Zum Liederabend am 12. März 1973 in Bremen


     Weser-Kurier, Bremen,  14. März 1973     

Wanderung durch Gefühlswelten

Dietrich Fischer-Dieskau sang in einem Meisterkonzert Brahms-Lieder

     

Obwohl hart bedrängt, behauptet sich Dietrich Fischer-Dieskau noch immer auf dem internationalen Liedsängerthron. Den Beweis seiner Souveränität erbrachte er erneut in einem Meisterkonzert, das Verehrer der sublimen Kunst wie auch des berühmten Sängers scharenweise in den großen Glockensaal lockte, der selbstverständlich wieder bis zum letzten Podiumsplatz ausverkauft war. Zunächst freilich waren einige Intonationstrübungen und hin und wieder die Mühe mit den sehr vorsichtig genommenen Spitzentönen nicht ganz zu überhören, kleine Misslichkeiten, die man von früheren Abenden her kaum kannte. Dass es sich aber nicht um erste Mangelerscheinungen einer phänomenalen Stimme handelt, zeigte sich sehr rasch, als die schweren Übergänge in der Höhe vom Forte ins Piano und überhaupt die dynamischen Wechsel traumhaft sicher glückten, und Fischer-Dieskaus Bariton immer lockerer, duftiger und sensibler klang. Sonst hätte die erste Zugabe ("Sonntag") nicht mit solch heller, zärtlicher, federleichter Freude gelingen können.

Man hat Fischer-Dieskau mehrfach den Vorwurf der Überpointierung gemacht und dazugefügt, er deklamiere mehr als er singe. Davon konnte während dieses Brahms-Abends keineswegs die Rede sein. Gewiss beherrscht er wie selten einer die Kunst, Spannungsbögen aus dem Geist der Musik und des Textes herzustellen. Die Deklamation wirkt dabei jedoch niemals belehrend oder gar als Selbstzweck. Und ein Blick in die Noten beweist, wie genau er zunächst einmal die Vorschriften des Komponisten befolgt. Wenn zum Beispiel im "Nachtwandler" ein "schmerzliches Verlangen" in den Traum einfließt und der Künstler die melodische Linie, allmählich leiser werdend, auch langsamer nimmt, um auszudrücken, wie ein unerwünschtes schmerzliches Gefühl sich in den "feinen Schlummer" schleicht, dann steht in der Partitur tatsächlich "poco ritardando e diminuendo". Oder wenn es in der "Meerfahrt" heißt, "wir aber schwammen vorüber, trostlos auf weitem Meer", Fischer-Dieskau über den Wellenfiguren des Klaviers die Töne breit schwingend im bruchlosen Legato aneinanderreiht, um die trostlose Weite des Meeres und die Leere eines unglücklichen Menschen auszumalen, dann stützt er sich auf Brahms’ Hinweis: "allmählich wieder langsamer".

Andererseits hat Dietrich Fischer-Dieskau Intelligenz und Musikalität genug, um auch dort als gereifter, tief die Substanz auslotender Gestalter zu überzeugen, wo er als Interpret sich selbst überlassen bleibt und, sicher zum Vorteil des Liedes, sozusagen "eigenmächtig" vorgeht. Wie er dann schon mit einer einzigen Phrase den Charakter eines Liedes formulieren kann, ist wohl einmalig. Selbst "Ausgesungenes" wie das "Ständchen" oder – aus einem anderen Gefühlsbereich – das mit "wonnevoller" Überzeugungskraft gebotene "Wie bist du, meine Königin" erhält eine neue tiefere Bedeutung. Um diese Bedeutung jedermann nicht nur bewusst, sondern auch nachempfindbar zu machen, nutzt Fischer-Dieskau seine rezitatorische Genauigkeit, seine eindringliche Deklamation, sein lyrisches Espressivo, seine dramatischen Aufschwünge, die trotzdem die Linie nicht zerbrechen, und vor allem die Vielzahl seiner Register vollendet aus. So kommen im Lied "Es träumte mir" schon rasch Bitterkeit und männlicher Grimm zum Ausdruck bei der doppelbödigen Traumerfahrung, nicht geliebt zu werden, eine Gewissheit, die sich zur Schmerzlichkeit steigert und in eine Wehmut mündet, die noch ein Schimmer von Hoffnung durchzittert.

