Zum Liederabend am 3. April 1973 in München


     Süddeutsche Zeitung, München,  5. April 1973     

Statt Fischer-Dieskau: Pfeiftöne und Weißenborn

Begleiterscheinungen bei einem Brahms-Liederabend im Herkulessaal

     

Die Neigung zum Ohrensausen, zur Wahrnehmung objektiv nichtexistenter Pfeiftöne scheint verbreiteter zu sein, als man gemeinhin annimmt. Wer spricht schon gern davon, dass er ständig mit hohem Piepsen zusammenlebt, von akustischen Täuschungen verfolgt wird. Es muss dick kommen, bis jemand der Welt seine Schwäche gesteht, und – Smetana hat es in seinem Brief an Josef Srb-Debrnov bekannt – sogar ein Streichquartett mit langanhaltendem hohem E-Ton enden lässt, "der jenes schicksalsschwere Pfeifen in den höchsten Tönen enthält", welches, so fährt Smetana fort "im Jahre 1874 in meinen Ohren entstand und meine beginnende Taubheit anmeldete".

In den vorderen und mittleren Reihen (auch auf dem Podium) des bei Fischer-Dieskau natürlich ausverkauften Herkulessaales erlebten viele Zuhörer folgendes: Beim ersten Lied des Brahms-Abends ("Auf dem See") bemühte man sich noch, über des Begleiters Gerumpel und des Sängers verständliche Anfangsforciertheit hinwegzuhören; beim zweiten Lied, einem Adagio-Lied ("Nachtwandler"), dessen zwielichtige Schmerzstimmung Fischer-Dieskau mit jenem zart-ausdrucksvollen Deklamationston traf, der so vollendet nur ihm zur Verfügung steht (auch der Begleiter brachte die bewusst-diffusen Traumquerstände angemessen heraus), beim zweiten Lied also versuchte man gerade, in jenen Zustand aus Aufmerksamkeit und Versenkung zu geraten, der sich bei großer Kunst herstellen kann: da geschah’s. Statt eines versonnenen trat ein beunruhigter, dann suchender Ausdruck auf die Gesichter der Zuhörer. Denn etwas pfiff mit. Es kann doch nicht sein ... Liegt es an mir? Wird’s nicht sogar stärker? – dachten wir Betroffenen, während Fischer-Dieskau sich mit "Abenddämmerung", "Meerfahrt" und "Geheimnis" befasste.

Mittlerweile, beim "Wir wandelten", hatte der Pfeifton eine Schärfe erreicht, wo er nicht mehr nur störende Begleiterscheinung war, sondern Folter. In meiner Reihe wurden, noch vor der "Botschaft", Bemerkungen ausgetauscht, die mehr Rückschlüsse auf letzte Physikzensuren als auf Kenntnis des Brahmsschen Liedschaffens erlaubten. War es ein Messton bei versehentlich aufgedrehtem Saalmikrophon? Ein Rückkopplungseffekt? Ein übersteuertes, defektes Hörgerät? Sollte gar die Deutsche Grammophon?

In der Pause gehörte kein Mut mehr dazu, den gehörten "Ton" offen zuzugeben. Er war, versicherte Konzert-Vedder, nicht offiziell entstanden: kein Tonmeister, keine DGG, kein beamteter Mitschneidemörder sei am Werk. Sondern? Eine Brahms-Gemeinde ging privatdetektivisch vor. Man stellte einen jungen Mann, der – ein sogleich konfisziertes Mitschneidegerät in der Jacke verborgen – vielleicht des Tones Ursach’ war. Und einen Älteren, in dessen Oberbeinkleid ein Verstärkungsapparat, eine Art kleiner Sender arbeitete fürs Hörgerät, das aber nicht schadhaft sei.

Nach der Pause dann – sie hatte nicht gereicht, um bei den am schlimmsten Betroffenen die Pfeiftonkopfschmerzen ganz zu verjagen – schien zunächst Ruhe eingekehrt. Vielleicht würde es doch noch ein Brahms-Liederabend. Doch beim "Es träumte mir" war er wieder da, der Ton. Zurückhaltender diesmal, wie es schien, leiser, etwas tiefer wohl auch (sagten viele), fast einem Morsezeichen ähnlich. Mitten im "Verzagen" war er dann in nahezu alter Frische wieder da, blieb auch bis zum letzten Goethe-Lied: "Unüberwindlich".

