmelreich, ein Spottobjekt im Höllenloch", und sie endet in der antiken Klage, daß man überhaupt geboren ist, und im Warten auf das Sterben. Aber nicht dieses Biographische ist das eigentlich Erregende in diesem Moment, obwohl das Ganze wie ein Aufschrei sich anhört, der nach seiner künstlerischen Bändigung sucht.

Die Geste, mit der Fischer-Dieskau den vierundsiebzigjährigen Ernst Krenek auf das Podium zog, erhält von dieser Lebensklage her ihre sichtbare Bedeutung: Es war ein Heraufholen ins Licht, in die Welt, um die Klage vernehmbar und auch aufhebbar zu machen. Am Ende klatschte er selbst dem sich verbeugenden alten Mann Beifall. Zwanzig Minuten lang hatte der alte, sich vergessen fühlende Tonsetzer, der sich in diesem Lied zynisch, voll Lebenshaß für einen Augenblick wünscht, der Vater hätte ihn einst bei den Huren verspritzt, wieder einmal einen Mund. Der Bittergewordene sprach durch den Mund eines strahlenden, der sich vergessen Fühlende durch den Mund des Bekanntesten, der Gebeugte durch den des Aufrechten, der sich Verkümmernde aus dem des Blühendsten, der Gallige aus dem Mund dessen, um den sich die Menschen drängen, der auf den Tod Wartende aus dem Mund dessen, der sich ständig neue Lebensbezirke erschließt und dem Ruhm und Erfolg auch dieses Abends gehörten. Zwei Lebensalter, zwei Lebensbilder. Solches In- und Nebeneinander inspirierte früher die Maler.

g. r.

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     Die Welt, Berlin-West, 25. September 1974     

Spätlese – mit Vitriol

Liedzyklus Ernst Kreneks, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau

     

Was erwartet man eigentlich? Gelassenheit, Gutartigkeit, Weisheit und Milde des Alters? Aber Ernst Krenek ist mit den Jahren nicht milder geworden, gutartiger auch nicht, und denkt nicht daran, mit seinen 74 Jahren endlich Ruhe zu geben, sich anzupassen ans Alter und den Mund zu halten. Warum sollte er auch?

Sein Liedzyklus "Spätlese", Kernstück des Liederabends von Dietrich Fischer-Dieskau im ausverkauften Konzertsaal des SFB, trägt die stolze Opuszahl 218. Sie allein schon nötigt zum Respekt. Aber gerade auf diesen Respekt legt Krenek, der den Sänger selbst am Flügel begleitete, und zwar unwirsch, zupackend, voller Grimm, wenig Wert. Er ist ihn gewohnt. Die Achtung, die man ihm entgegenbringt, schmeckt ihm bitter. Er will mehr als geachtet werden. Was aber will er?

Nichts anderes natürlich will er als alle wollen, selbst diejenigen, die sich aus Gründen des guten Geschmacks hüten, es auszusprechen: er will geliebt werden, anerkannt und begehrt. Aber Ernst Krenek pfeift auf den guten Geschmack. Er schreit es in seinen selbst verfaßten Liedtexten (und in deren Komposition) heraus, daß er sich unwohl fühlt in der Gegenwart, in diesem Leben, "degradiert zur Unperson, abgeschafft ins Pantheon" – eine Denkmalsfigur der Neuen Musik, immer gewärtig, daß einer der jungen flotten Kritiker mit Wotansgeste abwinkt: "Nach Walhall taugt er mir nicht." Aber wer taugt schon dahin? Und wer befindet darüber?

Krenek fällt mit seiner schroffen, unerbittlichen Direktheit der Umwelt musikalisch heftig auf die Nerven. Sie wirft ihm wahrscheinlich vor, seine Klage nicht ausgeputzt, entpersönlicht zu haben. Aber wie macht man aus Galle Honig – und Kunsthonig noch dazu? Warum soll das Sperrige biegsam werden, der Stolz sich beugen und für wen? Ernst Krenek macht aus Fragezeichen Musik und haut Ausrufungszeichen hinter seine Anmerkungen in die Tasten. Seine "Spätlese" ist vitriolhaltig, ganz und gar uneingängig, betont unliebenswürdig – und gerade dadurch ein bitteres Labsal. Aber Fischer-Dieskau weiß es auch auszuschenken wie wohl kein anderer Sänger der Welt.