Wovor fast jeder andere prominente Sänger zurückschrecken würde, nämlich einen ganzen Abend nur mit Gesängen von Johannes Brahms zu bestreiten, scheint für Dietrich Fischer-Dieskau willkommene Gelegenheit zu sein, alle Schattierungen des Tons und der Färbung auszukosten und vielfach nuancierte romantische Stimmungen aufzusuchen. In einem wie stets sehr geschmackvoll und kontrastreich zusammengestellten Programm quer durch die Opusreihen durchwanderte er Landschaften und Jahreszeiten (großartig das "Herbstgefühl"), kündete er von glücklicher, hoffnungsfroher und beruhigter Liebe, aber auch von fahl zerrinnender Utopie, durchmaß er die Gefühlswelten zwischen verzweifelter Reue ("Wie rafft ich mich auf") und übermütig aufjubelndem Humor ("Unüberwindlich"). An der Fähigkeit zur Identifikation ist dabei ebenso wenig zu zweifeln wie an der Empfindungstiefe. Und mochte man früher mitunter in der Perfektion der stimmlichen und der Gestaltungsmittel "nur" intelligente, vielleicht auch etwas unnahbare Kunstfertigkeit heraushören, so hat der Vortrag jetzt wieder Seele bekommen, die sogar die Qualitätsunterschiede im Brahmsschen Liedschaffen fast aufzuheben vermag.

Schon längst hätte die Rede auch auf Günther Weißenborn kommen müssen. Er ist ja nicht nur ein rücksichtsvoller Begleiter, sondern ein souveräner Mitgestalter und mitunter auch ein sorgfältiger Führer am Flügel. Deshalb versteift er sich nicht allein auf diskrete Unterordnung, auf rhythmisches und dynamisches Stützen, auf reich abgetönten atmosphärischen Hintergrund; vielmehr deckt er Stimmungswerte auf, die dem Sänger die Übergänge erleichtern, und akzentuiert die Momente, wo er ihm mit pianistisch-musikalischer Substanz Widerpart bieten kann.

Vordergründiges Rattenfängertum blieb an diesem Abend ausgesperrt. Trotzdem fesselte Dietrich Fischer-Dieskau unentwegt das Publikum, das ihn herzlich und zugabehungrig feierte. Der Hunger wurde ausgiebig befriedigt.

Simon Neubauer

__________________________________

     

    Bremer Nachrichten,  14. März 1973     

Dietrich Fischer-Dieskau im neunten Meisterkonzert

Huldigung an einen letzten Genius

   

Die Liederabende Dietrich Fischer-Dieskaus mit dem Pianisten Günther Weißenborn als Begleiter am Flügel haben ihr Fluidum und ihre Resonanz. Als neuntes Meisterkonzert Praeger und Meier brachten beide im großen Glockensaal, der natürlich bis zum Podium ausverkauft war, einen Brahms-Liederabend, der eine schöne Huldigung an den wohl letzten Genius des deutschen Liedes Schubert-Schumannscher Herkunft bedeutete.

Wie keine andere Sprache über ein Wort verfügt, das in gleicher Weise umfassend beinhaltet, was der Deutsche in dem Ausdruck "Lied" versteht, ist der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau zur Zeit vielleicht die einzige sängerische Prominenz, die ganz unmittelbar und ohne besonderes "Sicheinstellen" zu leisten und darzustellen vermag, was ein Brahms-Lieder-Programm an gesanglichen Aufgaben und an künstlerischen Ansprüchen bietet und fordert.

Da aber war es erstaunlich und faszinierend, an der Darbietung von (einschließlich vier Zugaben) mehr als zwanzig Brahms-Liedern zu erleben, wie der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem Begleiter Günther Weißenborn in dem Rahmen des großstädtischen Konzertsaalereignisses das Erlebnis einer intimen und heimeligen musikalischen Familiarität zu beschwören wußte, die zum Wesen der Brahmsschen Liedlyrik gehört.

Die Liedfolge des Programms war klug gewählt und feinsinnig geordnet. Dramatisch-Impetuoses ("Wehe, so willst du mich wieder") wechselte mit Melancholischem ("Wir wandelten"), Romantisch-Nachsinnliches ("Wie rafft’ ich mich auf") mit großem Ausdruck resignierenden Nacherlebens ("Mein Liebchen, wir saßen beisammen"). Aber die vier Liedergruppen standen auch wie zu einem kleinen Kollektiv geordnet zueinander, so daß man jede als eine sorgsam eingestimmte Einheit erlebte.

Dietrich Fischer-Dieskau und sein Begleiter Günther Weißenborn zählen seit ihrem ersten Bremer Besuch vor mehr als zwanzig Jahren im damals beschämend leeren großen Glockensaal zu den ständig willkommenen Gästen auf dem Bremer Konzertpodium. Man kennt, was ihre musikalische Persönlichkeit und ihre künstlerische Individualität ausmacht, und man nimmt beides immer wieder wie ein erwartetes Erlebnis wahr.

Aber zugleich auch registrierte man mit wachem Empfinden, wie sich in dem unverbrauchten Künstlertum Dietrich Fischer-Dieskaus stimmlich und gesanglich sehr viel Frische erhalten hat, die unvermindert ihre vokale Leuchtkraft ausstrahlt, und das in der Weite und Tiefe des Ausdrucks, die den Sänger schon immer adelte. Günther Weißenborn als Begleiter am Flügel hält immer wieder in erfüllter Gemeinschaft darin mit.

Fritz Piersig

zurück zur Übersicht 1973
zurück zur Übersicht Kalendarium