"Ein Pfiff ohne Hund", hat Kreisler gedichtet und dann weitergereimt "Ein Griff ohne Grund", als wollte er auch auf die Aktivitäten des Begleiters Günther Weißenborn anspielen. Was nämlich von oben herab akustisch zuviel war, das fehlte als Segen aus der Tiefe, die unten im Klavier liegt. Günther Weißenborn, ein Dirigent, ein anpassungsfähiger Musiker, ein routinierter Kenner und ein zuverlässiger Partner, der bestimmt keine überhöhten Honorarforderungen stellt: Weißenborn hat einen Nachteil, der gegenüber so vielen Vorzügen gering wiegen mag: er kann kaum Klavier spielen. Nie "klingt" der Flügel auch nur ein bisschen unter seinen Händen, nichts wird durchsichtig, nichts hat rhythmische Spannung und Akkuratesse, nichts singt. Was bei den schwierigeren Stellen passiert, spottet jeder Beschreibung. Abgesehen von den falschen Tönen schwingt bei seinen Bemühungen immer soviel Halbes, Unsauberes, Überflüssiges, Diffuses, vom Pedal in kleine Ewigkeiten Festgehaltenes mit, dass Weißenborn womöglich wegen Umweltverschmutzung in Schwierigkeiten geraten könnte.

Für den ominösen Pfeifton kann, hoffentlich, niemand etwas. Auch Weißenborn kann eigentlich nichts dafür, dass er so spielt, wie er spielt. Aber ein Dietrich Fischer-Dieskau trägt die Verantwortung nicht nur für sich, sondern für die Gesamtdarbietung. Gerald Moore mag nicht mehr begleiten, schade. Andere gelegentliche Fischer-Dieskau-Partner, Svjatoslav Richter und Daniel Barenboim sind als "Begleiter" schwer zu haben gewiss. Doch muss es bei der vielzitierten Fülle guter, aber arbeitsloser Pianisten, aus der ein Fischer-Dieskau wählen könnte, statt eines Pianisten gleich Weißenborn sein?

In diesem Konzert kam soviel Mörderisches dazwischen, dass man kaum beurteilen kann, ob die Stimme des Künstlers nicht in der Tiefe etwas schwerer ansprach als sonst, ob sie nicht in der Höhe etwas mühsamer kam, ob Fischer-Dieskau nicht beim, allerdings haarsträubend begleiteten "Regenlied" viel zu ausladend kräftig sang, ja ob nicht ein Abend aus allzu viel mittleren und zu wenig großen Brahms-Liedern überhaupt etwas eng und seminarhaft wirken müsse.

Ich habe Fischer-Dieskau immer gegen die bloßen "Stimm-Fetischisten" verteidigt, seine produktive Musikneugier bewundert, bei einigen seiner Schubert- und Schumann-Abende von "Vollendung" geschwärmt. Dieser Sänger hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Liedkunst in eine ungeahnte Höhe gehoben, ihr ein neues Publikum geschaffen. Es gibt auf der Welt keinen besseren Liedersänger als ihn – und wohl nur ganz wenige, die mit reinen Liedprogrammen Säle so selbstverständlich zu füllen vermögen wie er. Ob ihm das nicht auch, was die Zusammenstellung des Programms und die Wahl des Begleiters betrifft, äußerste Verantwortung auferlegt? Von seinen Entscheidungen, seinen Abenden hängt mehr ab, als er vielleicht selber weiß. Denn nur die "Fans" gehen mit ihm, unerschrocken applaudierend, durch dick und dünn, durch Pfeifton und Weißenborn.