Er begütigt nichts und begradigt nichts. Im Gegenteil. Nichts wird beiseite gesungen. Fischer-Dieskau trägt Kreneks Angriff, wie er geschrieben steht, vor. Er macht die Attacke begreiflich. Er stellt sich an die Seite des Angreifers. Er sekundiert Krenek in seinen Paraden. Fischer-Dieskau formt aus den Liedern der "Spätlese" Blitzlichtaufnahmen eines Charakters, der ebenso störrisch wie liebenswert ist. Fischer-Dieskau erzwingt dem persönlichkeitstrunkenen Zyklus durch sein eigenes starkes Engagement ein höheres Einverständnis. Er gibt Kreneks Aufschrei durch seine Interpretation zeitlosen Charakter. Er reiht ihn ein in die künstlerische Darstellung des Alterns, dieses stachelvolle Spezialgebiet, dem Gottfried Benn einst seinen Essay vom "Altern als Problem für Künstler" widmete. Kein Wunder, daß auch Kreneks Liedzyklus problematisch ist.

Im ersten Teil seines Liederabends hatte Fischer-Dieskau Stücke der Neuen Wiener Schule gesungen und ihn dadurch Festwochenhoffähig gemacht. Er trug Lieder von Schönberg und Webern vor, zumeist frühe Arbeiten, noch spätromantischen Quellen entsprungen, doch schon leicht irritiert, wohin der Flußlauf am Ende wohl führt.

In diesen Liedgruppen begleitete Aribert Reimann den Sänger, dieser glänzende Pianist, dessen Scharfblick und Stilkundigkeit immer auch den bedeutenden Komponisten verraten. Allerdings konnten weder er noch Fischer-Dieskau darüber hinweg interpretieren, daß diese Lieder der Neuen Wiener Schule, gemessen am sonstigen kammermusikalischen Schaffen der Gruppe, eher unsignifikant sind. Der Beifall klang denn auch eher hochachtungsvoll als stürmisch. Ernst Krenek allerdings brachte er erfreulicherweise außer Respekt auch Wärme entgegen.

Klaus Geitel

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     Der Tagesspiegel, Berlin,  26. September 1974     

Erfolg mit apartem Programm

Liederabende Gundula Janowitz und Dietrich Fischer-Dieskau

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Begeisterung für Schönberg und Webern im vollbesetzten Großen Sendesaal des SFB: Dietrich Fischer-Dieskau trat im Auftrag der Festwochen mit Liedern der beiden Komponisten auf, es begleitete Aribert Reimann, der sensible Pianist mit dem Komponistenverstand. Dabei war ihre Wahl auch im Jahr seines 100. Geburtstages im wesentlichen auf jene frühen Dehmel-, Klemperer- und Conradi- sowie späteren Haringer-Vertonungen Schönbergs gefallen, die sie schon vor vier Jahren an gleicher Stelle dargeboten hatten. Man darf dies für eine Expertenentscheidung halten.

Fischer-Dieskaus Interpretation der romantisch-grüblerischen "Erwartung" (1899) nach Dehmel machte erfahrbar, wie der Lautwert der Verse den Komponisten ungeachtet der Textqualität inspiriert haben muß, wenn er "eine bleiche Frauenhand", "neben der toten Eiche" winkend, in Musik setzte. Noch 1933 reizte es ihn offenbar, daß Jakob Haringer "gemüßt" auf "küßt" reimt. Das Atmosphärische der Komposition gewann Schönberg ohnehin aus dem Ganzheitseindruck des Gedichts. Bewundernswert auch Fischer-Dieskaus Artikulation der lockerer gefügten, gleichwohl lyrisch-intensiven Gebilde unter Weberns ohne Opuszahl hinterlassenen Vier George-Liedern.

