Zum Liederabend am 4. Mai 1971 in Frankfurt


     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 1971     

Weg vom Biedermeier

Dietrich Fischer-Dieskaus Frankfurter Schubert-Abend

[...]

Dietrich Fischer-Dieskau - zur Zeit damit beschäftigt, Schuberts gesamtes Liedwerk auf Schallplatten aufzunehmen - ist ein Interpret, der weiß, daß man diesem Komponisten mit purem Wohllaut allein kaum beizukommen vermag. Es spricht für den Rang dieses Sängers, daß es ihm bei seinem Frankfurter Liederabend gelang, mit einem Programm weitgehend unbekannter Schubert-Lieder zu fesseln. Geläufigeres sparte er für die Zugaben (Musensohn, Nachtviolen, An Sylvia, Zufriedenheit, Im Abendrot, Abschied) aus.

Mit der Konzentration auf Entlegenes, auch Abgründiges in Schuberts Liedern (An die Freunde, Totengräbers Heimweh) verbindet er die Tendenz zur behutsamen Synthese extremer Ansätze. Auf verströmenden baritonalen Glanz setzt er weder mit der einstigen lyrischen Belcantisten-Selbstsicherheit (in wenigen Momenten lassen sich auch an Fischer-Dieskaus Stimme Symptome dafür entdecken, daß er nicht mehr so jung ist, wie er immer noch aussieht), noch verfällt er je in die leicht manieristische Überdeklamation früherer Jahre. Gesangskunst und ausgepichtes Raffinement der, Textgestaltung werden immer mehr auf einen Nenner gebracht. Schuberts abgedunkelte lyrische Paradiese gewinnen bei Fischer-Dieskau den changierenden Reiz eines Zwischenreichs zwischen Naturnähe und Abstraktion: man staunt, über Fischer-Dieskau hinaus, über Schubert. Einzelne Kopfstimmtöne werden als klangfarbliche Facetten gleichsam integraler Bestandteil der Komposition.

Freilich bestätigte auch dieser für das Publikum nicht leichte und dennoch enthusiastisch aufgenommene Abend in der ausverkauften Frankfurter Oper, wie wichtig auch für einen so bedeutenden Sänger ein adäquater Partner am Flügel ist. Günther Weißenborn vermittelte suggestiv Schuberts klangliches Wechselspiel von dunkler Grundierung und schlicht opalisierender figuraler Textur.

Gerhard R. Koch


    

     Frankfurter Rundschau, 6. Mai 1971     

    

Der Liedleser

Fischer-Dieskau im Frankfurter Meisterkonzert

    

Unbekannte Schubertlieder: Inschriften auf alten, überwachsenen Gräbern.

Dietrich Fischer-Dieskau entziffert sie. Liest Wort für Wort das fremder Bedeutsame, Zeile für Zeile melodisch leichter Lesbares.

Entdeckung wird Ausdruck. Das Alte hat gelebt, lebt für einen Moment wieder. Ausdruck: naiv, drohend, erzählend, schwebend usw.

Entzifferungen. Archäologie, Kulturwurzelgräberei, Neugewinnung für Vitrinen. Der Archäologe ist vergangenheitsverliebt. Archäologie: feine, konservierende, konservative Wissenschaft.

Fischer-Dieskau ist der Karel Gott der feinen gebildeten Leute.

H. K. J.


    

     Frankfurter Neue Presse, 6. Mai 1971     

     

Lieder in der Oper

Neuer Fischer-Dieskau

    

Ein Liederabend abseits vom breiten Boulevard künstlerischer Selbstdarstellung; am Flügel Gerald Moores wohl würdigster Vertreter als Liedbegleiter Fischer-Dieskaus, Günther Weißenborn: Schubert war der Abend gewidmet, nicht nur des Komponisten entrückter Lyrik, sondern vor allem den schwierigsten, den tiefgründigsten, aber auch den sprödesten Liedern. Dietrich Fischer-Dieskau hat viele Sänger schon in Schablonen gezwängt. Seine Bach-Auffassung, sein Papageno z.B., frappierend einst und wurden dann wie so vieles nachgeahmt. Die Erkenntnisse seiner vielfältigen Arbeit aber sublimiert Dieskau nun in zunehmendem Maße in seinen Liedinterpretationen: Reine Sangesfreude, erschütternde Tragik, gewinnende Scheu, wohlakzentuierte Dramatik und süffisante Ironie verschmelzen zu ehrlich musikalischem Ausdruck.

M. R.

zurück zur Übersicht 1971
zurück zur Übersicht Kalendarium