Joachim Kaiser

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     Münchner Merkur, 5. April 1973     

Rhetorisch überspitzter Brahms

Dietrich Fischer-Dieskaus Münchner Liederabend

    

Es ist fraglos richtig, wenn Dietrich Fischer-Dieskau über den Liederkomponisten Brahms anmerkt: "Die stellenweise robuste Klanglichkeit seiner Klavierbegleitungen stellt den Sänger vor die Aufgabe, seine Tongebung instrumental zu gestalten, was einem Zurückdrängen des rein Deklamatorischen gleichkommt ..." Eine theoretische Erkenntnis, die der Künstler an seinem Brahms-Abend im Herkulessaal allerdings nur bei wenigen Liedern in die Praxis umsetzte.

Es wäre unfair, allein Günther Weißenborn dafür verantwortlich zu machen, der schon im einleitenden "Auf dem See" recht derb in die Klaviertasten griff und sich weiter in Terzengängen und rieselnden Begleitpassagen mehr auf das Pedal als auf ein sauberes Fingerlegato verließ.

Fischer-Dieskaus auf der Opernbühne so mitreißend pointierende Gestaltungskraft hat ihre Tücken, wenn sie auf den Liedgesang überspringt. Lieder sind empfindlich, zerbrechen leicht unter der Last eines sich zu deklamatorischer Geste steigernden Ausdruckswillens.

Viele der Brahms-Lieder, die Fischer-Dieskau mit allem Einsatz seines prachtvollen Baritons sang, verloren ihre Form im abrupten Wechsel von Forte und Piano, in den Einschüben häufiger Rubati und Ritardandi, die, auf Kosten ungebrochener Melodiebögen, nur der Wortverdeutlichung dienten.

Dieser den Sinngehalt rhetorisch überspitzende Interpretationsstil brachte Brahms zuweilen bedenklich in Jugendstilnähe. "Wir wandelten", "Regenlied" oder "Wie bist du, meine Königin" nahmen bereits Richard Strauss voraus. Nicht weniger überraschend schien Brahms in anderen Liedern wie etwa "Geheimnis" oder "Herbstgefühl" auf biedermeierliche Elemente eines Robert Franz zurückdatiert worden zu sein.

Um so bewundernswerter der Vortrag jener Gesänge, die in ihrer einheitlichen Stimmung weder sentimentale noch emphatische Drücker erlauben: "Abenddämmerung" oder "Nachtwandler" etwa, an denen Fischer-Dieskau alle Zauberkünste seiner bestrickenden mezza voce-Kantabilität entfaltete. Und wenn es um würzige Ironie geht wie in Heines "Meerfahrt", kann man sich keinen intelligenteren Sänger denken als Fischer-Dieskau, der von seiner Gemeinde selbstverständlich enthusiastisch gefeiert wurde.

Helmut Lohmüller

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     tz, München,  5. April 1973     

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Herkulessaal

Am Flügel: Günther Weißenborn

     

Ein ganzer Abend lang Brahms. Das Programm war nach dem Prinzip des musikalischen Wechselbades gewählt. Die Fischer-Dieskau-Fans konnten wunschlos glücklich sein. In nobler Künstlichkeit der Gestaltung ist ihr "Sonnyboy" des deutschen Kunstliedes so gut wie unschlagbar. Wo andere leise das Schmalz rieseln lassen, lässt Fischer-Dieskau Stil und Geschmack walten. Sogar bei einem eruptiven Forte bewahrt der Star-Bariton den "guten Ton". Das stimmliche Kalkül versteht es, die Gefühle gewissermaßen zu kandieren. Manches wirkt dadurch eine Spur zu lecker. Es gab von jedem etwas: eine erinnerungsselige "Abenddämmerung", eine trostlose Mondschein-"Meerfahrt", ein todernstes "Herbstgefühl", ein verliebtes "Wir wandelten" und zum Schluss das belustigende Trinkerlied "Unüberwindlich". Fischer-Dieskau nahm strahlend Abschied! (Leider wurde der Kunstgenuss durch einen den ganzen Abend lang anhaltenden hohen Pegelton aus irgendeinem Mikro erheblich getrübt. Romantik und die Tücke der Technik – das will nicht recht zueinander passen.)

Stephan Kayser

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