Nach der Pause nahm ein anderer Komponist den Sitz am Klavier ein und griff mächtig in die Tasten (und in die Saiten): Ernst Krenek. Er begleitete den Sänger bei der Aufführung seiner "Spätlese" (1973, auf eigene Texte) für Bariton und Klavier, eines Zyklus, der sich in sechs Teilen über eine halbe Stunde erstreckt. Die expressionistische Sprache des Librettos zu "Karl V." erscheint hier versetzt mit kühlem Klartext, die Musik illustriert, ornamentiert, zeigt in Akkordschichtungen wie quirligem Laufwerk den intuitiven Musiker, der sich gern ein bißchen sarkastisch verplaudert und vielleicht nicht nur "Weisheit aus dem Wein gelesen" hat. In Fischer-Dieskau hatte er einen Interpreten, der jedes Wort geradezu lautmalerisch abschmeckte.

Sybill Mahlke

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     Der Abend, Berlin-West,  24. September 1974     

Frühe Spätlesen

   

Dietrich Fischer-Dieskau fühlt und erfüllt seine Verpflichtung gegenüber dem zeitgenössischen Liedschaffen. Der Festwochen-Abend im SFB-Sendesaal, den sein Name füllte, setzte zum wiederholten Mal einen Maßstab.

Später, wenn nur noch die musikalischen Werte zählen und alle Theorien verblaßt sind, wird man vielleicht Arnold Schönbergs Lieder und Kammermusik als seiner Erbschaft wichtigeren Teil anerkennen. Die acht Lieder, die Fischer-Dieskau in der Mehrzahl schon vor vier Jahren am gleichen Ort gesungen hat, setzten sich als hochkarätige Musik auf dichterische Texte durch, von Aribert Reimann am Flügel und von dem bestens disponierten Sänger schallplattenreif nachgestaltet.

Die vier nachgelassenen Lieder Anton Weberns auf Verse von Stefan George fesselten nicht in gleichem Maße. Noch größere Anziehungskraft übte dann allerdings der neue sechsteilige Lieder-Zyklus "Spätlese" des Wiener Komponisten Ernst Krenek (74) aus.

Fischer-Dieskau sang diese schwergewichtigen Betrachtungen, vom Komponisten am Flügel kraftvoll und authentisch begleitet, mit voller Ausschöpfung ihres gedanklichen Gehaltes und ihrer musikalischen Altersreife.

W. S.

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     Spandauer Volksblatt, Berlin-West,  25. September 1974     

Plätschernde Spätlese

Zu Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend

    

Auf den dirigentischen Anfänger folgte im Wochenabstand der Meister des Gesangs. Dietrich Fischer-Dieskau stellte bei seinem diesjährigen Festwochen-Liederabend seine Kunst ganz in den Dienst der neuen Musik. Dem lyrischen Zyklus "Spätlese", den er unter Begleitung des Komponisten Ernst Krenek im Sommer in München uraufgeführt hat, verhalf er auch in Berlin zu einem freundlichen Erfolg.

Kreneks Werk allerdings, Meditationen eines Dreiundsiebzigjährigen über Alter und Jugend, ist schwach. Lyrische Prosa plätschert darin uneinheitlich und unverbindlich. Hölderlinsche Feierlichkeiten und biblische Wendungen, ja sogar Georgesche Verstiegenheiten stehen darin neben sprachlichen Alltagsformeln (zu denen auch manche der Reime zu rechnen sind). Die Texte, die Krenek sich selber bastelte, sind fürs Lyrische zu nüchtern, fürs Nüchterne aber zu gewollt lyrisch.

Die Musik geht mit ihnen erstaunlich emphatisch um. Immer wieder muß Fischer-Dieskau zu einer Art von baritonalen Koloraturen ansetzen, die vom Text her kaum gerechtfertigt sind. Oft wiederholte Intervallsprünge ermüden und lassen das knapp halbstündige Opus als weitschweifig erscheinen. Wofür die beiden Partner der Aufführung dennoch standen, das war eine gewisse Atmosphäre besinnlicher Distanz. Der Schmelz der Stimme erinnerte an den "reifen" Wein, von dem so viel die Rede war, und den "alten Schreiber" hatte man am Klavier vor Augen, wie er Tasten schlug, aufs Rahmenholz klopfte und ein paarmal aufstand, um leise über die Saiten im Innern des Flügels mit der Hand zu streifen.

