Zum Konzert am 18. November 1971 in München


Süddeutsche Zeitung, 20. November 1971

Jubel für Pelléas et Mélisande

Rafael Kubelik führt Debussys Oper im vierten Symphoniekonzert des Bayerischen Rundfunks auf

[...]

Ein ideales Sängerensemble

Das Sängerensemble, das Kubelik für die Aufführung im originalen Französisch um sich versammelt hatte, war einzigartig. Weil es in dem symbolistischen Drama Maeterlincks, dem verhangenen Gedicht von "Schicksal, Traum und Tod", keinerlei Psychologie gibt, die irgend etwas von der Tragödie im Schloß des Königs von Allemonde "erklären" könnte, bedarf es stärkster künstlerischer Persönlichkeiten, die jede ihrer Gestalten aus nichts als ihrem "Sosein" zur Existenz zu bringen vermögen - nicht sie "menschlich" verständlich, aber künstlerisch völlig präsent zu machen. Das war hier vollkommen gelungen, bis zur Idealität, schon vom Stimmcharakter her. Wenn Boulez von "Pelléas" als von einem Musikdrama der Angst und der Grausamkeit gesprochen hat - wer könnte die Angst in der diaphanen Seele der Mélisande, wer ihre Ekstase in der letzten Begegnung mit Pelléas so ungreifbar und doch so allgegenwärtig spürbar machen wie Helen Donath, wer die selbstzerstörerische Grausamkeit, die glühende Eifersucht, die herrische Unbeherrschtheit des Golaud mit der gleichen Kraft des elementaren Impulses artikulieren wie Dietrich Fischer-Dieskau? Und wer aus der verhaltenen Verzauberung einer aufkeimenden Liebe so in Leidenschaft und Ekstatik ausbrechen wie der Pelléas Nicolai Geddas, der es ja bei der komprimierten, aufs äußerste verknappten musikalischen Diktion Debussys damit viel schwerer hat als ein sich in Arien oder unendlicher Melodie ergießender Opernheld Verdis oder Wagners?

Den Protagonisten standen an stimmlicher Qualität und künstlerischem Rang nicht nach der grandiose Baß Peter Meven als der alte König Arkel, die binnen kürzester Zeit in die erste Reihe ihres Fachs vorgerückte Altistin Marga Schiml als des Pelléas’ und Golauds Mutter Geneviève und Raimund Grumbach (den man bei der Blumenüberreichung am Schluß unverdient vergessen hatte) als Arzt. Inmitten dieser Elite ersang sich in einer der schwierigsten Szenen des ganzen Stückes der kleine Walter Gampert, ein elfjähriger Tölzer Sängerknabe, als Golauds Söhnchen Yniold ersten Künstlerruhm - mit Recht, denn er bewältigte seinen Part musikalisch wie ausdrucksmäßig exemplarisch. (Rafael Kubelik hat, wie man hört, dem begabten Buben einen fünstelligen Geldbetrag zur weiteren Ausbildung zukommen lassen - ein Akt wohlbedachten, noblen Mäzenatentums.) Die kleine Chorstelle der Seeleute kam in der Einstudierung von Josef Schmidhuber untadelig aus der Ferne.

Es war einer der größten Abende in der Geschichte der Symphoniekonzerte des Bayerischen Rundfunks, ein denkwürdiges Konzertereignis auf dem Boden einer einzigartigen Oper, für die sich in München nun hoffentlich in absehbarer Zeit auch einmal die Bühne öffnen wird.

K. H. Ruppel


    

     Münchner Merkur, 20./21. November 1971     

    

Das aufwendigste Rundfunkkonzert des Jahres

Sängerfest bei "Pelléas"

Debussys Oper mit Kubelik, Gedda, Fischer-Dieskau und Helen Donath

   

Vielgenannt, selten aufgeführt, ein sogenannter Markstein in der Musikgeschichte, dabei nur oberflächlich gekannt, ist Debussys "Pelléas et Mélisande" fast so etwas wie ein Mythos geworden.

Da das Stück im Nationaltheater seit Jahrzehnten nicht mehr zu hören war, wurde eine konzertante, exemplarisch besetzte Aufführung in französischer Sprache (Rundfunkkonzert im Herkulessaal) ein freudig begrüßter Ersatz. Bei dem szenisch problematischen Werk hatte sie überdies den Vorzug, daß nun jeder Hörer im Herkulessaal selber nach Herzenslust Regie führen, Bühnenbilder, Kostüme entwerfen konnte - jeder sein eigener Zeffirelli, sein eigener Chagall.

