Zum Liederabend am 6. Mai 1971 in Köln


     Kölner Stadt-Anzeiger, 8. Mai 1971     

Klangfarben beschwören Welten

Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder im Gürzenich

     

Mit Rellstabs "Abschied" dankte er in den fünf Zugaben der "fröhlichen, lustigen Stadt", mit Schillers "Schöne Welt, wo bist du?" fixierte er den Standort: Die schöne Welt war im Kölner Gürzenich und hieß Franz Schubert und Dietrich Fischer-Dieskau. Im achten Meisterkonzert der Westdeutschen Konzertdirektion begab sich das Lied und die Inkarnation des Liedes.

Das Phänomen Fischer-Dieskau in allen Kriterien detailliert zu analysieren, wird langweilig und verdrießlich: Vom streng Fachlichen bis zum Metaphorisch-Euphorischen gibt es kein Attribut, das nicht auch auf den Sänger zuträfe. Fischer-Dieskaus Geheimnis liegt in der Fähigkeit, gleichsam mehrstimmig singen zu können. Die Modulationskraft seiner Stimme ist so groß, daß selbst bei Liegetönen Harmoniefortschreitungen mitklingen, daß Klangfarben ganze Welten beschwören.

Und das sind trotz Abweichungen in heitere, dramatische und auch rein klangselige Extreme Schuberts Welten: Der diffuse Schimmer des Moll-Dur-Wechsels, der Resignation, Hoffnung, Trotz, Erlösung zugleich verschmelzt und kristallisiert. Dies alles hört man von Fischer-Dieskaus Bariton deutlicher und bewegender als von der Klavierstimme, deren akkordisch-dynamische Möglichkeiten ja ungleich größer sind.

In Köln sang Fischer-Dieskau fast ein Programm der Raritäten, das nach dem "Wanderer", der "Gruppe aus dem Tartarus" und dem "Prometheus" erst im letzten Teil und den Zugaben populär wurde: "Fischerweise", "Im Frühling", "Der Wanderer an den Mond", "An Sylvia", "Nachtviolen", "Was klinget da so herrlich?"

Günther Weißenborn am Flügel war ein guter Partner. Technisch nicht immer sattelfest, musikalisch aber ganz im Sinne Schuberts.

G. B.


   

     Kölnische Rundschau, 9. Mai 1971     

     

Legendären Ruf bestätigt

Fischer-Dieskau sang Schubert im Gürzenich

    

Die Liedfreunde hatten ihren großen Tag: Dietrich Fischer-Dieskau sang im Gürzenich Schubert-Lieder. Seine Fans (die hat er, wie Udo Jürgens sie hat) halten ihn für den geborenen Schubert-Sänger, und auch die Musikkritik ist sich darin einig, daß Fischer-Dieskau der Besten einer ist. Sein Kölner Auftritt - wie könnte es anders sein - war abermalige Bestätigung eines fast schon legendären Rufes, wiewohl auch bei diesem Star nicht immer alles Gold ist, was da glänzt.

Um der Routine zu entgehen, pflegt Fischer-Dieskau die Kunst der Verfeinerung und Vertiefung des musikalischen Ausdrucks. Er versucht, den Liedern immer wieder neue Dimensionen abzugewinnen, Akzente anders zu setzen oder den Stimmungscharakter raffiniert umzudeuten. Das nimmt zwangsläufig Züge einer Manier an und beeinträchtigt nicht selten den Liedcharakter: den gerade dem Schubert-Lied eigenen melodischen Fluß.

Mag sich diese Gestaltungsweise auch von der "landläufigen" (etwa der von Schlusnus oder Prey) abheben: Man muß sie gelten lassen, weil Fischer-Dieskau sie nicht nur konsequent durchhält, sondern auch zu einer Meisterschaft entwickelt hat, die ihresgleichen suchen muß. Denn er bringt die stimmtechnischen und intellektuellen Voraussetzungen für dieses Schubertbild und solchen Vortragsstil mit, wenn auch das eine oder andere Lied von des Gedankens Blässe angekränkelt auch stimmlich etwas blaß geriet.

Seine Stärke sind, das erwies der Kölner Abend aufs neue, die betont lyrischen Gesänge (Litanei, Wanderer an den Mond), wo er sich in fast tenoralem Belcanto verströmen konnte. Zu welchem Grad von Geschmeidigkeit und Innigkeit im Ausdruck seine Stimme fähig ist, das bereitet höchstes Entzücken, selbst dann, wenn sein Gesang gleichsam in der Ferne verhaucht oder sentimentale Schluchzer einfließen (Nacht und Träume).

Dietrich Fischer-Dieskau ist aber auch des großen pathetischen Affektes fähig, ohne ins Opernhafte abzugleiten. Selbst wenn er auftrumpft und sein Bariton mit erzenem Hall schwingt, vergißt er nicht um die Eigenart der Lieddeklamation, die anderen Gesetzen folgt als die Darstellung eines Opernhelden (was Fischer-Dieskau ja ebensogut kann wie das Lied).

Günther Weißenborns Eigenschaften als Klavierbegleiter zu rühmen: Man würde nur längst Bekanntes wiederholen. Er ist ganz und gar eingefuchst auf Fischer-Dieskau - und braucht gar nicht so bescheiden zu sein, wenn’s ums Einkassieren des Beifalls geht. Selbst bei den unvermeidlichen Zugaben muß er ja mitspielen...

Curt J. Diederichs

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