Im ersten Teil des Abends brachte Fischer-Dieskau Lieder Schönbergs und Weberns zu Gehör. Neu an ihnen war eine Rilke-Vertonung Schönbergs "Am Strande" und eine erst vor kurzem entdeckte Folge von vier George-Gedichten, die Webern zur selben Zeit (1907-1909) komponiert hat wie seine George-Vertonungen op. 3 und op. 4. Dem Bilde, das wir uns von beiden Meistern machen müssen, fügen diese Ergänzungen ihres Frühwerks neue Züge nicht hinzu. Als Begleiter fungierte hier Aribert Reimann.

Hans-Jörg von Jena

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     Berliner Morgenpost,  26. September 1974     

Singt auch Neues: Fischer-Dieskau

    

Mit seinen Fähigkeiten, in denen er international anerkannter Meister ist – also als Sänger und Liedgestalter -, stellte sich der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Liederabend im Großen Sendesaal des SFB dem diesjährigen zentralen Festwochen-Thema: Arnold Schönberg.

Dabei kamen auch zwei prominente Schüler Schönbergs zu Gehör, Anton Webern und Ernst Krenek; letzterer mit seinem jüngsten Werk, dem Zyklus "Spätlese".

Krenek, der sich auch mutig selbst ans Klavier setzte, schien allerdings die Erkenntnis bestätigen zu wollen, welche behauptet, man könne nicht in allen Sätteln gleich gute Leistungen liefern.

Unschuld

Seinen selbstgeschmiedeten Versen mangelte es nicht an entwaffnender Unschuld. Seine Musik dazu unterstrich den Eindruck, weil sie die literarische Vorlage tönend pointierte, etwa in der Art, die man aus Filmen kennt.

Diese Lieder sind keine Meisterweke, so sehr auch Fischer-Dieskau fast alle Register seiner Vortragskunst zog und ihnen so noch den Anstrich von künstlerischer Bedeutsamkeit geben konnte.

Sensibilität

Daneben vermochten sich selbst zwei mißglückte Zwölf-Ton-Lieder von Schönberg (aus Opus 48) noch einigermaßen zu behaupten, zumal, da Webern schon mit seinen um 1908 entstandenen George-Liedern bewiesen hatte, daß man auch ohne Zwölf-Ton-Technik an einem Text vorbeikomponieren kann.

Allerdings stand hier Fischer-Dieskaus intelligenter Sensibilität der Pianist Aribert Reimann als brillanter Mitgestalter zur Seite.

Beide verbanden sich vor allem in frühen, um die Jahrhundertwende entstandenen Liedern von Schönberg zu einem idealen Interpreten-Gespann.

W. Bruchhäuser

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     Darmstädter Echo,  3. Oktober 1974     

Schönbergs Zeit ist gekommen

Die Berliner Festspiele ehrten den Komponisten zum 100. Geburtstag

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Eine vorbildliche Auswahl von Schönbergs Klavierliedern hatten Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann getroffen, die von der spätromantischen Expression zu der Strenge zwölftöniger Strukturen führte und die so in nuce zugleich den kompositorischen Weg Schönbergs einsichtig machten, von überströmender Expressivität zu der strengen Konsequenz melodischer Gestaltung. Die außerordentliche Modulationsfähigkeit des Sängers im tonlichen Ausdruck hatte ihr Äquivalent in Reimanns eindringendem Klavierpart, der sich in Harts "Traumleben" in eigenständiger Mitformung erwies wie in der abstrakteren Deutung von Haringers "Sommermüd".

Diesen expressiven Gesängen waren vier posthume Lieder Anton Weberns nach Versen Stefan Georges gegenübergestellt, verhaltene Stille ganz auf Linearität gerichtet in ihrer ruhevollen Esoterik, die durch die Eindringlichkeit der Interpreten bewegendes Ereignis wurden.