Debussy und sein Dichter Maeterlinck sind in "Pelléas et Mélisande" eins, zu völliger Kongruenz verschmolzen. Um so verblüffender die Inkongruenz ihrer Nachwirkung. Macht in Debussys Musik das Zeitlose das Zeitbedingte vergessen, so hat in Maeterlincks Dichtungen das Zeitbedingte das Zeitlose regelrecht erschlagen.

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Eine Elite von Sängern. Fast müßte die Oper "Golaud" heißen, zumindest wenn Fischer-Dieskau diese Rolle singt. Er geht die Gestalt mit einer explosiven dramatischen Verve an, trifft den Ton einer schauern machenden heuchlerischen Süße, wenn er das Kind aushorchen will, läßt Wahnsinn aufzucken in der Qual der Eifersucht und des bohrenden Zweifels, ob Mélisande ihm treu blieb. Dabei hält er die Figur völlig frei vom einengenden Finsterlingcharakter. Dieser Golaud ist unbeherrscht, aber menschlich verstehbar.

Auch die herrlich singende Helen Donath fühlt sich mit viel Emotion in die Mélisande ein, hie und da auch einmal, als sei sie ebenfalls so eine Mimi oder Butterfly. Aber ganz zart und mélisandenhaft kommen die schwebende Linie ihres "Mes longs cheveux" und das volksliedhafte "Saint Daniel et Saint Michel"; und ganz verhalten und schlicht gelingt ihr die Sterbeszene.

Keine verblasene Jugendstilfigur, sondern ein drängender Liebhaber: Nicolai Gedda als Pelléas. Marga Schimls warm quellender Alt ist wie geschaffen für die Geneviève. Eine erste Baßstimme, satt, dunkel und ausdrucksvoll: Peter Meven als König Arkel.

Neben so viel Sängerprominenz noch ein erstaunliches Kinderdebut: Walter Gampert sang musikalisch, frappierend treffsicher und rhythmisch zuverlässig den Knaben Yniold.

Kubelik und seine Sänger haben die Legende von der Edellangeweile des "Pelléas" zerstört; der außergewöhnlich starke, langanhaltende Beifall bestätigte es.

Helmut Schmidt-Garre


    

     Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 1971     

    

Oper in München

"Carmen" mit Dialogen - "Pelléas et Mélisande" konzertant

     

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Wenn Pierre Boulez von diesem Drama lyrique als von einem « Musikdrama der Angst und der Grausamkeit » gesprochen hat - wer hätte die Angst in der diaphanen Seele der Mélisande, wer ihre Ekstase in der letzten Begegnung mit Pelléas so ungreifbar und doch so allgegenwärtig machen können wie Helen Donath, wer die selbstzerstörerische Grausamkeit und glühende Eifersucht des Golaud mit der gleichen Kraft des elementaren Impulses zu artikulieren vermögen wie Dietrich Fischer-Dieskau? Großartig auch, wie Nicolai Geddas Pelléas aus der verhaltenen Verzauberung einer aufkeimenden Liebe in Leidenschaft und Ekstatik ausbrach - er hat es ja bei der komprimierten, aufs Äußerste verknappten musikalischen Diktion Debussys damit viel schwerer als ein sich in Arien oder unendlicher Melodie verströmender Opernheld Verdis oder Wagners. Inmitten dieser Sängerelite, zu der noch Peter Meven als der alte König Arkel, Marga Schiml als Geneviève und Raimund Grumbach als Arzt kamen, ersang sich der kleine Walter Gampert, ein elfjähriger Tölzer Sängerknabe, als Golauds Söhnchen Yniold ersten Künstlerruhm - mit Recht, denn der begabte Junge bewältigte seinen schwierigen Part in französischer Sprache stimmlich wie ausdrucksmäßig erstaunlich.

Der Beifall, wie gesagt, schwoll zur Ovation. Münchens Musikfreunde zumindest haben in Debussys einziger Oper eines der größten musikalischen Kunstwerke dieses Jahrhunderts erkannt und gewürdigt.

K. H. Ruppel

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