Ernst Kreneks "Spätlese" auf eigene Texte von 1973, zu der Fischer-Dieskau den Komponisten angeregt hatte, ist eine selbstquälerische Spiegelung Kreneks, der einst mit dem "Österreichischen Tagebuch" Wesentliches in lyrischen Klang gehüllt hatte. Hier nun ist es mehr unzufriedene Altersschau, die polychrom Aktuelles der letzten Jahrzehnte sentimentalisch einbezieht, durchsetzt mit dem beißenden Humor des Unverstandenen: "Am Ende ist heulendes Elend", von dem Krenek sich nicht befreien mag. Symbole und Bitterböses stehen unvermittelt nebeneinander wie zeitgebundene kompositorische Mittel (Klopfgeräusche und Anstreichen der Saiten mit dem Finger). Die "Süße des Späten ist bald verpraßt", der von den Jüngeren Unverstandene bemitleidet sich. Nur gegen Ende steht ein "Trost der Welt, der aus der Traube träufelt", wenn Krenek sich zu resümierender Rückschau versteht. Was oft in wildem Unmut des 74jährigen aus grellen Klavierkaskaden aufschäumt, steht manchmal unvermittelt neben bohrendem, verzweifeltem Meditieren des Gesangsparts. Die Vollkommenheit der Wiedergabe mit dem Komponisten am Flügel berührte mehr als das Wortspielerisch-Gedankliche des halbstündigen Werkes, das mit heftigen Klangballungen den Hörer attackierte.

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G. A. Trumpff

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     Petrusblatt, Berlin-West,   29. September 1974     

     

Modernes Kunstlied

Engagierter Fischer-Dieskau-Abend

    

Im Rahmen der diesjährigen Berliner Festspiele setzte Dietrich Fischer-Dieskau seine stimmlichen und musikalischen Qualitäten für die keineswegs immer dankbare ultramoderne Diktion des Kunstliedes ein.

Als Punctum saliens seiner Vortragsfolge wählte der Sänger Liedschöpfungen Arnold Schönbergs aus verschiedenen Schaffensperioden des Komponisten, vor allem nach Lyrik von Dehmel, Haringer und einer "Am Strande" betitelten Dichtung Rilkes, die in expressiv gestalteter Vertonung besonders anspricht. Wie beispielsweise in den "Gurreliedern" und dem ätherisch empfundenen Streichsextett "Verklärte Nacht", konstatiert man – besonders in dem Lied "Traumleben" – Worte von Julius Hart – die Anwendung der Vorhaltstechnik Richard Wagners in abgewandelter Form.

Der nachfolgende Stefan George-Zyklus, von dem aus dem Schönbergkreis hervorgegangenen Anton Webern in Musik gesetzt, geht weit über die Expressivität seines Lehrmeisters hinaus, sich dabei in die komplizierte Harmonik eines metaphysischen Gedankengutes verlierend, dem eigentlich nur Eingeweihte eines solch individuellen Schaffensprozesses zu folgen vermögen.

Das Finale dieses modernen Liederabends gestaltete Fischer-Dieskau in überragender Hermeneutik, indem er den von Ernst Krenek gedichteten und absolut angepaßt komponierten Zyklus "Spätlese" (op. 218) köstlich persiflierte. Krenek parallelisiert in seinen Dichtungen eigene Lebenserfahrungen mit dem Genuß von Trauben, deren Süße in der Spätlese bald verpraßt ist. Mit äußerst bizarren Klängen, polternden und skurrilen Rhythmen "kellergeistert" der Komponist, der – nach seinem eigenen dichterischen Bekenntnis – einen Wein in sich nimmt, der wie tintenartiges Öl schmeckt, über die Klaviatur, gelegentlich auch mit milder Hand über Saiten des Instrumentes streichend. Der einst so erfolgreiche Autor der Jazzoper "Jonny spielt auf" bleibt mit seiner "Spätlese" effektiv "auf der Strecke".

Am Schluß wird Fischer-Dieskau immer wieder auf die Rampe gerufen; auch Krenek, der seinen Liederzyklus mit Verve begleitete, konnte für seine "Traubensaftapologie" einigermaßen wohlwollendes Verständnis bei den Kennern des Auditoriums wahrnehmen. Aribert Reimann akkompagnierte verständnisvoll die Zyklen von Schönberg und Webern.

F. K. G.

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